Als sich die Tore der Malzfabrik Moser hinter ihr schlossen, blieb die Frau auf der Straße stehen. Sie kämpfte gegen die Tränen an. Die Kinder durften nicht sehen, dass sie geweint hatte.

Wieder ohne Arbeit.

Katharina ging mit langsamen, schweren Schritten die Straße hinab. Die letzte Zeit war öfter davon die Rede gewesen, dass es der Fabrik schlechtging. Für ungelernte Arbeiterinnen wie sie gab es nicht viel Verwendung. Sie waren die Ersten, die entlassen wurden. Frauen standen in der Hierarchie ganz unten.

Während sie die Straße entlangging, pfiffen ihr immer wieder Männer nach. Sicher nicht wegen ihres Äußeren. Sie trug ein einfaches, mehrfach geflicktes Schürzenkleid aus blauem, kratzigem Wollstoff, und ihr braunes Haar war bereits mit grauen Streifen durchsetzt und zu einem Knoten gewunden. Sie taten es einfach, weil sie es konnten. Weil niemand sie dafür zur Rechenschaft zog. Es war ein warmer Tag, und obwohl es bereits Abend wurde, hatte es sich noch nicht abgekühlt. Der Weg in den zu großen groben Arbeiterschuhen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, wurde lang, und das derbe Leder scheuerte an ihren Füßen. Ihr knurrte der Magen, und sie wusste, dass es zu Hause nicht mehr als einen Kanten trockenes Brot gab. Gern hätte sie mehr gekauft, aber nun musste sie erst einmal eine neue Arbeit finden.

Katharina war verschwitzt und müde, als sie endlich die Arbeiterhäuschen erreichte, die sich zwischen die größeren Mietskasernen duckten. Notdürftig aus dem Schutt errichtet, glichen sie eher Steinhaufen. Die Tür war nicht abschließbar, aber es lohnte sich auch nicht, einzubrechen. Als Katharina die notdürftig gezimmerte Tür öffnete, die ihr der Nachbar gebaut hatte, hockte Anna auf dem Familienbett und versuchte gerade, dem Lieserl Brei zu füttern. Die Rachitis der Kleinsten machte ihr Sorgen, sie lief noch immer nicht, und ihre Handgelenke waren verformt. Aber Geld für den Arzt war einfach nicht da. Überall auf quer durch den einzigen Raum gespannten Leinen hingen Wäschestücke zum Trocknen. Die wenigen Habseligkeiten der kleinen Familie standen in dem einzigen Regal, und auf

«Tut mir leid, Mutter!», rief die Anna ängstlich, kaum dass sie sie bemerkte. «Ich hab das nicht mit Absicht gemacht, ehrlich. Ich wollte aufpassen, aber dann hat sich der Schorsch das Knie aufgeschlagen. Ich hab ihn versorgt, und da ist der Brei angebrannt.»

«Schon gut», seufzte Katharina und strich ihrer Ältesten übers Haar. «Ich weiß, du hast dir Mühe gegeben.»

Mit neun Jahren allein die jüngeren Geschwister versorgen, das war nicht leicht. Katharina begutachtete den Topf, doch die Reste waren selbst für sie, die sie Kummer gewohnt war, nicht mehr essbar. Der Mehlbrei war zu einer schwarzen Kruste verbrannt und klebte hart am Boden des Topfes fest. Den würde die Kleine noch schrubben müssen.

Katharina holte sich das letzte Stück vertrocknetes Brot und begann, darauf herumzukauen. Sie musste schnell eine neue Arbeit finden. Der Lohn von heute reichte vielleicht für etwas Essen, aber lange würde er nicht vorhalten. Und das Lieserl brauchte endlich einen Arzt.

Anna fütterte die Kleinste zu Ende und nahm ihr das Lätzchen ab. Sie bewegt sich schon wie eine erfahrene Mutter, dachte Katharina. Gern hätte sie ihrer Ältesten mehr Zeit zum Spielen gegönnt. Doch die gab es nicht. Katharina starrte trüb vor sich hin. Nun blieb ihr wieder einmal nur noch der Gang zu den üblichen Stellen, wo sich die Tagelöhner in der Hoffnung auf Arbeit drängten und die Frauen von den Männern mit Rippenstößen, und wenn das nichts half, mit Begrapschen auf die hinteren Plätze abgedrängt wurden.

 

Sie hatte Glück. Nicht einmal eine Woche später fand sie eine Taglohnarbeit in einem Gasthaus, wo auch

Sie fand das Gebäude in der Türkenstraße. Simplicissimus stand über der Tür, und daneben war eine rote Bulldogge abgebildet, die eine Sektflasche entkorkte.

Eingeschüchtert blieb Katharina im Eingang stehen. Hier vorn wirkte das Theater wie ein ganz normales Gasthaus. Abgesehen von den vielen Bildern vielleicht, die überall hingen. Da waren Zeichnungen von Tieren, von – Katharina blickte schamhaft beiseite – nackten Frauen und von Leuten mit Getränken, vielleicht Gästen. Zeichnungen, Radierungen, Ölgemälde. Bilder, die nur aus Strichen und Farbpunkten zu bestehen schienen und erst aus der Entfernung zu erkennen waren. Lebensechte Zeichnungen und Karikaturen. Obwohl es schon zehn Uhr morgens war, war die Stube noch leer, und die Stühle standen noch auf den Tischen. Es dauerte eine Weile, bis jemand ihr Rufen hörte. Endlich kam eine selbstbewusste ältere Frau, die einigen Raum einnahm. Ganz besonders beachtlich waren ihre Arme, die einem Fuhrknecht Ehre gemacht hätten. Sie trug eine weiße Kittelschürze über dem Kleid und hatte das Haar zu einem grauen Knoten gesteckt.

