«‹Charisma› soll eine als außeralltäglich geltende Qualität einer Persönlichkeit heißen, um derentwillen sie als vorbildlich und deshalb als ‹Führer› gewertet wird.»
Der geräumige Hörsaal mit den im Halbrund angeordneten, wurmstichigen und reichlich unbequemen Klappbänken war wieder einmal gerammelt voll. Männer und Frauen, zwischen achtzehn und dreißig die meisten. Eine junge Frau lächelte René verstohlen zu. Er erwiderte es beiläufig und sah wieder nach vorn. Max Webers Text kannte er schon in Handschrift. Sein Doktorvater hatte ihm das halbfertige Manuskript für seine Arbeit zur Verfügung gestellt. So konnte er es sich leisten, seinen Gedanken nachzuhängen.
Clara in den Armen zu halten, hatte ihm ein Gefühl von Wirklichkeit gegeben, das er nicht mehr gekannt hatte. Ein Gefühl von Leben, unmittelbar und intensiv. Als sie am Ende sein Haar berührt hatte, hätte er sie am liebsten festgehalten und geküsst. Sie hatte ihn beim Wort genommen, dachte er mit verstohlener Bewunderung: Ein Spiel mit dem Feuer, aber es bleibt ein Spiel. Es war seine Aufgabe, sich bei ihr zu melden, aber aus irgendeinem Grund fiel es ihm schwer.
«… Wie die betreffende Qualität von irgendeinem ethischen, ästhetischen oder sonstigen Standpunkt aus ‹objektiv› richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: Darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den ‹Anhängern›, bewertet wird, kommt es an.»
Genau, dachte René. Der Charismatiker und der Irre unterscheiden sich allein durch die Anzahl ihrer Anhänger. Und der Mechanismus funktioniert in der Politik genauso wie in der Religion. Er wusste bereits, wie es weiterging:
«Das Charisma eines ‹Berserkers›, eines ‹Schamanen› oder etwa des Mormonenstifters oder eines den eigenen demagogischen Erfolgen preisgegebenen Literaten wie Kurt Eisner werden von der wertfreien Soziologie mit dem Charisma der nach der üblichen Wertung ‹größten› Helden, Propheten, Heilande durchaus gleichartig …»
Eine Trillerpfeife unterbrach ihn. Die Tür flog auf, und mehrere junge Männer drängten herein. Offenbar war ihnen die Tür von innen geöffnet worden. Das Deutschlandlied grölend und eine Fahne schwenkend, kamen sie unter schrillem Trillergepfeife die Stufen durch das Auditorium herunter und umlagerten den Professor.
«Deutschland, Deutschland über alles!»
«… gleichartig behandelt …», versuchte Weber es noch einmal, der immer wieder hinter den Fahnen verschwand.
«Ruhe, Kommunistensau!»
Aus dem Publikum wurden jetzt auch Buhrufe laut. Papierkugeln flogen nach dem Professor, erneut schrillten die Pfeifen, tönte das Deutschlandlied, dessen Worte auf einmal ungewohnt bedrohlich klangen. Kommunistensau. Max Weber hatte Anfang des Jahres eigentlich ziemlich gewettert gegen die Kommunisten. Das störte die Randalierer aber nicht. Sie rissen ihm das Manuskript aus der Hand, warfen es zu Boden und drängten ihn ab.
«Ich lasse das Licht ausschalten!», drohte Weber.
«Umso besser!», schrie einer zurück. «Dann verprügeln wir die Juden im Dunkeln!»
«Wir müssen etwas tun!», flüsterte Renés Nachbarin ihm zu. «Ich rufe die Polizei. Gehen Sie mit den anderen Männern und helfen Sie ihm!»
Toller saß in Renés Korbsessel und las. Als René hereinstürmte, sprang er alarmiert auf. René hatte die Jacke ausgezogen und zusammen mit der ledernen Schultertasche in die Ecke geworfen. Sein Hemd war teilweise aus der Hose gezerrt, ein Hosenträger hing herab, und das schwarze Haar fiel ihm in die Stirn.
«Es tut mir leid, aber du musst hier weg. Gerade haben Völkische die Vorlesung von Max Weber gestört. Sie schienen auch mich zu kennen, denn als ich nach vorn lief, um ihm zu helfen, drohten sie mir. Und dabei fiel dein Name.»
Ernst wurde blass. «Hat mich jemand erkannt?»
