Marei nannte Clara tatsächlich den Namen einer Hebamme in Schwabing. «Sei aber vorsichtig», warnte sie. «Man kann fünf Jahre ins Zuchthaus kommen dafür. Manchmal beobachtet die Polizei sogar Hebammen, die zu ‹Frauenproblemen› inserieren. Es geht doch wirklich um eine Freundin von dir – nicht etwa um dich?»
Clara spürte, wie sie feuerrot anlief. «Nein, natürlich nicht.»
Als sie mit Magdalena vor dem Haus in der Elisabethstraße stand, wurde ihr wieder mulmig. Über einen Hinterhof ging es in eine Wohnung im Souterrain. Kinder, vom Spielen im Kohlenkeller verrußt, rannten an ihnen vorbei. Ein paar kicherten und beobachteten sie.
Magdalena fing an zu zittern, und Clara legte den Arm um sie. «Die wissen von nichts. Frau Gruber ist eine ganz normale Hebamme, und was sie sonst noch tut, weiß niemand außer ihr und ihren Kundinnen. Sie sind neugierig, das ist alles.»
Trotzdem blickte sie sich besorgt um. Sie konnten nur hoffen, dass die Polizei nicht gerade jetzt kam. Angst spannte die Muskeln in ihrem Nacken an, es zog schmerzhaft. Hinter der Tür, wo der Name stand, führte eine knirschende Holztreppe hinunter. Es war ziemlich dunkel, und Clara brauchte eine Weile, bis sie den Lichtschalter fand.
Obwohl es nur wenige Stufen waren, blieb Magdalena stehen. Clara sah im spärlichen Licht ihre Lippen zittern. Sie tat ihr so leid, dass sie den Arm um sie legte. Wieder stieg die heiße Wut in ihr auf, und sie wünschte, sie könnte dieses Schwein dafür bezahlen lassen, was er Magdalena angetan hatte. Aber Gerechtigkeit für Frauen gab es bei so etwas nie. Das Einzige, was sie tun konnte, war zu helfen, das Schlimmste zu verhindern.
Die Wohnung hinter der Tür sah befremdlich normal aus. Die Fenster lagen weit oben, aber es kam dennoch genug Licht herein. Tisch, Kanapee und Schränke waren blitzsauber. Spitzendeckchen lagen auf den Kommoden, und darauf standen Kerzenleuchter aus Bauernsilber. Alles wirkte viel bürgerlicher, als Clara erwartet hatte. Sie fragte sich, was sie sich vorgestellt hatte. Eine Art Hexenhaus?
«Erst wenige Wochen?», fragte Frau Gruber, als sie ihr Anliegen geschildert hatten. «Da ist es zu früh, um die Fruchtblase aufzustechen.»
Die Hebamme sah überhaupt nicht nach einer Engelmacherin aus. Sie war noch nicht einmal besonders alt, vermutlich jünger als Claras Mutter – eine einfache, sauber gekleidete Frau mit ordentlich im Nacken geknotetem blondem Haar und in einem einfachen, aber modisch weiten, wadenlangen Kleid. Hätten sie sie auf der Straße getroffen, hätte Clara sie für eine tüchtige Wirtschafterin gehalten oder vielleicht für eine Telefonistin oder Schreibkraft.
Magdalena erschreckte die Nachricht sichtlich, sie ließ sich jetzt doch auf den Sessel sinken und hielt sich an Claras Hand förmlich fest.
«Sie meinen, wir müssen warten?», fragte Clara und drückte die eiskalten Finger ihrer Freundin.
«Das habe ich nicht gesagt. Manchmal geht eine Schwangerschaft von selbst ab, das ist in den ersten Monaten gar nicht selten. Ich gebe Ihnen eine Kräutermischung, die Sie als Tee trinken, und Pfefferminzöl für Bäder. Es löst Wehen aus. Mit ein bisschen Glück reicht das schon. Und in diesem frühen Stadium gibt es normalerweise auch keine lebensgefährlichen Blutungen.»
Clara hielt beruhigend Magdalenas Hand und streichelte immer wieder darüber. Aber insgeheim dachte sie, dass sie den Mann am liebsten umgebracht hätte.
Als sie wieder ins Freie traten, rannten die Kinder noch immer draußen herum und beobachteten sie. Und eines sagte einen Reim auf:
«Petersilie, Suppenkraut
Wächst in unserm Garten,
unsre Liesel ist die Braut,
soll nicht länger warten.
Roter Wein, weißer Wein,
morgen soll die Hochzeit sein!»
Magdalena wurde blass und drohte ohnmächtig zu werden. Clara fuhr die Kinder an: «Verschwindet!»
