Alfred wohnte nicht weit vom Sendlinger Tor im ersten Stock eines älteren, aber sauberen Mietshauses. Bis zu seiner Wohnung ging es eine Steintreppe hinauf, die oberen Etagen erreichte man über eine knarrende Holzstiege. Magdalena war froh, dass sie sie nicht benutzen musste. Sie hätte Angst gehabt, durchzubrechen. Trotz des warmen Junimorgens war es kühl hier drin. Seit dem Vorfall an der Isar war Alfred sonderbar verschlossen. Sie hatte das Gefühl, dass er sie brauchte. Aber welcher Mann konnte das schon zugeben?
Alfreds Schwester Martha öffnete ihr, eine verhärmte Frau mit streng zurückgekämmtem, im Nacken geknotetem braunem Haar. Ihre Ehe war kinderlos geblieben, aber bei vier Jahren Krieg war das nicht verwunderlich. Seit ihr Mann gefallen war, führte sie ihrem Bruder den Haushalt.
«Kaffee?», fragte Martha, als sie die Besucherin in das kleine Wohnzimmer führte. Ihre Hände sind älter als ihr Gesicht, dachte Magdalena. Aufgequollen und wieder getrocknet vom Waschen und Putzen und Kochen waren sie rau und zeigten schon jetzt, in ihren späten Zwanzigern, erste Fältchen. «Wir haben nur Eichelkaffee. Ich hoffe, das stört Sie nicht.»
«Keineswegs.» Beim Zustand der Fabrik werden wir auch bald auf Eichelkaffee umsteigen müssen, dachte Magdalena. Sie sah sich um. Die Fenster der Wohnung waren klein und hinter schweren Vorhängen verborgen, was den Raum dunkel erscheinen ließ. Die Möbel waren aus fast schwarzem Holz, Zinnbecher auf dem Wandbord zeigten Jagdmotive. Die Küche war klein und zugestellt mit Kochgeschirr. Auf einem Stuhl in der Ecke stand das Waschbrett, offenbar wurde es hier drinnen benutzt. Es roch muffig wie in Räumen, die oft feucht sind.
Alfred kam aus dem Nebenzimmer. Obwohl er nicht mit Besuch gerechnet haben konnte, war er korrekt gekleidet, trug eine Weste, und sein braunes Haar war streng zur Seite gescheitelt. Er blieb in der Tür stehen und schien nicht so recht zu wissen, wo er hinsehen sollte. Magdalena lächelte ihm zu.
«Warum bist du hier?», fragte er zurückhaltend.
Sie ging ihm entgegen. «Ich wollte dich sehen.»
Alfred stieß einen trockenen Laut aus. «Nach dem, was passiert ist?»
«Nichts ist passiert!», unterbrach ihn Magdalena. «Gar nichts. Es gab eine Rauferei, und? In Wirtshäusern passiert das ständig.»
Alfred kam langsam in die Stube und setzte sich. «Hysterische Anfälle sind unwürdig», sagte er. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub die Hände in den Haaren. «Ein Offizier muss Manns genug sein, um einen Krieg auszuhalten.»
«Das war kein hysterischer Anfall», sagte Magdalena. Er muss wirklich verzweifelt sein, dachte sie. Sie hatte noch nie erlebt, dass er auch nur annähernd die Haltung verlor, und jetzt saß er da wie ein gescholtener Junge. Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand.
Martha stellte Tassen und Gebäck auf den Tisch und verschwand, um den Kaffee zu holen. Es waren hübsche, schon etwas ältere Porzellantassen mit grünem Dekor. Vermutlich aus besseren Tagen.
«Die Bombeneinschläge», sagte Alfred. «Viele Männer haben das Kriegszittern. Man nimmt an, dass es von der Druckwelle und dem Donnern beim Einschlag der Bomben kommt. Der Sprengstoff, TNT, ist stärker als jeder bisher bekannte. Es gibt Ärzte, die sagen, dass es das Gehirn verletzt, aber die meisten denken, dass es nur ein Vorwand von Weichlingen ist.»
«Du bist kein Weichling.» Magdalena drückte seine Hand, aber er sah sie nicht an, sondern blickte stumm geradeaus.
«Manchmal hilft Kokain. Ich wollte nicht, dass du das siehst.»
Martha kam mit dem Kaffee zurück. Sie stellte die Kanne auf ein Stövchen, schenkte ein und setzte sich zu ihnen.
«Sie teilen also mit Alfred den Einsatz für eine Prohibition?», fragte sie ihre künftige Schwägerin, während sie ihr die Milch reichte.
