Clara war froh, dass ihre Eltern von dem Tango nichts mitbekommen hatten. Zunächst hörte sie nichts von René, und obwohl sie hoffte, ihn wiederzusehen, war sie doch froh, ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Der andere, feinfühlige René, den sie beim Tanzen kennengelernt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Immer wieder fragte sie sich, welcher der echte war. Zum Glück interessierte sich gerade jetzt niemand für sie. Die Nachricht, dass es ein Herbstfest geben würde und Schwabinger einen Anteil daran hatte, breitete sich schon am nächsten Tag wie ein Lauffeuer aus. Überall war es die Schlagzeile, die einem in die Ohren gellte. Die Zeitungsjungen riefen sie mit der Inbrunst eines Hymnus, und wo immer man auf die Straße trat, war einer in der Nähe, der sich in den sonderbaren Jubelchor mischte. Die Brauer waren grenzenlos erleichtert. Clara allerdings fragte sich, warum ein Monarchist wie Schwabinger in das erste demokratische Oktoberfest investierte. Nostalgie?
Als Magdalena zwei Tage später zum Tee einlud, war Clara froh, auf andere Gedanken zu kommen. Seit dem Tanztee hatten sie sich nicht gesehen. Magdalena umarmte sie, die mitgebrachten Pralinen stellte sie beinahe gleichgültig auf die Kommode im Eingang. «Ich habe aufregende Neuigkeiten. Komm herein!»
Ihr Teekleid war schon ein paarmal ausgebessert worden, aber sie hielt den Schein des Großbürgerlichen aufrecht. Offenbar wollte sie Eindruck machen, sie hatte das gute Porzellan und eine schon etwas ältere Spitzendecke auflegen lassen. Neben ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder saßen zwei Männer am Tisch. Einer war der Eintänzer – Alfred? Den anderen kannte Clara nicht. Er war etwa im selben Alter, ein gutaussehender dunkelhaariger Mann mit einem modischen Oberlippenbärtchen. Genau wie Alfred trug er die Uniform eines Unteroffiziers der Schwere-Reiter-Kavallerie: graublau, mit roten Längsstreifen an der Hose und der Knopfleiste der Jacke, roten Achselklappen sowie weißem Gürtel und Handschuhen. Beide standen auf und begrüßten Clara mit Handkuss.
«Alfred kennst du ja. Das ist sein Freund Wolfgang. Setz dich.»
Die Atmosphäre war seltsam, dachte Clara, als Wolfgang ihr ungefragt den hochlehnigen Stuhl zurechtrückte. Aber falls sie sich gefragt hatte, warum Magdalena auch einen Freund von Alfred eingeladen hatte, erhielt sie die Antwort umgehend.
«Magdalena hat schon viel von Ihnen erzählt», eröffnete Wolfgang die Konversation. «Sie sind also auch eine von uns?»
«Von uns?»
Er lächelte. «Alkoholgegner.»
«Ach so.» Aus irgendeinem Grund erleichterte Clara die Antwort.
Magdalena schenkte Tee ein, dann setzte sie sich neben Alfred und nahm seine Hand. Aufgeregt rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, so lebhaft, wie Clara sie seit dem Ende der Räterepublik nicht mehr gesehen hatte. «Alfred und ich haben große Neuigkeiten», platzte sie hervor. «Wir werden heiraten!»
«Was?» Clara setzte ihre Tasse ab. Wie lange kannten die beiden sich jetzt? Ein paar Tage? Zwar gaben sich Paare nicht selten nach dem ersten Treffen das Jawort. Aber sie hatte doch erwartet, dass Magdalena sich etwas mehr Zeit lassen würde. «Ich meine, wie schön!», korrigierte sie sich schnell und hoffte, dass ihr Befremden nicht auffiel. «Wann werdet ihr heiraten?»
«Noch diesen Herbst!» Magdalenas Wangen waren gerötet, und sie war sichtlich stolz, im Mittepunkt zu stehen.
Die Heirat war für eine Frau noch immer der leichteste Weg, das zu erreichen. Warum habe ich solche niederträchtigen Gedanken?, fragte sich Clara erschrocken. Gönne ich meiner Freundin die Aufmerksamkeit nicht?
«Ich freue mich für dich», sagte sie laut und lächelte ihr zu. «Dann werdet ihr noch vor Oktober heiraten, ehe das Semester an der Technischen Universität beginnt?»
Magdalena sah Alfred an und dann auf ihren Teller. Sie nahm sich ein Stück Kuchen und sagte: «Das haben wir noch nicht entschieden.»
