Es gehörte zu den Stärken Antonia Bruckners, dass sie im Notfall die Dinge selbst in die Hand nahm. Ihre Jugend als Bauerntochter kam ihr hier zugute – sie hatte nie gelernt, sich verzärteln zu lassen. Nun hatte sie mehrere Stellungen zu vergeben, und in Giesing gab es jede Menge arbeitslose Frauen. Also ließ sie sich einen Termin bei Luise Kiesselbach geben, der Stadträtin, die für die Armenpflege zuständig war. Obwohl sie Frau Kiesselbach nicht persönlich kannte, wusste sie, dass sie der Frauenbewegung nahestand.

Die Stadträtin empfing sie in einem Büro im neuen Münchner Rathaus hinter einem riesigen Schreibtisch sitzend. Bei Antonias Eintreten erhob sie sich. Sie trug ein schlichtes modernes Hängekleid, das sie noch massiger wirken ließ. Obwohl sie darüber einen Spitzenkragen und eine lange Perlenkette gelegt hatte, traute man ihr gar nicht zu, dass sie die Gattin eines Erlanger Professors und Mutter der ersten Frau war, die dort ihr medizinisches Staatsexamen abgelegt hatte. Sie war schon älter, und auf den ersten Blick wirkte sie wie eine Bäuerin: mit eher derben Zügen, das dünner werdende Haar in der Mitte gescheitelt, künstlich gewellt und auf dem Hinterkopf hochgesteckt. Doch ihre Augen waren wach und der breite Mund entschlossen. Eine Luise Kiesselbach saß nicht im Rathaus, weil ihr Bild in der Nymphenburger Schönheitengalerie hing, sondern weil Frauen endlich mehr sein konnten als nur Dekoration.

«Da werden wir schnell jemanden finden», meinte sie, als

«Das sind mehr als in unserer Jugend», meinte Antonia. Sie ergriff die kräftige Hand und schüttelte sie. «Danke.»

 

Erleichtert, dass ihnen diese Sorge wenigstens genommen war, suchte sie ihren Mann im Sudhaus auf, wo er gewöhnlich um diese Zeit nach dem Rechten sah. Doch von den Brauknechten hatte ihn niemand gesehen. Auch im Kontor und in der Bibliothek war er nicht. Nachdenklich ließ sich Antonia in den niedrigen, mit grünem Samt bezogenen Biedermeiersessel in der Halle sinken.

Es dauerte über eine Stunde, bis Melchior auftauchte. Als wäre er soeben aus dem Sudhaus gekommen, nickte er ihr zu, ohne zu fragen, warum sie hier allein in der dunklen Halle saß, und wollte an ihr vorbei in die Bibliothek.

«Hast du einen Augenblick?», hielt Antonia ihn auf. «Ich habe auf dich gewartet. Du warst nicht im Sudhaus.»

Schon halb auf der Treppe blieb er stehen. Es schien ihm unangenehm zu sein, aber er war zu gut erzogen, um die Bitte abzuschlagen. «Natürlich.» Seine hellen Augen verrieten nicht, ob es ihm peinlich war, dass sie ihn überrascht hatte. Er machte aber auch keine Anstalten zu sagen, wo er gewesen war. Sie begaben sich in den Salon und setzten sich auf das Kanapee. Erste Mittagsdüfte drangen aus der Küche, offenbar machte Marei Kartoffelsalat und Fleischpflanzerl.

«Ich habe mich um eine neue Köchin gekümmert», brach Antonia das Schweigen.

«Clara hat einen Verehrer. Hast du das überhaupt mitbekommen?»

Er blickte sie überrascht an.

«Ein Journalist, der hier promoviert. Er holt sie hin und wieder ab.» Sie wartete auf eine Reaktion, aber er schien noch immer seltsam unbeteiligt. «Du scheinst dich nicht zu freuen. Ist es nicht schön, dass sie endlich wieder anfängt zu leben?»

Melchior zog seine Jacke aus und erhob sich. Im Aufstehen gab er ihr einen leichten Kuss auf die Lippen. Keinen verlangenden, sehnsüchtigen Kuss wie früher – kaum mehr als eine beiläufige Berührung. Aber immerhin einen Kuss. «Doch, sicher. Entschuldige mich. Ich möchte mich umkleiden.»

Antonia nahm seine Hand und hielt ihn zurück. «Ich könnte mitkommen, was meinst du?» Sie stand auf und legte die Arme um ihn. Es war schön, endlich wieder seinen schlanken Körper zu spüren. In den letzten Monaten war ihr gar nicht klar gewesen, wie sehr sie das vermisst hatte und wie sehr sie sich nach ihm sehnte. «Wir haben eine schwere Zeit hinter uns. Vielleicht sollten wir auch wieder anfangen zu leben.»

Melchior presste die Lippen aufeinander. Er blickte zur Seite, wie um ihr auszuweichen.

«Ich bin … müde. Nicht jetzt.»