Magdalena hob ihre Tasse mit zwei Fingern, wie sie es gelernt hatte, und bejahte. Irgendwie war es seltsam, in dieser einfachen Wohnung und mit Eichelkaffee die feinen Tischsitten beizubehalten. Aber sie wollte Alfred nicht verletzen, deshalb achtete sie auch auf einen geraden Rücken. «Sind Sie auch Abstinenzlerin?»
Martha zuckte die Schultern. «Eigentlich nicht. Aber Alfred will nicht, dass ich trinke, insofern können Sie sagen, er hat mich bekehrt.»
«Es ist gesünder», sagte Alfred, der beim Eintreten seiner Schwester sofort wieder Haltung angenommen hatte. «Vielleicht willst du ja doch noch einmal heiraten. Und du willst doch sicher keine erbkranken Kinder.»
«Ich noch einmal heiraten!», lachte Martha trocken. «Ich bin zu alt und verwitwet. Es gibt doch kaum genug Männer für die hübschen jungen Dinger, die gerade von der Schule kommen – so wie Sie», wandte sie sich an Magdalena.
Magdalena lächelte, weil sie nicht recht wusste, wie sie reagieren sollte. Mit einem Lächeln machte man nie etwas falsch. Es fiel ihr nicht ganz leicht, weil der Kaffee ein wenig bitter war. Vielleicht hatte Martha die Eicheln nicht lange genug gewässert.
«Du solltest trotzdem etwas für deinen Körper tun», meinte Alfred. «Sieh dir Magdalena an, sie ernährt sich vorbildlich.»
«Nicht ganz vorbildlich», entschärfte Magdalena die leicht angespannte Stimmung. Sie nahm sich noch einen der Kekse, die selbstgebacken aussahen. «Denn ich werde noch etwas von diesem ganz vorzüglichen Gebäck essen.»
Martha wirkte geschmeichelt, und die Stimmung lockerte sich. «Alfred, holst du mir nachher noch etwas frisches Brot und Käse fürs Abendessen aus dem Keller?», bat sie ihren Bruder.
Alfred ging gleich nach dem Kaffee hinunter, und Magdalena leistete Martha Gesellschaft. Sie betrachtete die Fotografie von Alfred auf dem Kaminsims. Sie musste zu Anfang des Kriegs entstanden sein: Er war jünger als jetzt und winkte fröhlich mit seiner Mütze aus einem Zug, der ihn vermutlich zur Front gebracht hatte. In Uniform sah er hinreißend aus, die Frauen mussten ihm zu Füßen gelegen haben. Alle hatten damals erwartet, es würde einen schnellen Sieg geben. Niemand hatte damit gerechnet, dass man einen Krieg auch verlieren konnte. Eines Tages, dachte Magdalena, wird er wieder so aussehen wie auf dem Bild.
«Ach, Himmel!», rief Martha unvermittelt. «Ich habe vergessen, ihm zu sagen, er möchte auch Sauerkraut mit hochbringen.»
«Ich gehe und sage es ihm», bot Magdalena an. Es war eine gute Gelegenheit, ihn ohne seine Schwester zu sprechen. Marthas Gedanken kreisten nur um die alltäglichen Kleinigkeiten. Magdalena ließ sich den Weg beschreiben und lief die Treppe hinunter. Der Zugang zum Keller lag hinter einer klapprigen Holztür. Sie musste das Licht erst suchen, und es dauerte, bis sie den Schalter an der grob verputzten Wand ertastet hatte. Die Treppe war steil und eng, und sie hielt sich mit beiden Händen an der Wand, um nicht zu stürzen.
Die Kellerabteile der Bewohner waren nicht mehr als aus Holz gezimmerte Verschläge. Im hintersten brannte Licht. Sie öffnete die Tür. Alfred stand vor einem Regal mit Vorräten. Eine Kellerlampe ohne Schirm warf ihren grellen Schein auf sein Gesicht. Hinter ihm standen mehrere Holzkisten am Boden. Und aus ihnen ragten Gewehrläufe.
Magdalena starrte auf die Kisten, dann auf Alfred.
Er fuhr zusammen, als er sie bemerkte.
«Was ist das?», fragte Magdalena. «Sind das … Waffen aus dem Krieg?»
Alfred schien zu überlegen, was er tun sollte. Dann nickte er langsam.
«Aber ist das nicht verboten?», flüsterte Magdalena. «Das ist gefährlich.»
Alfred atmete aus. Dann nahm er ihre Hand und schloss die Tür hinter ihnen. «Ja, das ist es. Aber ich brauche sie.»