«Das wäre nicht schwer.» René griff in die Tasche und zog ein Plakat heraus. Es war an den Ecken eingerissen, er hatte es hastig im Vorbeilaufen von einem Laternenpfahl gerissen. «Hier!» Ungeduldig wischte er sich mit dem Ärmel das Haar aus dem Gesicht und reichte es ihm hinüber.
Das Bild zeigte Toller, ohne Hut in einem Wintermantel. Die Lippen wirkten aus der Perspektive vergrößert, was den Eindruck eines auffälligen Unterbisses erweckte. Die dunklen Augen unter den starken Brauen, die sonst auffällig aus dem Gesicht stachen, blickten ungewohnt ausdruckslos.
«Das hängt an beinahe jeder Straßenecke», sagte René und lachte nervös. «Bei einigen wurde das Gesicht übermalt, du hast offenbar noch Freunde. Gratulation übrigens. Selten so ein scheußliches Bild von dir gesehen. Wenn du dich je bei der Five Points Gang in New York bewerben willst, ist es ideal, aber für alles andere ist es eine Katastrophe.»
Mit einem wütenden Laut zerknüllte Toller das Plakat und warf es auf den Tisch. «Woher haben die nur dieses furchtbare Bild?»
René trat so ans Fenster, dass man ihn von draußen nicht sehen konnte, und warf einen schnellen Blick hinaus. «Du hast im Moment zwar andere Probleme, als ob du fotogen bist, aber wenn es dich beruhigt: Für diesen Zweck hätte niemand das vorteilhafteste Bild ausgesucht. Hässliche Kerle verrät man lieber an den Henker.»
Ernst setzte zu einer Erwiderung an, aber dann schüttelte er nur den Kopf. «Ich hätte mir doch die Haare färben sollen.»
«Dafür ist keine Zeit mehr», sagte René scharf. «Eine Mütze muss jetzt genügen. Ich habe eine Mietkraftdroschke unten stehen, der Fahrer wartet. Beeil dich.» Er nahm Tollers Mantel von der Garderobe und suchte eine Kopfbedeckung, die man möglichst tief ins Gesicht ziehen konnte.
Toller nahm den Mantel entgegen und schlüpfte hinein. «Und wohin? Mir gehen allmählich die Freunde aus. Sie haben Leute erschossen, deren einziges Verbrechen es war, mir ähnlich zu sehen! Sogar ein Polizist war dabei, der mich verhaften sollte. Die könnten auch dich mit mir verwechseln.»
«Jetzt bilde dir bloß nichts ein!», grinste René trotz der Anspannung. Er hatte angefangen, ein paar Kleidungsstücke in ein Tuch zu packen. «Ich bringe dich eine Nacht unter, das verschafft uns Zeit. Bis morgen finde ich jemanden.» Er verschnürte das Paket und warf es Ernst zu.
Toller fing es auf. Er nahm die Schiebermütze und schlug den Kragen hoch. «Wenn du einen sicheren Ort weißt, kann ich nicht gleich dort bleiben?», fragte er, während er seine Verkleidung zweifelnd im Spiegel betrachtete.
«Nein!», erwiderte René scharf. Er bemerkte, wie Ernst ihn überrascht ansah. «Eine Nacht kann ich es verantworten, aber ich werde sie nicht in Gefahr bringen.» Seine Stimme versagte bei dem Gedanken, was Clara passieren konnte.
Toller versuchte trotz seiner Anspannung ein Lächeln. «Ich wusste es. Du hast eine Freundin.»
René zögerte. «Viele haben Angst vor den neuen Frauen, aber ich konnte mit den alten nie viel anfangen. Ihr Mundwerk fällt eigentlich unter das Waffengesetz», sagte er, und ein neues, flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. «Aber es kommt mir vor, als könne sie meine Dämonen beruhigen. Zum ersten Mal kann ich mir vorstellen, eines Tages wieder frei davon zu sein. Jedenfalls will ich es. Ihretwegen.» Er räusperte sich. Warum erzählte er ihm das? «Beeil dich», sagte er schnell. «Wir müssen los.»
Als Angelika die Nachricht brachte, René warte mit einem Fremden im Gasthaus, schlug Claras Herz schneller. Seit dem Abend bei Schwabinger vor einer guten Woche hatte sie ihn nicht gesehen. Ein Dutzend Mal hatte sie sich bei ihm melden wollen, hin- und hergerissen zwischen dem leichtsinnigen Abenteurer, dem sein Leben und die Gefühle anderer gleichgültig waren, und dem Mann, der unter ihrer Berührung zusammenzuckte und diesen verletzlichen Zug um den Mund hatte. Immer wieder fragte sie sich, welcher der wirkliche René war.
