René schien sich an sein Versprechen halten zu wollen. Während der nächsten zweieinhalb Wochen erwähnte er seinen nächtlichen Gast mit keinem Wort, obwohl er seinen Aufenthaltsort sicher kannte. Hin und wieder trafen sie sich nachmittags, und Clara genoss es, mit ihm endlich wieder das Gefühl von Frieden zu erfahren. Er kam nicht mehr auf den Abend bei Schwabinger zu sprechen, und sie war froh darüber. Sie musste ihre Gefühle sortieren, und vielleicht ging es ihm genauso.
Anfang Juni näherte sich der Sommer unaufhaltsam. Clara war dem Rat ihres Vaters gefolgt und hatte im Sudhaus neues Malzbier angesetzt. Heute wollte sie die Hefe zugeben. Sie hatte sich für ein untergäriges Bier entschieden, weil es länger gärte. Das machte es leichter, rechtzeitig zu unterbrechen: noch bevor zu viel Alkohol entstand, aber spät genug, um den Biergeschmack zu erhalten.
Dieses Mal würde sie den Nebenraum abschließen – nur um sicherzugehen, dass kein Brauknecht mehr oder auch weniger zufällig das Experiment verderben konnte. Noch eine Essigbrühe war das Letzte, was sie brauchen konnte. Sie rührte noch einmal um, legte den Deckel auf den Kessel und befestigte ihn. Zwei Tage würde sie wohl warten müssen, bis sie den bräunlichen Schaum sehen und die Hefe herausfiltern konnte. Ein Jammer, dass man beim Brauen so viel Geduld brauchte. Ihre Stärke war das nicht.
Es klopfte, und sie legte die Schürze ab und öffnete.
«Ein Telegramm», meinte Peter und reichte es ihr.
Obstlieferung möglich wie gewünscht – Stopp – Saft kann mit Wasser gestreckt werden – Stopp – Gruß Anton Breitschuh
«Er macht es!» Clara umarmte Peter. «Das ist wunderbar! Wie werden als erste Brauerei Saftgetränke anbieten!»
«Wenn der Vater zustimmt», merkte Peter an. «Und ganz ehrlich: Die Arbeiter haben Angst. Es wäre gut, wenn du ihnen sagst, dass niemand hinausgeworfen wird.»
Clara seufzte. Warum war es für diese Leute nur so unvorstellbar, etwas Neues zu lernen? Viele von ihnen könnte sie auch in Zukunft brauchen, aber irgendwie dachten sie, wenn man einmal das Brauen gelernt hatte, könne man im Leben nichts anderes machen. «Also gut, sag ihnen, vorerst ist es nur ein zusätzliches Angebot. So können wir mehr Familien ansprechen, und die Männer können Frau und Kind zum Trinken mitnehmen.»
Peters Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass so mancher das vielleicht gar nicht wollte. Clara beschloss, dass sie für dieses Problem nicht verantwortlich war. Sie drückte seine schwielige Hand. «Redest du auch mit Vater? Wenn er auf jemanden hört, dann auf dich.»
Sie rief gleich in Renés Redaktion in Schwabing an, um ihm von ihrem Erfolg zu erzählen.
«Ein harter Schlag für alle, die dem Suff ergeben sind», lachte er. «Natürlich muss das gefeiert werden. Champagner wäre deplaciert, aber das Wetter ist schön. Was halten Sie von einem Spaziergang?»
Breit und flach sprudelte die Isar am Südrand der Stadt durch das weite Kiesbett. Von den Frühjahrsüberschwemmungen waren nur noch ausgeblichene Äste geblieben. Clara war froh, den dringend fälligen Besuch bei ihren Paten in Schwabing auf den Abend verschoben zu haben. Es roch nach Jasmin und Holunder, und sie waren nicht die Einzigen, die das Rauschen des Flusses genossen. Überall zwischen den Bäumen, die ihre Zweige bis ans Ufer reckten, liefen Kinder und sogar manche Erwachsene im Hemd herum. Immer mehr Menschen sehnten sich nach Licht und Luft.
Sie gingen ein Stück flussaufwärts, wo sie fast unbeobachtet waren, und zogen die Schuhe aus. Die Isar war kalt, aber Clara war den Fluss seit frühester Kindheit gewohnt. Vielleicht war es der Erfolg, der sie übermütig machte, sie streifte das Kleid über den Kopf und warf es ans Ufer. Nur in ihrem kurzen, auf der Brust und am Saum bestickten Trägerhemdchen aus Musselin balancierte sie über die Steine. Das knietiefe Wasser strömte an ihren Schenkeln vorbei und drohte, sie von den Füßen zu reißen. «Kommen Sie?», rief sie.