Zu ihrer Überraschung funktionierte es. Die Kinder sahen sie erschrocken mit großen Augen an und verzogen sich schleunigst wieder in den Kohlenkeller.
Clara bereitete ihrer Freundin das Getränk in der Küche des Brucknerschlössl zu, so, wie es ihnen die Hebamme beschrieben hatte. Magdalena war anzusehen, dass sie Angst hatte. Es tat weh, sie so zu sehen, aber das konnte Clara ihr nicht abnehmen. Ohne zu zögern, setzte Magdalena das stark riechende Zeug an die bleichen Lippen und leerte es bis zum letzten Tropfen.
Der nächste Tag war der Sonntag nach Pfingsten. Tagelang hatte Clara weder von Max Weber noch von George gehört, und heute würde sie nichts tun können. Doch die Vorstellung, dass René noch einen Tag im Gefängnis verbringen musste, war ihr unerträglich.
Zum Mittagessen kam Onkel Vinzenz. Melchiors neun Jahre jüngerer Bruder arbeitete in einem Architekturbüro der Stadt. In ihrer Jugend war das Verhältnis der Brüder oft angespannt gewesen, doch Vinzenz mochte Antonia. Seine eigene Verlobte hatte er durch die Grippe verloren, Ende letzten Jahres – genau wie sie Thomas. Seitdem waren sie alle wieder etwas näher zusammengerückt. Die jüngste Schwester, Resi, hatte einen Hotelier in Salzburg geheiratet und würde erst im Sommer für zwei Wochen kommen.
«Ich bin immer wieder fasziniert, dass deine Häuser nicht einstürzen», meinte Antonia, als sie nach dem Essen noch alle bei Tisch saßen. «Du kannst doch noch immer nicht rechnen.» Marei hatte Kalbsvögerl, Brezenknödel und Sauerkraut abgeräumt, und jetzt duftete es aus der Küche nach Schmalz, Zucker und heißen Äpfeln. Die in Teig gewälzten und dann in Butterschmalz gebratenen Apfelringe waren Vinzenz’ liebster Nachtisch, und Marei machte sie jedes Mal für ihn. Auf der Treppe tobten Hias und Vroni, aufgeregt beschwatzten sie den nahenden Umzug.
«Ach, das macht nichts», erwiderte Vinzenz. Nach dem Tod seiner Margarethe war er still geworden, aber allmählich fand er zu seiner frechen Art zurück. «Der Gropius kann nicht zeichnen, und trotzdem haben sie ihn gerade zum Professor am Staatlichen Bauhaus in Weimar gemacht!» Er wandte sich an Clara. «Und du, willst du noch immer die Stadt trockenlegen?»
«Mit Malzbier und Apfelsaft. Vielleicht schadet es nicht, unser Angebot zu erweitern», erwiderte Antonia an ihrer Stelle. «Man muss sehen, ob es sich rechnet. Aber wenn wir auch etwas für Schwangere und Kinder anbieten, macht das die Brauerei interessanter für Familien. Jetzt, wo das Oktoberfest stattfindet, könnten wir einen Testlauf machen. Oder nicht?», wandte sie sich an ihren Mann.
Überrascht sah Clara sie an. Bei ihrer Mutter hatte Peter offenbar mehr Erfolg gehabt als bei ihrem Vater. Dem schien das Thema unangenehm zu sein, er runzelte nur stumm die Stirn. Dabei war es doch immer sein Prinzip, vor allen anderen zu modernisieren, dachte Clara wütend. Der Konkurrenz immer einen Schritt voraus. Der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten, weder bei der Frauenfrage noch bei der Alkoholfrage.
Die Türglocke ersparte Melchior die Antwort. Clara hörte Marei öffnen. Eine Männerstimme sprach – eine bekannte Stimme. Im selben Moment, als sie aufsprang, um in die Halle zu laufen, stand Marei in der Tür.
«Da ist ein junger Mann, der Fräulein Clara sprechen möchte.»
Ohne sich um ihre Eltern und Onkel Vinzenz zu kümmern, die ihr überrascht nachsahen, rannte Clara in die Halle.
Er war es.
Er trug sogar frische Kleider, und sein widerspenstiges Haar war ordentlich gebürstet. Trotz des warmen Sommertags hatte er das Jackett nicht ausgezogen. Er war ein wenig blass, aber ansonsten sah er gut aus. So gut, dass es fast schon an Frechheit grenzte.
Clara schnappte nach Luft. «Sie … sind frei? Wissen Sie, was ich durchgemacht habe? Ich habe sogar Stefan George aufgescheucht! Sie hatten versprochen, sich herauszuhalten!»
