Das Gefängnis Stadelheim lag am Rande Giesings. Man hatte ein ehemaliges Gut umgebaut, und das war noch zu erkennen. Hinter den Mauern umgaben weite Wiesen das neue Hauptgebäude mit dem Zellentrakt und den fast barock anmutenden Nebengebäuden. Ein Türmchen erhob sich über den Komplex, und von der Straße her neigten sich Bäume über die Mauer. Es hätte anmutig aussehen können, wäre nicht im Hof die blutbespritzte Mauer mit den Einschusslöchern gewesen.

Die Tür zu dem kleinen weiß getünchten Sprechzimmer öffnete sich, und der Besucher erhob sich.

«Der Gefangene aus Zelle 70. Anton Graf Arco auf Valley», kündigte der Wärter an. Die ungewöhnliche Höflichkeit, die dem Gefangenen entgegengebracht wurde, fiel ins Auge. Ganz anders als die zahllosen anderen, die in überfüllten fensterlosen Löchern zusammengepfercht oder mit Gewehrhieben zusammengetrieben wurden, schien dieser eine heimliche Sympathie zu genießen. Der Wärter rückte ihm sogar den Stuhl zurecht, und als das Metall auf dem Boden ein hässliches Geräusch verursachte, zuckte er entschuldigend die Achseln.

«Lassen Sie uns allein», wies ihn der Besucher an.

Der Gefangene hatte sich niedergelassen. Ein dunkelhaariger junger Mann, ein Junge fast noch, mit rundem Gesicht und einem Lächeln auf den kindlichen Lippen. Um seinen Kopf trug er einen Verband. Er wartete, bis die Tür sich schloss, dann fragte er: «Wer sind Sie?»

Der Junge lächelte weiter, als säße er nicht in der gefürchtetsten Anstalt des Landes und als würde ihm kein Todesurteil drohen. «Ich weiß, weshalb Sie hier sind. Ich habe ein Bekennerschreiben verfasst, bevor ich Eisner erschoss. Darin ist alles gesagt, mehr wird man von mir nicht hören.»

Der Besucher hob die Brauen. «Ich verstehe. Die Frage, ob Sie Mittäter hatten, möchten Sie nicht beantworten. Sie scheinen vernünftiger zu sein, als kolportiert wird. Wird Ihre Verletzung gut versorgt?»

«Ich bin Offizier, kein Arzt.» Er betastete den Kopfverband und lächelte erneut, schien sich hinter diesem merkwürdigen, unpassenden Lächeln förmlich zu verschanzen. Wie viele Menschen, deren Gehirn träge arbeitet, gab er sich wortkarg.

«Wir können versuchen, die medizinischen Gutachten zu verzögern, bis etwas Gras über die Sache gewachsen ist. Es gibt Richter, die Ihnen wohlgesonnen sind.» Der Besucher erhob sich und reichte dem Gefangenen die Hand. «Sie haben noch viele Freunde, Graf.»

***

«Kommst du morgen wieder?», fragte Magdalena. Nachdem Clara gegangen war, hatten Alfred und sie das schöne Wetter genutzt und flanierten an der Isar. Vor ihnen lag das Müller’sche Volksbad und nicht weit davon die Kohleninsel mit der Baustelle des neuen Museums. Der Mai schien wettmachen zu wollen, was den Menschen im April durch die Kämpfe verlorengegangen war. Die Natur explodierte förmlich: Überall auf den Wiesen und zwischen den Pflastersteinen blühte saftig gelber Löwenzahn. Die Kastanienblüten begannen bereits

«Selbstverständlich, Liebste», erwiderte Alfred, und sie genoss es, dass dieses Wort nur für sie bestimmt war. Die Ehe ihrer Eltern war eine reine Zweckgemeinschaft gewesen. Und obwohl ihre Schönheit Magdalena schon früh Verehrer beschert hatte, hatte sie nie damit gerechnet, je für einen davon die Liebste zu sein. Männer hatten immer irgendwo ein Liebchen. Dass einer sich nur für sie interessierte, das erschien ihr wie ein Traum.

Sie sah zum Bad hinüber, dessen prachtvolle Fassade zwischen den zartgrünen Zweigen verheißungsvoll leuchtete. «Würdest du einmal mit mir schwimmen gehen?»

«Gemeinsam?» Alfred runzelte die Stirn. «Das scheint mir kompromittierend zu sein.»

«Männer und Frauen haben getrennte Becken», versicherte sie. «Wie wäre es, bring doch einen Freund mit, und ich frage Clara. Dann könnten wir nach dem Schwimmen noch alle zum Tee gehen.»

Alfred blickte zweifelnd. Magdalena wusste, dass Claras Vorbehalte gegen ihn auf Gegenseitigkeit beruhten.