René räusperte sich und wandte den Blick von ihr ab.
«Was ist los?», lachte Clara und kämpfte um ihr Gleichgewicht. «Gönnen Sie Ihrem Körper auch mal ein paar Sonnenstrahlen. Oder haben Sie keine Haut unter Ihrem Hemd?»
Er musste mitlachen. «Und ich dachte, ich sei ein Freigeist», erwiderte er. Er warf die Jacke zu Boden, schob die Hosenträger herunter und zog das Hemd über den Kopf.
Clara konnte nicht anders als hinsehen, während er auf sie zukam. Ohne auffallend muskulös zu sein, war sein Körper definiert wie der eines Mannes, der Sport trieb. Sie waren so gut wie allein. Es war irgendwie prickelnd, sich vorzustellen, was sie jetzt alles tun könnten …
«Ich muss Ihnen etwas gestehen», sagte er, als wäre es ihm unangenehm. «Ich habe Ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich war nicht nur wegen Max Webers Einladung bei Schwabinger.»
Clara hatte das Gefühl, er hätte ihr einen Kübel Eiswasser übergegossen. Welchen Grund konnte es geben, sie anzulügen? Eine andere Frau? Er hat sein Ziel erreicht!, dachte sie. Ich bin am Haken. Er verliert das Interesse, sobald er seine Beute hat. «Sondern?», fragte sie zögernd, aber sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte.
«Seit ein paar Jahren bin ich im Verein für Aviatik», sagte René. «Und ich habe Schwabinger zugesagt, zum Herbstfest über die Theresienwiese zu fliegen. Deshalb war ich dort.» Er lächelte verlegen. «Ich hätte es Ihnen sagen müssen. Aber Sie waren gerade mit ihm aus dem Séparée gekommen und ziemlich aufgebracht.»
Erleichtert atmete Clara auf. Hoffentlich hatte er nicht gemerkt, was sie gedacht hatte! «Es gibt Gerüchte, dass Sie fliegen.»
«Ich dachte, Sie freuen sich. Das wird für Aufmerksamkeit sorgen.» René nahm ihre Hand, und Claras Herz machte einen Sprung. «Ich wünschte, Sie könnten einmal mitkommen. Es ist ein Gefühl, das sich mit nichts vergleichen lässt.»
Clara presste die Lippen zusammen. Sie blickte nach Süden, wo weit entfernt die Berge im Dunst lagen. Als sie ein Kind gewesen war, hatte es manchmal Flüge über die Wiesn gegeben. Einmal war der Pilot bei Aubing abgestürzt. «Eigentlich versuche ich gerade, älter zu werden, als mein Bruder es konnte.»
René legte auf einmal beide Hände auf ihre Schultern und sah sie an. «Ich werde kein Risiko eingehen, Clara», sagte er ernst. «Ich verspreche Ihnen, ich werde mich nicht mehr in Gefahr begeben.»
Clara hätte den Abend gern mit René verbracht, aber sie konnte den Besuch bei ihren Paten nicht länger aufschieben. Vevi und Benedikt waren keine Verwandten, sondern Freunde ihrer Mutter und wohnten in der Werneckstraße, nicht weit vom Englischen Garten. Hier am Stadtrand gab es mehrere zweistöckige Gartenhäuser, die vor allem von Künstlern bewohnt wurden. Gelb gestrichen und mit kleinen Sprossenfenstern, die sich unter tief herabhängenden Dächern duckten, schmiegten sie sich nebeneinander ins Grün verwilderter Gärten. Im Frühjahr war hier alles übersät mit Schneeglöckchen und Krokussen, jetzt blühten an der Mauer die ersten Rosen und beschwerten mit ihrem betäubenden Duft den Abend. Ein paar von den Nachbarn kannte Clara: Johannes Reichel, der im Nachbarhäuschen an der Ecke wohnte. Ein Stockwerk höher hauste ein Jüngling, der angeblich bei Stefan George verkehrt hatte, aber sie erinnerte sich nicht an seinen Namen. Clara betätigte die Türklingel, einen Seilzug, der in einem Messingknopf endete.