Magdalena sah ihn verständnislos an.
«Ich habe die Hölle hinter mir», sagte Alfred und ließ sich auf eine der verschlossenen Kisten sinken. «Du weißt nicht, wie es an der Front war. Die ganze Landschaft war zerstört, eine einzige Wüste. Überall Schützengräben, in denen wir oft wochenlang eingepfercht waren. Es gab nichts – kein anständiges Essen, keine Toiletten, nicht einmal Gräber für die Toten, wenn wir beschossen wurden. Manchmal wache ich nachts auf und sehe alles wieder vor mir. Und wenn ich dann hier herunterkomme und sehe, dass ich nicht wehrlos bin, beruhigt mich das.»
«Aber es ist verboten», flüsterte Magdalena verängstigt. Sie warf einen Blick zum Ausgang, als könnten jeden Augenblick Rotgardisten hereinstürmen, mit dem Befehl Egelhofers. Wer Waffen hat, wird erschossen. Ihre Hände bebten. Sie legte sie an die Bretterwand, aber sie beruhigten sich nicht, zitterten unkontrolliert.
Alfred schnaubte wütend. «Verboten! Man sollte ganz andere Sachen verbieten, hier geht es darum, sich wehren zu können.» Er nahm wieder ihre Hand und drückte sie. «Das verstehst du doch, nicht wahr? Du weißt doch, was die Roten hier angerichtet haben.»
Magdalena schloss die Augen. Sekundenlang sah sie wieder die kalten blauen Augen des Rotgardisten vor sich. Den beiläufigen Blick, als wäre sie ein Gegenstand, kein Mensch. Das Gefühl, völlig ausgeliefert zu sein, dass ihr Leben ganz allein von diesen mitleidlosen Augen abhing. Dass er sie zu allem bringen konnte, wie eine seelenlose Marionette. Weil sie alles tun würde, um ihr nacktes Leben zu retten, wie wertlos es sich danach auch anfühlen mochte. So oder so war sie tot. Sie wollte etwas sagen, ihm davon erzählen, aber sie schaffte es nicht.
«Das verstehe ich», sagte sie stattdessen tonlos. «Ich wünschte, du wärst damals schon bei mir gewesen.» An dem Tag hätte sie sich auch gewünscht, sich wehren zu können. Alfreds Hand auf ihrer beruhigte sie ein wenig. Egelhofer war tot, die Republik vorbei. Und dieser Mann brauchte sie. Anfangs hatte sie sich gefragt, ob sie nicht besser gestorben wäre, aber Alfred gab ihr das Gefühl, dass es einen Grund für ihr Dasein gab. Sie lächelte ihn zögernd an.
Alfred wirkte erleichtert. «Ich schwöre dir, ich werde dich auf Händen tragen. Nie wieder musst du dich mit diesen schrecklichen Dingen befassen. Ich werde mich um dich kümmern.» Er drückte ihre Hand. «Aber bis auf weiteres bleibt das hier unser Geheimnis, nicht wahr?»
Zur selben Zeit wurde Clara fast verrückt vor Sorge. Sie hatte sich nie mit Juristerei beschäftigt. Toller drohte die Todesstrafe, das hatte in der Zeitung gestanden. Wie weit war René in die Sache verstrickt? Konnte er deswegen hingerichtet werden? Oben am Ostfriedhof kaufte sie sich sogar die Neue Zeitung, das Organ der bayerischen USPD. Der milde Juniwind blätterte den Titel auf, und vorsichtshalber faltete sie das Blatt so, dass man ihn nicht erkennen konnte. In diesen Zeiten konnte man sich schon gesellschaftlich ruinieren, wenn man nur die falsche Zeitung las. Auf Seite zwei stand es:
Toller verhaftet.
Gestern Morgen ist der Genosse Toller verhaftet worden. Über die näheren Umstände berichtet eine offiziöse Darstellung, die wir untenstehend wiedergeben. Toller ist in das Gefängnis nach Stadelheim verbracht worden.
Sie suchte Renés Namen, fand aber nichts. Der Artikel kritisierte, dass Toller bei seiner Verhaftung gefesselt worden war, obwohl er kein Krimineller sei. Reichel wurde genannt, auch der Umstand, dass dessen Frau Spanierin sei, fand Erwähnung, warum auch immer das von Bedeutung war. Aber nichts von René. Clara ließ die Zeitung sinken.