«Nun, wir können ja auch etwas anderes unternehmen.» Ein klein wenig enttäuscht war sie schon, dass Alfred alles, was mit der Freikörperkultur zusammenhing, so kritisch sah. Obwohl sich die als sittlich einwandfrei verstand, hatte er da seine Zweifel.

Alfred war an einer Litfaßsäule stehen geblieben und betrachtete ein Plakat. «Die haben Ernst Toller noch immer nicht», bemerkte er. «Zehntausend Mark Belohnung! Und noch immer niemand, der diesen Verräter ausliefert!»

«Zehntausend?», wiederholte Magdalena andächtig. Das Plakat zeigte die Fotografie eines dunkelhaarigen Mannes, allerdings war das Gesicht schwarz übermalt worden. Daneben stand zu lesen:

10000 Mark Belohnung wegen Hochverrats

Toller ist von schmächtiger Statur, er ist etwa 1,65–1,68 m groß, hat ein mageres, blasses Gesicht, trägt keinen Bart, hat große braune Augen, einen scharfen Blick, schließt beim Nachdenken die Augen, hat dunkle, beinahe schwarze wellige Haare, spricht Schriftdeutsch.

Für seine Ergreifung und für Mitteilungen, die zu seiner Ergreifung führen, ist eine Belohnung von zehntausend Mark ausgesetzt.

Sachdienliche Mitteilungen können an die Staatsanwaltschaft, die Polizeidirektion München oder an die Stadtkommandantur München – Fahndungsabteilung – gerichtet werden.

Um eifrigste Fahndung, Drahtnachricht bei Festnahme und weitmöglichste Verbreitung dieses Ausschreibens wird ersucht.

Bei Aufgreifung im Auslande wird Auslieferungsantrag gestellt.

München, den 13. Mai 1919. Der Staatsanwalt bei dem standrechtlichen Gericht für München.

Mit zehntausend könnte ich die Fabrik wieder auf die Beine bringen, dachte Magdalena und betrachtete die gesichtslose Fotografie. Was könnte man mit so viel Geld nur anfangen!

Alfred spuckte aus. «Er war einer der Rädelsführer der Räterepublik, und die Roten haben hier gewütet wie die Barbaren. Das stand doch in jeder Zeitung. Sie haben hilflose Geiseln im Luitpoldgymnasium erschossen, und sie sollen ihre Feinde als Zielscheiben für Schießübungen benutzt haben! An die Wand würden sie ihn stellen, was denn sonst? Er hat es hundertfach verdient.»

Das war also einer der Anführer der Männer, die bei ihr gewesen waren. Magdalena kämpfte gegen das Zittern, das sie überfiel.

Alfred sah sie an, und seine Lippen wurden schmal. «Warum? Weißt du etwas?»

«Nein!» Sie schüttelte hastig den Kopf. «Ich sagte dir doch, dass sie unser Haus durchsucht haben.»

Alfred nahm ihre Hände und führte sie an seine Lippen. «Das wird nicht mehr vorkommen. Nun bin ich da.» Er lächelte. «Was meinst du: Ich würde gern mit dir zum Chiemsee fahren und das Königsschloss besichtigen. Wenn wir an einem der nächsten Tage frühmorgens in den Zug steigen, könnten wir doch am Abend wieder hier sein.»

Magdalena strahlte. Sie gingen ein Stück weiter, und er legte ihre Hand auf seinen Arm. Es war ein wunderschönes Gefühl, an der Seite eines gutaussehenden Mannes in der Sonne unterwegs zu sein. Es tat ihr gut zu sehen, wie die alten Frauen, die sie früher mitleidig angesehen hatten, ihr nun neidisch nachblickten, und die Rotzbengel, die ihr früher Anzüglichkeiten nachgerufen hatten, jetzt den Mund hielten.

Auf einmal spürte sie, wie sich Alfred verkrampfte. Sie blickte auf und bemerkte, dass er einen entgegenkommenden Spaziergänger ins Auge gefasst hatte. Er blickte sich nach rechts und

Irgendetwas an dem Mann schien Alfred zu beunruhigen. Auf seiner Stirn bildete sich ein feuchter Film, und immer wieder zog er das Oberteil seiner Ausgehuniform zurecht. Er fasste sich an den roten Stehkragen und schob ihn hin und her, als sei er zu eng geknöpft.

Der Entgegenkommende war jetzt auf ihrer Höhe. Er sah sie kurz an, dann schob er die behandschuhte Rechte in die Tasche seines Rocks.

Urplötzlich ging Alfred auf ihn los und schlug zu.

Magdalena stieß einen erschrockenen Schrei aus.

Der Spaziergänger taumelte auf die Steinbrüstung zu, unter der die Isar floss, Alfred kam ihm nach, schlug auf ihn ein und brüllte: «Die Waffe! Weg mit der Waffe! Los, raus damit, du Dreckschwein!» Einen Moment sah es aus, als wollte er ihn mit Schlägen über die Brüstung werfen. Er schien weder die Schreie zu hören noch die anderen Flaneure zu bemerken, die sofort zusammenströmten.