Clara runzelte die Stirn. Sie wollte Magdalena nicht in Verlegenheit bringen, aber es fiel ihr schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen. Sie hatte fest damit gerechnet, dass sie gemeinsam an die Universität gehen würden. Es war sicher nicht leicht ohne einen Mann im Haus. Aber sie hoffte, dass dies nicht der einzige Grund war, warum Magdalena sich so schnell verlobt hatte. Sie wäre nicht das erste Mädchen, dessen große Pläne mit der Heirat zerplatzten wie Seifenblasen.
Nach dem Tee gingen sie flanieren. Magdalena an Alfreds Arm, die Blicke der anderen Frauen sichtlich genießend, Clara an Wolfgangs. Die Straßen waren endlich wieder belebter. Frauen führten ihren Schmuck aus und Männer elegante Anzüge. Die Bürger nahmen die Stadt wieder in Besitz. Zerschlagene Fenster waren vernagelt und eingetretene Türen repariert worden. Es würde noch dauern, bis wieder Normalität einkehrte, aber es war ein Anfang.
«Was ist mit Ihnen? Haben Sie noch nicht daran gedacht, zu heiraten?», fragte Wolfgang.
Clara blickte ein paar Kindern nach, die einen Reifen mit einem Stock die Straße entlangtrieben. Heimlich wünschte sie sich, jetzt woanders zu sein. Oder hier – nur mit jemand anderem?
«Irgendwann schon», erwiderte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Er schien noch mehr zu erwarten, aber sie wandte sich ab und tat so, als würde sie die Aussicht auf die Häuserflucht betrachten, in der indes nur einige Waschfrauen Tratsch austauschten.
«Es wird Ihnen gewiss nicht schwerfallen, einen Mann zu finden. Sie sind schön.» Sein Lächeln erschien Clara irgendwie abstoßend. Es war ein einstudiertes, übermäßig freundliches Lächeln, das ihr das Gefühl gab, er spräche sie an wie eine Göttin, sähe in ihr aber eine unmündige, leicht beeinflussbare Närrin, der man nur sagen müsse, sie sei schön, um alles von ihr zu bekommen. Eine Freundlichkeit, die das Weibliche in den Vordergrund stellte, um das Menschliche vergessen zu machen.
«Sie besitzen also eine Brauerei?», versuchte er es erneut, als sie nichts erwiderte.
Clara bejahte kurz. Sie hatte keine Lust auf Konversation. Magdalena vor ihr hing an Alfreds Arm, blickte zu ihm auf und hörte ihm zu. Irgendwie kam Clara das alles so leer vor. So eintönig.
«Der Kuchen war delikat, nicht wahr?»
Himmel! Allmählich ging er Clara auf die Nerven. «Ja, und ich wünschte, Sie hätten den Mund noch voll damit und könnten mich nicht langweilen!», fuhr sie ihn an.
Wolfgang starrte sie fassungslos an. Er war zu gut erzogen, um das Weite zu suchen, aber den Rest des Spaziergangs flanierte er stumm neben ihr wie ein beleidigter Storch.
Magdalena lud Clara auch am nächsten Tag wieder ein, und dieses Mal saß ein anderer Freund von Alfred mit am Kaffeetisch. Er hieß Hanspeter und erzählte ihr lispelnd von seinen Hasen und wie man sie schlachtete. Und schließlich griff er ihr beim Abschied im Flur an den Hintern.
Clara holte aus und schlug ihn mit voller Kraft ins Gesicht.
«Was tust du denn?», rief Magdalena erschrocken, die nur das wütende Türenknallen gehört hatte, Alfred im Salon sitzen ließ und in den Flur gerannt kam. Ihr erschreckter Gesichtsausdruck mit den blonden Locken brachte die Männer um den Verstand, aber Clara fehlte der Beschützerinstinkt.
«Dein lieber Freund hat mir an den Hintern gefasst», zischte sie. «Worauf ich ihm ins Gesicht gefasst habe.»
«Du hast was?», rief Magdalena halb entsetzt, halb belustigt. «Da will man dir zu einem Mann verhelfen, und du verjagst ihn.»
«Du könntest dich für deinen Gast entschuldigen.»
Magdalena verdrehte die Augen. «Ach, Clara, jetzt sei nicht so empfindlich. Du weißt doch, wie Männer sind.»
Clara schnappte nach Luft. «Warst du nicht bis vor kurzem der Meinung, dass wir für Gleichberechtigung kämpfen müssen?»