«Kann ich Sie einen Moment allein sprechen?», bat er ohne Höflichkeitsfloskeln, kaum war sie zur Tür herein. Er stand förmlich unter Strom. Immer wieder sah er sich um, als erwarte er, verfolgt zu werden. Der oberste Knopf seines Hemdes war offen, das Jackett offenbar hastig übergeworfen. Es war nicht zu erkennen, ob er an ihre letzte Begegnung dachte. Sein Begleiter war ein schmächtiger junger Mann, nicht größer als sie selbst, mit dichtem, welligem Haar. Ohne den auffälligen Schnauzbart hätte er René fast ein wenig ähnlich gesehen. Er war schweigsam, aber das linke Augenlid zuckte nervös, und seine Hände bewegten sich unruhig. Sein Gesicht kam Clara vage bekannt vor.
Sie führte die Männer ins Hinterzimmer. René wartete, bis sich die Tür hinter Angelika geschlossen hatte und kam sofort auf den Punkt: «Ich wollte Sie bitten, meinen Bekannten hier für eine Nacht irgendwo unterzubringen. Irgendwo …», er zögerte, «wo es niemand mitbekommt.»
Sein Begleiter sah sie an, und sie dachte nur: Was für Augen! Wegen der starken, beinahe buschigen dunklen Brauen schienen sie tiefer in den Höhlen zu liegen, als es tatsächlich der Fall war. Er hatte einen intensiven Blick, als wollte er alles bis auf den letzten Grund sehen. Jetzt fiel ihr auch ein, wo sie diese Augen schon einmal gesehen hatte. Aber Fotografien konnten täuschen, sie war sich nicht ganz sicher. «Wer sind Sie?», fragte sie.
Die beiden Männer wechselten einen Blick. «Ich würde es Ihnen gern verschweigen», sagte René langsam. «Was Sie nicht wissen, kann Ihnen später niemand zur Last legen.»
Clara zögerte. Wenn es der war, für den sie ihn hielt, konnte sie sich in Gefahr bringen. Sie kannte René nicht sehr gut. Und Schwabinger hatte sie eine ähnliche Bitte abgeschlagen.
«Er hat nichts verbrochen, das schwöre ich Ihnen», sagte René sofort. «Aber wo man wegen seiner politischen Ansichten erschossen werden kann, kann alles als Vorwand für einen Mord dienen.»
In Zeiten wie diesen gerät man schneller in etwas hinein, als man es merkt, dachte Clara. Und der junge Mann wirkte nicht wie ein Verbrecher. Nur unendlich erschöpft. Gehetzt. «Also gut», sagte Clara. «Wie soll ich Sie denn anreden?»
Er atmete sichtlich auf. «Nennen Sie mich Ernst.»
Er war es. Seine Stimme war auffallend hell, und ihre Sanftheit stand im Widerspruch zu seinen Augen. Clara nickte ihm zu. «Dort stehen ein paar Kisten, die man zusammenschieben kann. Machen Sie es sich so bequem es geht. Ich hole Ihnen ein paar Decken und etwas zu essen.» Sie wandte sich an René: «Ich bringe Sie hinaus.»
«Danke», flüsterte René, als sie die Tür hinter sich schloss. Sie blieben einen Moment in dem halbdunklen Gang stehen. Von der Gaststube her hörten sie Angelika hantieren. Ihre Blicke trafen sich, und hastig sah Clara zur Seite. Der kleine Schauer vom Tanzen überlief sie erneut.
«Ist er ein Freund von Ihnen?»
«Nein. Er ist zu mir gekommen, weil ich ihn fast umgebracht hätte. Dachte wohl, da sucht ihn keiner. Könnten Sie ihm vielleicht etwas zu lesen geben? Nur nichts, was ihn bedrücken könnte. Ich weiß nicht, ob er wirklich Neurastheniker ist, wie manche sagen. Aber im Krieg hatte er einen Zusammenbruch, das darf sich nicht wiederholen.»
Dafür, dass sie keine Freunde sind, macht er sich ziemlich viele Sorgen um ihn, dachte Clara neugierig. «Gut», meinte sie. «Aber versprechen Sie mir auch etwas? Wenn Sie ein neues Versteck für ihn haben – halten Sie sich fern von ihm. Es ist möglich, dass man Sie beobachtet, und Sie könnten ihn und sich selbst in Gefahr bringen. Ich will nicht um Sie Angst haben müssen.»
Er sah sie überrascht an. Im Halbdunkel wirkten seine Augen größer, und wieder hatte sie das Gefühl, einem anderen René gegenüberzustehen. Einem einfühlsameren. Vielleicht verletzlicheren.