«Oh, Gott sei Dank, es geht Ihnen gut!», sagte René und machte einen Schritt herein. «Ich kam überhaupt nicht mehr zur Ruhe vor Sorge.»
Dorian Gray, der auf der Truhe in der Halle gedöst hatte, bemerkte die offene Tür und schoss wie der Blitz an ihm vorbei ins Freie.
«Sie haben sich gesorgt?», fuhr Clara René an. «Ich dachte, Sie sitzen in einer Todeszelle in Stadelheim! Wie zur Hölle sind Sie freigekommen?»
René hob einen Mundwinkel zu einem verstohlenen Grinsen. «Ich bin kein Parteimitglied, und ich war nie bei der Roten Armee. In der Wohnung war ich nur zu Besuch, und Reichel war so freundlich zu behaupten, ich hätte von nichts gewusst. Alles, was sie mir vorwerfen konnten, war, dass ich mit einem Freund getrunken hatte.»
Dieser verfluchte Mistkerl. Clara wusste nicht, ob sie lachen oder ihm eine Ohrfeige verpassen sollte.
René betrachtete sie und wirkte sogar ein wenig verlegen. «Das war leichtsinnig», sagte er endlich. «Es tut mir leid.»
«Ihnen tut etwas leid?», erwiderte Clara. «Was ist los, sind Sie krank?»
Mit der Erleichterung wagte sich auch das freche Blitzen wieder in seine Augen. «Was meinen Sie, draußen steht ein Automobil, das mir nicht gehört, und der Nachmittag ist frei. Wie wäre es mit einem Ausflug vor die Tore der Stadt? Der neue botanische Garten draußen in Nymphenburg hat ein Museum, in dem man beinahe vergessen kann, dass man sich hier an der Isar befindet.»
Clara schüttelte den Kopf. «Mein Onkel ist da.» René zwinkerte, und sie dachte: verdammt. Und sagte laut: «Nun gut. Warten Sie draußen. Ich sage, dass wir flanieren gehen.»
Die Luft im Tropenhaus war warm und feucht. Ein betäubender Duft hing schwer zwischen den üppig grünenden Zweigen und Palmfächern. Schwer und süß von Tausenden strahlend hellen Blüten, die wie Sterne zwischen den Zweigen hingen. Mannshohe Farne säumten die Wege, Palmen breiteten ihre Dächer aus und bargen sie vor dem Himmel jenseits der Glaskuppel. Clara und René hatten Gärten aus Kakteen und Palmen durchquert und flanierten jetzt entlang eines ummauerten Bassins, das über und über mit Lotosblättern bewachsen war. Es war ein Märchengarten aus einem anderen Universum. Überall rankten sich rote und gelbe Blüten übers Wasser, ragten tellergroße kornblumenblaue und rosa Sterne aus dem Gewirr, wie der Phantasie eines wahnsinnigen Zauberers entsprungen.
«Eine blaue Lotosblume!», rief Clara. «Ich kannte sie bisher nur aus Büchern.» Es verschlug ihr den Atem, vor sich zu sehen, was ihr bisher immer so unwirklich weit weg erschienen war. «Eigentlich ist es gar kein Lotos, sondern eine Seerose aus dem tropischen Afrika. Das da ist echter Lotos, eine indische Art. Sehen Sie nur, das zarte Rosa, das allmählich in Weiß übergeht! Das Wasser perlt von der Blüte ab, so bleibt sie makellos.»
René betrachtete einige riesenhafte Blätter, die wie breite Tabletts auf der Wasseroberfläche schwammen. «Victoria amazonica», las er die Aufschrift auf dem Schild. «Darin kann ja ein Kind Boot fahren!»
«Die Amazonas-Seerose!», sagte Clara fasziniert. «Es ist schwer, sie in unseren Breiten zu züchten. Zum ersten Mal gelang es in England. Es heißt, dass ihre Blätter den Architekten des Crystal Palace inspiriert hätten. Sehen Sie nur, sie ist noch weiß!» Sie zeigte auf eine gut dreißig Zentimeter breite Blüte, die wie die Krone einer Seeprinzessin auf dem Wasser trieb. «In der zweiten Nacht wechselt die Farbe zu Rosa. Woher wussten Sie, dass ich Gärten liebe?»
«Ich wusste es nicht», erwiderte er überrascht. «Ich dachte einfach, es könnte Ihnen gefallen.»