«Alfred, ich bitte dich, hör auf!», kreischte Magdalena.

«Der ist hysterisch», tuschelte jemand in ihrem Rücken. «Bestimmt ein Kriegsveteran.»

Ein paar beherzte Männer griffen endlich ein und zerrten ihn weg.

Magdalena rannte zu Alfred und umarmte ihn. Er schien es nicht zu bemerken, keuchend starrte er den Spaziergänger an. Dann verschwand der abwesende Ausdruck auf einmal aus seinem Gesicht. Er blickte von ihr zu seinem Gegner. «Oh mein Gott!»

«Ich rufe den Gendarmen», sagte einer der Männer.

«Nein!», rief Magdalena. «Es war ein Anfall. Die Hysterie …

Alfred sah sie an, dann den Spaziergänger. Auf einmal begann er, heftig und unkontrolliert am ganzen Körper zu zittern. Seine Beine gaben nach, und Magdalena musste ihn stützen.

«Der Handschuh», lallte er, als wäre seine Zunge plötzlich gelähmt. «Es war ja nur ein Handschuh.» Er lag schwer auf ihrer Schulter, als hätte ihn jede Kraft verlassen.

Der Angegriffene starrte verständnislos an sich herab. Und auf den schwarzen Handschuh, den er vorhin in die Tasche geschoben hatte.

Ein älterer Mann mit einem Kneifer auf der Nase half Magdalena, Alfred zu stützen. «Braucht er einen Arzt?», fragte er. «Es ist das Kriegszittern. Ich habe das schon gesehen. Die Männer bekommen Panik vor einem banalen Alltagsgegenstand. Sie zittern, manche wirken, als wären sie gelähmt. Es dauert ein paar Minuten, dann geht es vorbei.»

Magdalena presste die Hand auf den Mund. Es hatte nicht den Anschein – Alfred wurde förmlich geschüttelt. Es war schrecklich, ihn so zu sehen, dachte sie, während sie ihn festhielt und immer wieder beruhigend über seinen Rücken strich. Aber, schoss es ihr auf einmal durch den Kopf, es war auch auf eine seltsame Weise befriedigend.

«Er ist krank, das sehen Sie doch», flehte sie den Flaneur an. «Nun kommen Sie, es ist doch nichts passiert. Bitte.»

Der Mann zuckte die Achseln und strich seinen Anzug glatt. «Also meinetwegen. Ich werde von einer Anzeige absehen.»

Magdalena atmete auf. Alfred schien sich etwas zu beruhigen. Seine Beine schienen ihn wieder zu tragen.

«Verschwinden Sie!», rief sie den Schaulustigen zu. «Hier gibt es nichts zu sehen, gehen Sie! Herrgott, eine zünftige Rauferei ist doch nichts, was Sie nicht kennen!»

Magdalena schüttelte den Kopf. Er nickte ihr zu und ging weiter. Nach und nach verliefen sich die Leute. Auch der Angegriffene machte sich davon, sah sich nur noch ein paarmal über die Schulter um. Alfred starrte ihnen nach, dann wurde sein Blick wieder klar.

«Oh mein Gott!», brachte er hervor. Endlich. Er sprach wieder. Langsam kamen die Worte, aber sie kamen.

«Du hast mir Angst gemacht.»

Alfred nahm ihre Hand. «Ohne dich hätte ich ihn vielleicht verletzt. Bitte, verlass mich nicht! Ich würde sterben.»

Seine Worte gaben ihr das Gefühl, von Bedeutung zu sein. Noch nie hatte ihr jemand gesagt, dass er ohne sie nicht leben konnte. Für ihren Vater und die ständig kränkelnde Mutter war sie nur das nutzlose Mädchen gewesen. Alfred war ein so starker, gutaussehender Mann. Dass er sie brauchte, war ein berauschendes Gefühl. Zum ersten Mal stand sie für jemanden im Zentrum seines Lebens, und es gab nichts, das ihm wichtiger gewesen wäre. Vielleicht konnte sie allein ihm helfen, die schrecklichen Erfahrungen zu überwinden und wieder der Mann zu werden, von dem sie träumte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich stark. Fähig, die Dinge wieder zu beeinflussen, die passierten.

«Ich werde dich nicht verlassen», sagte sie. «Ich liebe dich.»

Alfred nahm ihre Hand und küsste sie stürmisch. Und seine Leidenschaft gab ihr das Gefühl, dass dieser Mann es ernst meinte. Dass sie ihn ebenso aus der Verzweiflung retten konnte, wie er ihr Kraft gab. Vielleicht, dachte sie, war das die Aufgabe, die dieses fremde, unberechenbare Leben ihr zugedacht hatte. Vielleicht war das der Grund, warum sie überhaupt lebte.