Stadelheim lag nicht weit flussaufwärts in Obergiesing. Hier blähte sich der Stadtteil immer weiter auf wie ein Hefeteig. An den Rändern wuchsen die kleinen Arbeiterhäuschen mit ihren winzigen Gärtchen jedes Jahr weiter in die Felder. Kindergeschrei und das Zetern streitender Frauen vereinigten sich zu einer schrillen Dissonanz, die in Claras Ohren gellte. Schwaden von Malzgeruch aus den unzähligen Sudpfannen der Brauereien waberten über die Straßen. Sie beschwerten die Lungen wie giftige Nebel nach einer alkoholischen Apokalypse. Auf den Straßen traf man von körperlicher Mühe ermattete Männer mit Schiebermützen und Frauen in Kittelschürzen, und in der Luft hing Kohlenstaub aus tausend Öfen. Unzählige winzige Fenster schienen der teuer gekleideten jungen Frau nachzustarren wie leblose Augen. Automobile gab es hier oben so gut wie keine.
Sie lief die Stadelheimer Straße entlang, wagte aber nur vorsichtige Blicke im Vorbeigehen nach dem Gefängnis. Auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen, dachte sie. Womöglich wurde sie sonst selbst noch verhaftet. Erwartungsgemäß konnte sie nichts sehen außer einem schwer bewachten Eingang, der von einem Wachtturm geschützt wurde und vor dem Soldaten patrouillierten. Wenn sie hin- und herparadierten, gaben sie den Blick auf das Tor frei, auf das jemand mit Kreide geschrieben hatte: «Hier werden die Roten kostenlos zu Tode befördert.»
Clara schloss die Augen. Sie hielt es nicht aus hinzusehen, sich auszumalen, was hinter diesen Mauern mit René geschehen mochte. Die Ungewissheit war unerträglich. Sie warf einen letzten Blick hinüber, dann nahm sie sich eine Mietkraftdroschke und fuhr zur Universität.
Professor Weber war ein älterer Herr mit Tränensäcken und Spitzbart und einem für seine Körpergröße beachtlichen Bauch. Er schien überrascht, als er Clara nach seiner Vorlesung an der Tür wartend vorfand. Aber als sie ihm sagte, worum es ging, bat er sie in sein Büro, ein mit Regalen zugestelltes Zimmer, aus dem die Bücher förmlich herausquollen. Auf dem Tisch thronte eine schwarze Schreibmaschine, auf der in goldenen Lettern «Royal» stand. Auf dem Fensterbrett fristete eine bräunliche Topfpflanze ein kümmerliches Dasein.
«Sowohl Ernst Toller als auch René Kurowsky waren meine Studenten», bestätigte er. «Allerdings hatte ich nie den Eindruck, dass sie besonders eng befreundet seien. Toller war von der Räterepublik überzeugt, Kurowsky schien sich über jede Form politischen Eifers lustig zu machen.» Er öffnete einen Schrank, förderte eine große Packung Schaumgebäck zutage und begann, gierig zu essen.
«Dennoch hat er ihn versteckt. Und nun droht Toller die Todesstrafe, und was mit René ist, weiß niemand.»
«Todesstrafe?» Der Professor ließ seinen Mohrenkopf sinken, dessen Reste noch in seinem Bart klebten. Offenbar hatte er das noch gar nicht gelesen. «Das hat er nicht verdient.»
«Ich mache mir solche Sorgen», seufzte Clara. «Und ich weiß einfach nicht, wie ich helfen kann.»
«Auch ein Törtchen?» Weber schob ihr, vielleicht bewegt von einem plötzlichen schlechten Gewissen, die Schachtel hinüber. Als Clara verneinte, schien er beinahe erleichtert. «Ich werde mit den Kollegen von der Juristischen sprechen», meinte er, während er sich hastig das süße Zeug in den Mund stopfte. «Hat George nichts unternommen?»
«Wer?»
«Stefan George. Er unterhält so eine Art Künstlerkreis, bestehend nur aus Männern. René Kurowsky verkehrte dort wegen seiner Doktorarbeit hin und wieder. Er beschäftigte sich mit der Frage des Charismas und arbeitete mir für eine Publikation zu. Ich hatte das Gefühl, dass sich George mehr um ihn bemüht als umgekehrt.»
«Wenn Sie ihn kennen, könnten Sie ihn nicht fragen?»
Professor Weber räusperte sich verlegen. «Nun, es gibt da … gewisse Unstimmigkeiten zwischen uns. Er befürchtet, dass ich mich in meiner Arbeit zum Charisma über ihn lustig machen will. Möglicherweise hat er recht. Berufen Sie sich lieber auf René als auf mich.»