«Also gut. Ich verspreche es.» René gab ihr plötzlich einen kleinen Kuss auf die Wange. «Danke.»
Und während Clara ihm noch fassungslos nachsah, lief er zur Tür hinaus.
Die Kammer hinter der Gaststube war zwar nicht gerade komfortabel, aber nachts war es warm und trocken, und es gab keine Tauben. Gegen Abend brachte Clara ihrem Gast ein paar Decken, eine Kerze und etwas zu essen. Während Angelika in der Gaststube bediente, packte sie alles auf ein Tablett: Brot, selbstgemachten Obazdn, ein paar Äpfel und etwas Wurst, dazu Wasser. Sie blickte sich noch einmal über die Schulter um, ob jemand sie beobachten konnte, dann stieß sie die Tür zum Hinterzimmer mit dem Fuß auf.
Ernst war aufgesprungen, als er jemanden an der Tür gehört hatte. Als er sie erkannte, seufzte er erleichtert und beeilte sich, ihr die Last abzunehmen. Er hatte sich mit den Kisten schon ein wenig eingerichtet, eine als Tisch und ein paar andere als Bett nebeneinandergestellt. Die Jacke hatte er ausgezogen. So wirkte er wie einer der vielen Studenten, die man überall in Schwabing sah.
«Brauchen Sie noch etwas, vielleicht Medikamente? Ich hätte Aspirin.» Clara reichte ihm die Decken. Es waren warme Kamelhaardecken, und gemeinsam breiteten sie sie übereinander auf den Kisten aus. So mancher Arbeiter hatte ein schlechteres Bett. Dann holte sie Streichhölzer aus ihrer Tasche, und er entzündete die Kerze.
«Ich bin nicht krank. Es sind nur Kopfschmerzen.» Er richtete sich auf. «Danke.»
«Wofür? Die Welt ist aus den Fugen», sagte Clara ernst. «Nichts macht Menschen zu brutaleren und gewissenloseren Verbrechern als das Gefühl, für eine höhere Moral zu kämpfen.»
«Sie wissen, wer ich bin.» Es war eine Feststellung, keine Frage. Er ging einen Schritt zurück, als wollte er sein Gesicht aus dem spärlichen Licht der Kerze in den Schatten bringen.
«Ich habe so eine Ahnung.» Er blieb im Schatten, und sie seufzte. «Sie fragen sich, ob Sie mir vertrauen können, weil meine Eltern wohlhabend sind. Wenn es Sie beruhigt: Meine Mutter musste sich als Tagelöhnerin durchschlagen, ehe sie meinen Vater traf.»
«Oh.» Er trat ein Stück ins Licht und schaffte tatsächlich ein verlegenes Lächeln. «Meine hat ein Handelsunternehmen.»
Clara erwiderte das Lächeln. «Ach, ehe ich’s vergesse», sagte sie dann schnell. «Ich habe Ihnen noch etwas zu lesen mitgebracht. André Suarès, Die Fahrten des Condottiere. Wenn man irgendwo festsitzt, ist Reiseliteratur genau das Richtige.» Sie reichte ihm das Bändchen.
Ernst sah sie mit großen Augen an. «Danke … das ist viel mehr, als ich erwartet hätte.»
Sie wandte sich zum Gehen, dann blieb sie noch einmal stehen. «Würden Sie mir eine Frage beantworten? Worum ging es Ihnen?»
Er hatte sich dicht zur Kerze gebeugt und den Band geöffnet. Jetzt blickte er auf. «Wie?»
«Die Republik. Wenn noch immer nicht der Mensch im Mittelpunkt steht, sondern Arbeiter und Bourgeoisie, wo ist dann der Unterschied zum alten Klassendenken? Und wenn Freiheit eine bürgerliche Illusion ist – hätten Sie dann nicht nur eine Herrschaft durch eine andere ersetzt? Was ist eine proletarische Gesellschaft wert, wenn Frauen genauso wie unter dem Kaiser auf der Straße bespuckt werden, wenn sie unehelich schwanger sind?»
Der Besucher zog die Brauen zusammen. «Haben Sie mich aufgenommen, um mir Vorwürfe zu machen?», fragte er gereizt.
Clara biss sich auf die Lippen. René hatte ihr gesagt, dass sie ihn nicht bedrücken sollte, und offenbar hatte sie zielsicher den Finger in eine Wunde gelegt.
«Nein, natürlich nicht», erwiderte sie. Sie war gedankenlos gewesen, er hatte schon genug verloren. «Es war der falsche Moment. Entschuldigen Sie.»