Das tut es, dachte Clara. Wie hatte er das ahnen können? Die feuchtwarme Luft schlug sich auf ihrem Gesicht nieder. Da war so viel Leben auf so wenig Raum in den Tropen, dachte sie. War es auch bei manchen Menschen so, dass sie mehr Leben in sich hatten? So viel, dass es andere vielleicht sogar als unverschämt empfanden? Ihr wurde heiß unter dem locker gewundenen Knoten im Nacken. Obwohl sie ihr Cape bereits ausgezogen hatte und nur noch in ihrem leichten geblümten Kleid neben René ging, spürte sie den Atem des Südens auf der Haut. Hin und wieder flatterten Schmetterlinge auf wie bunte, funkelnde Edelsteine. Auch René hatte seine Jacke ausgezogen und die Hemdsärmel unter der eng geschnittenen Weste hochgekrempelt. Er bemerkte, dass sie ihn ansah und lächelte.
Clara räusperte sich. «Wie geht es Herrn Toller?»
«Nicht gut», erwiderte er und wurde sofort wieder ernst. «Man hat ihn nach Stadelheim gebracht, und das Letzte, was ich gehört habe war, dass er ins Krankenhaus musste. Landauer und Egelhofer wurden buchstäblich gelyncht, Leviné hingerichtet. Aber er lebt und bekommt einen Prozess – das gibt mir etwas Hoffnung. Ich werde für ihn aussagen, wenn man mich lässt, und Max Weber auch.»
«Lassen Sie es mich wissen, wenn ich etwas tun kann.» Sie schüttelte den Kopf. «Sie hatten versprochen, sich von ihm fernzuhalten. Warum haben Sie das nicht getan?»
Einen Moment lang wirkte René tatsächlich, als habe er ein schlechtes Gewissen. «Es tut mir leid. Nach der Nacht in Ihrem Gasthaus habe ich ihn zu Reichel gebracht. Dann gingen auf einmal Gerüchte um, dass sich jemand die Belohnung für seine Ergreifung verdienen wollte. Ich hätte es nicht tun sollen, aber ich wollte mich vergewissern, dass es ihm gut geht.»
Ziemlich viel Unterstützung für einen Mann, den er einen Idioten nannte. Clara setzte sich auf die steinerne Einfassung und blickte auf das Becken, wo das Wasser zwischen dem Grün der Blätter aufblitzte. «Er wirkte so feinfühlig. Kaum zu glauben, dass er Rotgardisten kommandiert hat. Magdalena erzählte mir, ein Trupp hätte ihr Haus durchsucht.» Sie verschwieg die Details, sie hatte es versprochen.
René schob ein paar breite, fleischige Blätter beiseite und setzte sich neben sie. «Ich nehme an, selbst wenn er das gewusst hätte, hätte er nichts tun können. Die Sache ist aus dem Ruder gelaufen. Er ist ein grundanständiger Mensch, aber grenzenlos naiv. Max Weber hat ihn gewarnt, aber Toller hat trotzdem mit den Kommunisten zusammengearbeitet. In dieser aufgeheizten Atmosphäre reichte eine Kleinigkeit, um eine Spirale der Gewalt in Gang zu setzen. Deshalb nenne ich ihn einen Idioten. Weber sagt ‹Gesinnungsethiker›, was etwas wissenschaftlicher klingt. Es bedeutet vereinfacht gesagt, dass jemand denkt, der Zweck heilige die Mittel.»
«Nehmen Sie mich auf den Arm? Ich brauche also nur einen edlen Grund, dann habe ich Narrenfreiheit? Wer denkt, dass so eine Haltung nicht in Scharen Kriminelle anlockt, ist entweder sehr naiv oder sehr rücksichtslos.» Neugierig sah sie ihn an. «Sie sagen, er sei nicht Ihr Freund. Warum riskieren Sie Ihr Leben für ihn?»
René zauste sich hilflos die Locken. «Wir sind beide Schriftsteller. Ich halte ihn für meschugge und er mich für verrückt, das verbindet. Außerdem half es gegen die Langeweile.»
Sie sind verrückt, dachte Clara.
«Der Mord an Eisner hat ihn völlig unvorbereitet getroffen», sagte René plötzlich ernst. «Man kann keine Demokratie nur mit dem Proletariat schaffen. Entweder sind alle gleich oder keiner. Die Rotgardisten haben ihren Hass auf die Bourgeoisie hemmungslos ausgelebt. Viele hatten keine Erfahrung, und am Ende gab es keine Lebensmittel mehr. Er hat die Kontrolle verloren und sich dann gewundert, dass man die Weißen mit Blumen empfing und den Roten Pest und Verderben an den Hals wünschte. Zuerst Krieg und Hunger, dann die Seuche – die Menschen wollten Frieden, egal von wem. Es war ein Fehler, aber er verdient nicht den Tod.»