«Herein mit ihr!», rief Benedikt aus dem Atelier, als Vevi aufmachte. Clara ließ sich in die winzige vollgestellte Küche ziehen und auf einen der Hocker drücken. Hier hatte sich nichts verändert: der Herd, wie immer waghalsig eingequetscht zwischen Regalen. Der Teekessel, den Vevi jetzt daraufstellte, war vermutlich schon zur Zeit des Prinzregenten ein Museumsstück gewesen. Das Spülbecken quoll über von ungespülten Tassen, und auf dem kleinen Tisch lagen Papier und Bleistifte in allen Stärken und Härtegraden. Auch an der Wand hingen Zeichnungen: von Vevi, einer auffallend schönen schwarzhaarigen Frau mit dichten Brauen. Darunter die Kinder: Joachim, der ihr gar nicht ähnlich sah, ein braunhaariger Junge mit großen Händen, dann Alma und Bertha, damals, als sie noch zwei süße puppengesichtige Mädchen mit schwarzen Locken gewesen waren – lange, bevor Alma an die Schauspielschule gegangen und Bertha zum Entsetzen ihres Vaters einen Zeichner geheiratet hatte. Ein viertes Kind, Gerhard, war mit wenigen Jahren an Tuberkulose gestorben. Auf dem Tisch war alles voll loser Entwürfe: Porträts, Karikaturen vom abgesetzten König und vom Kronprinzen, von Weiß- und Rotgardisten und natürlich vom strengen Gendarmen. Auf einer wollte er einen Mann verhaften, weil dem auf der Straße ein Wind entfleucht war.
Benedikt kam herüber, die grau melierten dunklen Locken ungekämmt und ein paar abgebrochene Bleistifte in der Hand. «Wie geht es dir?», fragte er und warf die Stifte in den Müll. «Wir haben von deinem Abenteuer in der Lobau gehört.» Er grinste, und auch Clara musste lachen.
«Das hat mein Vater beendet.»
«Ach, der», meinte Benedikt. «Wie er selbst sagen würde: Der hat schon Provokanteres gesehen.»
Vevi kicherte, und wieder musste Clara an die Gerüchte über ihre Mutter denken.
«Ich wünschte, ihr könntet wieder einmal kommen und meine Eltern aufheitern», sagte sie stattdessen. «Seit Wochen reden sie kaum mehr als das Nötigste miteinander.»
Vevi stellte eine Dose mit Keksen auf den Tisch. «Was ist denn los?»
Clara schüttelte den Kopf. «Es ist wegen Thomas. Irgendwie versuchen sie beide auf ihre Weise, damit umzugehen, aber sie finden nicht zusammen.» Sie blickte auf. «Ich glaube, Vater hat eine Geliebte.»
Benedikt riss die Augen auf. «Melchior?»
«Er war schon immer jemand, der Heimlichkeiten hat. Und andere gern im Ungewissen lässt», überlegte Vevi. «Aber ich dachte, seine Frau würde er davon ausnehmen. Sie standen sich so nahe.»
Ihr Mann fuhr sich durch die wilden grauen Locken. «Manche Männer versuchen so, über den Tod eines geliebten Menschen hinwegzukommen», überlegte er. «Und es gibt genug Tänzerinnen und Dienstmädchen, die sich für jeden auf den Rücken legen, von dem sie sich Geld und Aufstieg erhoffen.» Clara blickte betroffen. Vevi sah ihn strafend an, und er sagte verlegen: «Entschuldige.»
«Ach, schon gut.» Clara griff dankbar in die Keksdose. Es war gut, endlich über das reden zu können, was sie belastete.
Als der Teekessel zu pfeifen begann, goss Vevi den Tee auf und schnitt ihrem Gatten dabei ein paar Grimassen. Clara wollte die Papiere beiseiteschieben, um Platz zu schaffen, da sah sie die Zeichnung.
Ein schlanker junger Mann in modischer Kniehose und mit zerzaustem dunklem Haar. Das Hemd war ein Stück offen, als komme er von einer Sportveranstaltung.
René.
«Wer … ist das?», fragte sie.
Benedikt schob die Bilder zusammen und legte sie ins Regal, oben auf eine Packung Kaffee und einen Topf. «Ein Bekannter von Reichel nebenan. Ist hin und wieder zu Besuch. Warum, gefällt er dir?»
Vevi wischte ihm scherzhaft mit der flachen Hand über die Locken.
Die Abende in Schwabing waren lang, und sie hatten sich nach all der Zeit viel zu erzählen. Die Kerzen auf dem winzigen Tisch waren längst niedergebrannt und durch neue ersetzt worden, die Teetassen und Benedikts Weinflasche waren fast leer. Es musste auf den Morgen zugehen, als jemand heftig gegen die Tür hämmerte.
«Aufmachen! Gendarmerie!»
Sie sahen sich an. Achselzuckend stand Benedikt auf und ging, um zu öffnen.
Ein dumpfer Knall, als würde die Tür halb aufgetreten. «Raus da, in den Garten!», schrie jemand. «Wer ist noch im Haus?»