«Ah, die Putzhilfe», sagte sie. Sie musterte Katharina, als wollte sie überprüfen, ob sie kräftig genug war. «Ich bin Kathi Kobus, die Inhaberin. Fangen Sie in der Küche an. Sie haben Zeit, wir machen erst abends auf.» Sie überlegte, dann fragte sie: «Könnten Sie heute Abend vielleicht auch bedienen? Wir haben eine Vorstellung, und eine meiner Kellnerinnen ist krank. Es gibt ein Essen und ein kleines Aufgeld.»

«Das bin ich», sagte Frau Kobus stolz. «Ich habe den Männern ganz schön die Köpfe verdreht, als ich jung war, das können Sie mir glauben!» Sie zeigte ihr die Putzkammer und ließ sie dann allein.

Katharina holte sich Besen, Eimer und Lappen und begann zu arbeiten. Nach ein paar Minuten hielt sie inne und sah sich um. Hinten, neben dem Schrank, stand ein Regal mit Brot. Ihre Kinder hatten Hunger. Die reichen Leute hier würden ein bisschen Essen nicht vermissen, sie würden den Verlust doch nicht einmal bemerken. Vermutlich warf man ohnehin alles weg, was nicht direkt verbraucht wurde.

Sie ging zum Regal. Auf mehreren Brettern lagen Brote und ein Butterfass. Einer der Laibe war angeschnitten. In einem anderen Schrank, der innen kalt war, gab es sogar Fleisch und Salat.

Katharina schnitt sich eine Scheibe Brot ab, bestrich sie dick mit Butter und legte eine Scheibe Schinken darauf. So ein Festmahl hatte sie seit Wochen nicht gehabt. Es war ein feines helles Brot, nicht wie das harte Zeug, das sie beim Bäcker für ihre Familie kaufte. Die Butter war fett und gesalzen, und der Schinken duftete. Katharina kaute hastig und begann, sich die Taschen vollzustopfen. Vorsichtig legte sie dann alles wieder so hin, dass es wie unberührt aussah.

Die Zeit reichte, um nach dem Putzen noch einmal nach Hause zu fahren. Als die Kinder das Essen sahen, strahlten sie.

 

Als sie am Abend zurück in Schwabing war, hatte sich die Gaststube gründlich verändert. Alles war voller Studenten, und hie und da entdeckte man sogar den einen oder anderen Künstler, den man daran erkannte, dass er beim Trinken schrieb oder zeichnete. Trotz des elektrischen Ventilators an der Decke war die Luft zum Schneiden. Der Korridor zum Theaterraum war kaum noch zu passieren, und sie musste sich mit ihren Krügen den Weg zwischen Tischen und Stühlen bahnen, immer in der Angst, dass nur noch die Hälfte des Bestellten auch tatsächlich ankam. Frau Kobus schien den Trubel zu genießen. Gerade schubste sie zwei Studenten, die ein wenig laut geworden waren, am Kragen zur Tür und setzte sie an die Luft.

«Außi da, es Saubuam, es seid’s ja ned ganz sauber!», keifte sie, ganz anders als vorhin, im schönsten Bayerisch und bewies, dass sie ganz genau wusste, welche Sprache hier verstanden wurde. Die «Saububen» ließen sich ein wenig verdattert, aber ohne Widerstand zu leisten, an die Luft setzen.

Katharina schlängelte sich durch das Nadelöhr zurück. Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, dass die Bühne jetzt beleuchtet war. Sie blieb einen Moment stehen.

Ein Mann, hager wie ein Skelett und mit einem unbeschreiblichen Gesicht wie eine lebendig gewordene Kasperlefigur, stieg auf das Podium. Hinter ihm betrat eine kleinere, lebendige junge Frau die Bühne.

«Karl Valentin und Liesl Karlstadt!», rief jemand, und die beiden wurden mit tosendem Applaus begrüßt.

Jemand schubste Katharina von hinten. «An die Arbeit, ned rumstehen und Maulaffen feilhalten!»

Frau Kobus. Hastig trug Katharina ihre Krüge weiter. Die

Katharina bekam nicht viel mit, nur so viel, dass die kleinen Episoden unter einfachen Leuten spielten. Nicht gerade Arbeitern wie sie selbst, aber jedenfalls nicht unter reichen Leuten. Sie wünschte, sie selbst hätte so viel zu lachen wie die Leute, die sich über die Späße aus dem Leben der einfachen Leute amüsierten, während Bier und Champagner in Strömen flossen.

Der Gedanke an zu Hause erinnerte sie daran, was sie sich vorgenommen hatte. Dass niemand ihren Diebstahl bemerkt hatte, hatte ihr Mut gemacht. Vielleicht konnte sie öfter hier arbeiten. Dann würde sie den Kindern ab und zu etwas mitbringen können und vielleicht endlich das Geld für das Lieserl und seine Rachitis aufbringen.

Sie ging in die Küche, stellte ein paar leere Krüge ab und sah sich um. Die Köchin war mit dem Schneiden von Fleischwurst beschäftigt. Katharina drückte sich in die Nische mit dem Brotregal und stopfte sich ein paar Scheiben in die Taschen. Ein weiterer Blick, aber die Köchin war noch beschäftigt. Sie öffnete den Kühlschrank.

«Was machen Sie denn da?»

Katharina fuhr herum und presste sich mit dem Rücken an den Schrank. Frau Kobus.

Die Wirtin überblickte die Lage sofort. «Raus!», sagte sie.