«Ja, aber nur Kommunisten wollen die Frauen zu Männern machen. Es geht aber darum, dass die Männer uns schätzen. Und dazu gehört eben auch, dass wir uns verantwortungsvoll verhalten und sie nicht herausfordern.» So wie sie es sagte, klang es irgendwie auswendig gelernt. Sie legte die Arme an ihr Teekleid, als wollte sie durch ihre züchtige Haltung die Worte unterstreichen.
Clara griff nach ihrem Cape, das an der Garderobe hing, und warf es über, ohne auf die Hilfe des Dienstmädchens zu warten. «Herausfordern? Inwiefern, indem wir einfach existieren? Was ist denn nur los mit dir? Ist das Alfreds Einfluss?»
Der Vorwurf schien Magdalena zu treffen. Sie wirkte verletzt, ein verletzter Engel ohne Flügel. Langsam setzte sie sich auf die bemalte Truhe neben der Garderobe. Ihr Teekleid verdeckte die rosa und roten Bauernrosen und die Ranken darauf. «Du findest, dass es zu schnell geht», sagte sie.
Clara zögerte. Das ging sie wirklich nichts an. «Es tut mir leid», räumte sie ein. «Das ist deine Sache, nicht meine. Und wenn du glücklich wirst, bin ich die Letzte, die dich hindern will.»
«Ich wollte auch nicht, dass du dich unwohl fühlst», versicherte Magdalena. «Im Gegenteil. Weißt du, es hat mich noch nie in meinem Leben jemand so gut behandelt. Er schickt mir Blumen und Süßigkeiten, er sagt mir, dass ich schön bin, und schreibt mir kleine Briefchen. Kannst du nicht versuchen, ihn ein bisschen zu mögen?»
Sie rückte ein Stück, und langsam ließ sich Clara neben ihr nieder. «Also gut. Ich verspreche es.»
Sie sahen sich an, und beide mussten lächeln.
«Ich wollte, dass du einen guten Mann findest», meinte Magdalena. «Das war eine dumme Idee.»
«Nein, du hast es doch nur gut gemeint», erwiderte Clara und nahm ihre Hand. «Ich glaube nur nicht, dass so etwas funktioniert. Und außerdem …»
«Kurowsky?» Magdalena blickte auf. «Du sagtest, da sei nichts.»
«Ich bin mir nicht mehr sicher», erwiderte Clara. Es tat gut, endlich ihrer besten Freundin von ihm erzählen zu können. «Bei ihm habe ich das Gefühl zu leben, als wäre nie Krieg gewesen. Er hat so eine Leichtigkeit, ganz gleich, was um ihn herum geschieht.»
«Das klingt schön», meinte Magdalena. «Warum bist du dir nicht sicher?»
«Weil er mich auch verrückt macht!», stieß Clara hervor. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare, sodass der Knoten sich lockerte. «Er sucht regelrecht nach Gelegenheiten, Kopf und Kragen zu riskieren. Anfangs dachte ich, es sei meinetwegen, aber das ist es nicht. Und neulich sagte er auch noch, dass er mit Ernst Toller bekannt sei.»
Magdalena fuhr zusammen. «Er ist Kommunist?» Ihre Lippen wurden bleich, und sie krampfte die Hände auf einmal so fest um den Rand der Truhe, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.
Clara schüttelte den Kopf und starrte auf die dunklen Eichendielen. «Nein. Keiner von beiden. Toller gehört zu den USPD-Männern, und René ist nicht einmal in einer Partei. Aber jetzt wird Toller gesucht, und die Schwabinger Künstler helfen sich doch gegenseitig. Ich habe Angst, dass er sich hineinziehen lässt.»
«Kennst du nicht auch Leute dort?»
«Tante Vevi und Onkel Benedikt, meine Paten. Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie etwas wissen. Mutter redet ohnehin seit Tagen auf mich ein, ich solle sie endlich besuchen.» Clara drückte Magdalenas Hand und stand auf. «Das kann ich nur allein entscheiden. Ich muss jetzt gehen. Sag Alfred liebe Grüße.»
Als sie auf die Straße trat, fragte sie sich, ob sie einfach schwierig war. Aber das war es nicht. Die Männer, die Magdalena ihr vorgestellt hatte, hätten perfekt sein können, und sie hätte doch gegen jeden von ihnen einen Grund gefunden. René war ein Verrückter. Er passte nicht in ihr Leben. Aber die Wahrheit war, dass sie ihn wiedersehen wollte.