Stefan George war vor kurzem zu einem Freund nach Heidelberg gezogen, weil ihm die Wohnung in München gekündigt worden war. Weber gab Clara eine Telefonnummer, eine Fotografie und ein paar von Georges Gedichten.
Clara wartete ab, bis ihre Mutter sich zu einem Nachmittagsschlaf zurückgezogen hatte und sie das Kontor mit dem Telefon aus poliertem Kirschholz und glänzendem Messing für sich hatte. Dann setzte sie sich an den großen Schreibtisch mit dem alten Globus. Auf der ledernen Schreibunterlage stand eine gerahmte Fotografie, schon etwas vergilbt und mit Braunstich: Antonia mit den noch kleinen Kindern im Arm, Melchior über sie gebeugt und ihr zugewandt. Clara drehte das Bild um. Dann legte sie den Messinghörer ans Ohr und beugte sich zum Lautsprecher, um dem Fräulein vom Amt die Nummer zu nennen. Während sie auf die Verbindung wartete, betrachtete sie das Bild des Dichters, das Weber ihr gegeben hatte: ein älterer Mann mit wallendem weißem Haar, schmalen Lippen und auffallend hellen, stechenden Augen, der etwas Weihevolles hatte. Er sieht aus wie manche Bilder von Franz Liszt, dachte Clara. Nur unheimlicher.
Sie überflog die Gedichte, und ihr fiel auf, dass alles kleingeschrieben war, auch die Substantive. Mein Grundschullehrer hätte mir eins mit der Rute auf die Finger gegeben, dachte Clara. Vielleicht wollte der Dichter seinen Worten so mehr Gewicht verleihen.
Endlich wurde das Telefon abgenommen. Clara richtete sich auf wie ein Schulmädchen und erklärte ihr Anliegen.
«mein liebes kind! was für schreckliche neuigkeiten!», tönte eine überschwängliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Zwar wurde sie durch Kratzen und Knacken gestört, aber der priesterliche Tonfall war unüberhörbar. Tatsächlich betonte er die Wörter ähnlich, als ob sie alle kleingeschrieben wären: «wie entsetzlich. eine tragödie von griechischem ausmaß. welch ein jammer!»
Clara begann, sich noch elender zu fühlen als zuvor schon.
«sind sie mit ihm in einer romantischen verwicklung?»
«Wie? Ich will nicht, dass er erschossen oder mit Gewehrkolben erschlagen wird. Braucht es dafür eine romantische Verwicklung?»
Die Fotografie des Dichters starrte sie in schmallippigem Misstrauen von der Seite an. «nun, die weiber sind oberflächlich. allzu viele brechen den genius des mannes durch dumpfe sinnlichkeit.»
Clara schnappte hörbar nach Luft. Herr George am anderen Ende der Leitung schien es immerhin zu bemerken. «ich bin kein feind der frau, falls sie das fürchten. ich lehne nur die neue frau ab, die sich ihrer weiblichkeit entledigt und ein mann sein will. all die hörsäle neuerdings voll von studierenden frauenzimmern. entsetzlich.»
«Studieren und Wählen und andere unanständige Dinge. Ich verstehe.» Clara hatte weiß Gott andere Sorgen, aber sie konnte sich den Zynismus nicht verkneifen. «Und schon haben Sie eine Gemeinsamkeit mit den alten Münchner Bierbrauern.»
Dieser unverhoffte Vergleich seiner prophetischen Heiligkeit mit den wackeren Giesinger Bierbrauern brachte den weihevollen Dichter einen Moment ins Wanken. «hm, nun …» Es dauerte eine Weile, dann meinte er: «sie scheinen mir ein aufopferungsvolles frauenzimmer zu sein. von denen gibt es nicht mehr viele. bleiben sie so, kind. ich werde sehen, ob ich etwas tun kann.»
War es ein Zeichen von Aufopferung, wenn man einem Freund half? Nun, das konnte Clara egal sein. Hauptsache, er unterstützte sie. Und vielleicht fiel ihm ja noch mehr ein als bühnenwirksames Lamentieren. Aber allmählich verstand sie, was diesen Mann für einen Soziologen wie Max Weber interessant machte.
«Haben Sie Dank, Herr George», beendete sie das Gespräch.
«wofür?», fragte es salbungsvoll.
Clara hängte den Hörer wieder in die Messinggabel und starrte auf den Fuß aus poliertem Kirschholz mit der Perlmuttwählscheibe. Gute Frage, dachte sie. Wofür eigentlich?