Er presste die Hand gegen die Stirn, als habe er nun doch stärkere Kopfschmerzen. «Es ist schon gut, Sie haben ja ein Recht dazu. Ich war mir sicher, auf der richtigen Seite zu stehen. Ich bin es noch, aber Sie dürfen nicht glauben, dass mich diese Gedanken weniger heimsuchen als Sie.» Es klang resigniert. Als ob es ihn schon länger quälte.
Clara zögerte. Dann setzte sie sich zu ihm. «Man muss tun, was einem das Gewissen sagt, und man darf nicht vergessen, dass politische Ideen für die Menschen da sind, nicht umgekehrt. Alles andere ist Ansichtssache. Und wenn Leute wie Sie nicht wären, dürfte ich noch immer nicht wählen.»
«Danke.» Er hob den Kopf. Ein vorsichtiges Lächeln wagte sich auf die breiten, vollen Lippen. «Ich verstehe allmählich, warum René glaubt, dass ich bei Ihnen gut aufgehoben bin.»
«Woher kennen Sie ihn eigentlich?», fragte Clara neugierig. «Er sagt, er hätte Sie fast umgebracht.»
«Fast umgebracht?» Jetzt hatte sie es tatsächlich geschafft, ihn zum Lachen zu bringen. Es war ein zurückhaltendes, kaum hörbares Lachen, aber immerhin ein Lachen. «Da ist etwas dran. Wir sind uns bei Max Weber begegnet, den ich aus Heidelberg kenne. Vor einiger Zeit musste ich überraschend nach Berlin. René hat vor ein paar Jahren die Fliegerausbildung gemacht und bot an, mich hinzubringen. Über Niederbayern gerieten wir in schlechtes Wetter und stürzten ab. Er zog mich aus dem Wrack. Überall in seinem Gesicht war Blut, aber er lachte nur und meinte, es sei nichts passiert. Irgendwie haben wir uns dann ins nächste Dorf geschleppt. Ich weiß nicht, was er den Leuten erzählt hat, aber die Wahrheit war es sicher nicht.»
Das klang ganz nach René. Clara lächelte unwillkürlich.
«Sie mögen ihn», stellte er fest.
Sie wandte sich zum Gehen. «Ja. Das ist das Problem. Haben Sie alles, was Sie brauchen?»
«Nun warten Sie doch.» So etwas wie Interesse vertrieb die Traurigkeit in seinen Augen ein wenig. «René sieht Sie an, wie er in der ganzen Zeit, die ich ihn kenne, noch nie eine Frau angesehen hat.»
Clara seufzte. «Da sehen Sie mehr als ich.»
«Ach, kommen Sie, wo hatten Sie vorhin Ihre Augen? Ich dachte immer, seine Verrücktheit würde sich zwischen ihn und jede Frau stellen, für die er etwas empfinden könnte. Aber er spricht von Ihnen in einer Weise, die ich von ihm nicht kenne.» Clara wollte gehen, aber er hielt sie fest. «René zeigt es nicht», sagte er ernst, «aber er ist sehr viel verwundbarer, als er glaubt. Tun Sie ihm nicht weh.»
Ich?, dachte Clara atemlos. Ich soll ihm nicht weh tun?
Zur selben Zeit stand René im Eingang seiner Wohnung und starrte auf das Bild der Verwüstung. Der Sessel, in dem Toller vorher gelesen hatte, war umgeworfen, ebenso wie die Lampe, Bücher lagen auf dem Boden. Die Schranktür stand offen.
Langsam schloss er die Tür hinter sich. Er richtete den Sessel auf und setzte sich. Der erste Gedanke war, Clara zu drahten. Aber er verwarf ihn sofort. Vielleicht wurde er beobachtet, oder das Telegramm wurde gelesen. Er konnte nichts tun – außer Toller gleich morgen früh holen und in den neuen Unterschlupf bringen.
War er zu weit gegangen? Hatte er sie in Gefahr gebracht? René versuchte, sich zu sagen, dass er schneller gewesen war als die Polizei. Sie hatten nichts gefunden, was auf die Anwesenheit eines zweiten Mannes hätte schließen lassen. Gleich nachher würde er hinunter zur Hauswirtin gehen und sie bitten, einen Einbruch anzuzeigen. Und dann konnte er nur die Nacht hier verbringen und hoffen, dass sie nicht auf Claras Fährte gekommen waren.
René atmete tief durch. Vergeblich.
Angst durchbrach den Panzer um seine Gefühle.