Clara legte ihre Hand auf seine. Die beiden Männer waren sicher sehr unterschiedlich und gerieten oft aneinander. Aber irgendwie hatte gerade das eine starke Verbindung zwischen ihnen geschaffen. Vielleicht nicht Freundschaft, aber doch etwas, was dem sehr nahe kam, vielleicht stärker war. «Sie sprechen sehr warm von ihm.»
«In vielem haben wir ähnliche Ansichten: Gleichheit, Demokratie. Und wir sind beide ungläubige Juden», scherzte er. «Aber anders als ich ist er der USPD beigetreten. Mich hat der Gedanke der Masse abgeschreckt. Masse lässt den Menschen verschwinden, und genau daraus entsteht Gewalt. Alles, was die Welt erträglich macht, kommt nicht aus der Masse, sondern immer nur aus dem Einzelnen. Schöpferische Kraft. Gefühle. Liebe.»
Clara sah ihn überrascht an. Diese Seite an ihm kannte sie noch nicht. Es schien ihm unangenehm zu sein, dass er so offen gewesen war, denn er zog seine Hand zurück, stützte die bloßen Unterarme auf die Knie und blickte über den Teich zu der Glasfront, hinter der das nächste Gewächshaus begann. Die feuchte Luft hatte ein paar Strähnen aus seinen streng zurückgekämmten Locken gelöst.
«Er hält mehr von Ihnen, als Sie denken», sagte sie.
«Und wenn ich könnte, würde ich ihn sofort dorthin fliegen, wo er sicher ist.» Sein Mundwinkel zuckte. «Wobei ich bezweifle, dass er noch einmal freiwillig in ein Flugzeug steigt, das ich steuere.» Der Geruch von Blüten und stehendem Wasser hing in der schweren, heißen Luft. Schmetterlinge flatterten um sie herum, ihre Flügel schillerten im Sonnenlicht. Wie Funken im Elfenstaub wirbelten sie auf, immer weiter nach oben in das gleißende Licht unter der Glaskuppel mit den Metallstreben.
«Ich habe meinen Kopf nicht nur riskiert, weil es mir Spaß macht», sagte René plötzlich.
Clara suchte nach Worten. Es war das erste Mal, dass er auf den Abend bei Schwabinger zu sprechen kam. Sie war nicht darauf vorbereitet. Vielleicht sagte er die Wahrheit, aber es spielte keine Rolle. Dieses überschäumende, wuchernde Leben in ihm war faszinierend und rücksichtslos zugleich. Pulsieren und Sterben, Tanzen und Zerbrechen, alles im Sekundentakt, zu schnell, zu viel davon, zu intensiv. Clara hatte nie wieder jemanden verlieren wollen. Es machte ihr Angst, dass sie sich darauf eingelassen hatte.
«Ich suchte einen Vorwand zu gehen. Vielleicht hätte ich sonst …» Wir sollten nicht hier sein, dachte sie. Wir sollten so eine Unterhaltung nicht führen. Es war schwer zu erklären, was in diesem Moment mit ihr passiert war. Oder vielleicht war es auch ganz einfach. Denn wenn sie sich erinnerte, was sie gedacht hatte, war es immer dasselbe. «Haben Sie jetzt eine schlechte Meinung von mir?»
René nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie.
Im ersten Moment verschlug es Clara den Atem. René war kein Mann für lauwarme Angelegenheiten, und genauso küsste er auch. Intensiv. Fordernd und so verlangend, dass sie fast zu atmen vergaß. Ihr fiel ein, dass sie zum ersten Mal einen Mann küsste, und sie fragte sich, ob sie alles richtig machte. Aber dann schloss sie einfach die Augen, legte die Arme um seinen Nacken und zog ihn an sich. Renés Hände glitten über ihr Gesicht und ihre Schultern auf ihre Taille. Ihr Puls schlug schnell, sie suchte seine Lippen und vergrub die Hände in seinem Haar, das sich in der feuchten Hitze wellte.
«Hm, ich bin noch unschlüssig, was ich von Ihnen denke», sagte René endlich mit einem kleinen Lächeln. «Wenn Sie gestatten, würde ich gern weitere Informationen einholen.»
Er beugte sich wieder zu ihr, und Clara öffnete die Lippen. Eine Gruppe Schmetterlinge flatterte auf und schwebte über ihnen im funkelnden Licht unter der gläsernen Kuppel. Und je mehr sie wünschte, dass er nie wieder damit aufhören würde, desto zerrissener fühlte sie sich.