«Nur meine Frau und unsere Patentochter», hörten sie Benedikt sagen. Da polterten auch schon zwei Gendarmen herein und rissen sie von den Küchenstühlen hoch.
«In den Garten!», herrschten sie sie an. «Alle!»
Überrascht stolperten Clara und Vevi hinaus. Der Morgen konnte nicht mehr fern sein, aber noch wehte ein kühler Nachthauch durch die Tannen an der Straße, und die Rosenblüten schlummerten noch. Am Himmel stand der Mond, über den sich wie ein schwarzer Streifen eine langgestreckte Wolke zog. Im Garten, den sie sich mit dem Nachbarhaus teilten, standen schon Benedikt und ein sich verwundert die Augen reibendes Ehepaar im Nachthemd, das die Gendarmen offenbar aus dem Schlaf gerissen hatten: Reichel, der Maler von nebenan, und seine Frau.
Aus dem Nachbarhaus taumelte ein weiterer Mann mit erhobenen Händen, von einem Gewehr in seinem Rücken unsanft herausgeschoben. Sein Hemd stand offen, nur notdürftig in die Hose gestopft. Ein Hosenträger hing herab, und das schwarze Haar fiel ihm ungekämmt in die Stirn. Es war dunkel, aber die kleine Laterne der Gendarmen genügte Clara, um ihn zu erkennen: René.
Den Gendarmen nicht.
«Das ist Toller!», schrie einer und hob das Gewehr.
«Nein!», schrie Clara.
Der ältere schlug die Waffe zur Seite. «Das ist er nicht! Schau ihn dir doch an, er ist viel zu groß!»
René blinzelte ihn an, als sei er aus einem friedlichen Schlummer gerissen worden und könne noch gar nicht recht begreifen, was hier vorging. Er blickte auf das Gewehr, schien zu stutzen und hob dann langsam die Hände wie jemand, der zum ersten Mal eine Waffe auf sich gerichtet sieht. «Ich bin hier nur zu Besuch. Wir haben es gestern beim Feiern übertrieben, da habe ich übernachtet. Waren wir zu laut?»
Clara starrte ihn an und versuchte, ihren Atem zu beruhigen. Warum suchten die Männer gerade hier nach Ernst Toller?
Einer der Gendarmen bemerkte ihren Blick. «Sie kennen diesen Kerl?»
«Natürlich kennt sie mich nicht, das sehen Sie doch», bemerkte René spöttisch, ohne die Hände herunterzunehmen. «Wenn eine so reizende junge Dame hier wohnen würde, dann wüsste ich das, das können Sie mir glauben.» Und dabei zwinkerte er dem Gendarmen sogar noch frech zu.
Clara schnappte nach Luft, aber in diesem Moment warf er ihr einen warnenden Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. Er wollte sie beschützen.
Aus Reichels Wohnung ertönte ein Schrei. «Die Tapetentür! Wir haben ihn! Hände hoch!»
Es dauerte ein paar Minuten, die heftigen Wortwechsel waren hier draußen kaum zu verstehen. Dann wurde ein dritter Mann in den Garten gestoßen. Die Gendarmen schlugen mit den Gewehren auf ihn ein. Er trug einen schlichten Anzug, offenbar hatte man ihm erlaubt, sich anzukleiden. Seine Haare waren jetzt rötlich gefärbt, und er trug noch immer den Schnurrbart, der auf den offiziellen Fotografien fehlte. Aber die Augen, die Haltung – es war eindeutig der Mann, dem sie eine Nacht bei sich Unterschlupf gewährt hatte.
«Ernst Toller!», sagte der Anführer. «Na endlich. Hat ein paar Wochen gedauert, aber letztlich konnten Sie uns nicht entwischen.»
Tollers nervös umherwandernder Blick streifte Clara, dann huschte er zu René. Er hatte sie auch erkannt.
Der Gendarm wandte sich an René und Reichel. «Sie beide kommen mit auf die Wache! Wir nehmen Sie mit in Gewahrsam. Und Sie da», wandte er sich an Clara, Vevi und Benedikt, «Sie beantworten uns noch ein paar Fragen.»
René beachtete Clara nicht, als man ihn abführte. Nur einmal noch warf er ihr einen schnellen Blick zu, der ihr Herz einen Sprung machen ließ und verriet, dass er nicht so gleichgültig war, wie er tat.
Clara starrte ihnen nach, als sie auf die Straße gestoßen wurden, während am Horizont der erste helle Streifen den Morgen verkündete. René hatte ihr versprochen, sich von Toller fernzuhalten und sich nicht mehr in Gefahr zu bringen. Und er hatte sein Versprechen gebrochen.