 

Die Zurückweisung ihres Mannes hatte Antonia verletzt. Als sie sich kennengelernt hatten, hatte er sich oft undurchsichtig und arrogant gegeben und das mit seiner provokanten Art gebrochen. Allerdings hatte sie damals schnell gemerkt, dass er so nur die Langeweile bekämpfte, die ihn im Kontakt mit schlichteren Gemütern überkam – ihr gegenüber hatte er von Anfang an etwas Spielerisches gehabt, das sie gereizt hatte.

 

Wenige Tage später stand eine Frau vor der Tür, die sich auf Luise Kiesselbach berief. Marei brachte sie ins Kontor, wo Antonia das Empfehlungsschreiben und die Zeugnisse überflog. Dorian Gray, der in dem Sessel am Fenster geschlafen hatte, wachte auf und beschwerte sich mit einem langgezogenen Maunzen.

«Sie heißen Katharina. Haben Sie schon einmal in so einem Haus gearbeitet?»

Die Frau schien etwas eingeschüchtert von der eleganten Dame. Sie verneinte leise, aber bestimmt. «Ich war Schaffnerin, bis der Bürgermeister uns entlassen hat. Aber ich weiß, wie man kocht.»

Sie war nicht mehr ganz jung, aber noch nicht zu alt zum Arbeiten. Braunes, grau durchsetztes Haar, das ordentlich zu einem Knoten gewunden war. Still, aber nicht schwer von Begriff. Antonia überflog die Referenzen. Sie waren gut. «Sie können auch viel aus den Kochbüchern übernehmen.»

«Das kann ich», beeilte sie sich zu sagen.

«Haben Sie Familie?» Weibliche Dienstboten waren gewöhnlich unverheiratet, aber das musste nicht heißen, dass sie keine

«Nein!», rief Katharina und versicherte hastig: «Ich werde lernen, was ich nicht weiß.» Dorian Gray sprang von seinem Sessel herunter und strich um die Beine der Fremden. Die Frau machte einen tüchtigen Eindruck, und sie war unverschuldet in ihr Elend geraten. Aber sie war keine gelernte Köchin. Antonia dachte nach. Seit Xaver eine eigene Wohnung hatte, standen die Räume für die männlichen Dienstboten oben unterm Dach leer. Katharina hätte das ganze Dachgeschoss für sich. Und sie wusste, wie es war, als Arbeiterin von Tag zu Tag auf Lohn und Brot hoffen zu müssen. «Also gut, wir versuchen es einmal. Zunächst für vier Wochen, dann sehen wir weiter.»

Melchior hätte sie vermutlich nicht eingestellt, dachte Antonia. Aber wenn er sich nie blicken ließ, musste er eben damit leben. Und als sie sah, wie Katharina fast die Tränen kamen vor Erleichterung, dachte sie, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.

***

Auf dem glitzernden Wasser des Würmsees funkelte das Sonnenlicht und wurde von tausend Wellen reflektiert. Gleißend verlor es sich in der Ferne, wo die Berge als blaue, gezackte Schatten am Horizont zu erkennen waren. Die Wälder an den Ufern trieben hellgrün und duftend aus, hatten Ausflügler aus München angelockt, die in kleinen Ruderbooten den See bevölkerten. Immer wenn die Ruder eintauchten, spritzten gleißende Tropfen. Der Sommer war leise gekommen, doch jetzt war er da.

Ein kräftiger Knecht ruderte eines der schmalen Fischerboote unterhalb der Ortschaft Berg. Die junge Frau ganz vorn richtete

Die unheimlichen Augen des Mädchens schlossen sich, dann starrte sie wieder geradeaus – genau dorthin, wo das Kreuz im Wasser gut zu erkennen war. Zur Linken am Hang lag das Gebäude, in dem der König damals gefangen gehalten worden war. Durch den Wald daneben war Ludwig II. mit seinem Arzt zum See flaniert. Und bald darauf hatte man beider Leichen im Wasser treibend gefunden.

«Ludwig war ein ausgezeichneter Schwimmer», murmelte Schwabinger. «Er wäre niemals ertrunken.»

Das Medium zuckte zusammen. Die Augen öffneten sich noch eine Spur weiter. Ein leises Stöhnen rang sich über die bleichen Lippen, und sie richtete sich auf, als wollte sie in den schimmernden Dunst über dem Wasser greifen. Ihre Hand reckte sich langsam nach vorn, sehnsüchtig wie die Hand einer Frau, die ihren Geliebten vor sich sieht, zu weit, um ihn greifen zu können, verdammt zu ewiger Sehnsucht.

«Sie sieht etwas!», flüsterte Schwabinger heiser.

Das Medium erhob sich langsam, und der Knecht hörte auf zu rudern. Aufrecht stand sie in ihrem langen weißen Hemd im Boot, das nun langsam auf das Kreuz im Wasser zutrieb. Über ihre Lippen kamen undeutliche Worte. Sie streckte beide Arme nach dem Kreuz aus wie eine Geistererscheinung. Schwabinger lief ein Prickeln über den Rücken. Sein Blick wanderte zu dem Kreuz und fiel auf das Ufer dahinter – dorthin, wo die letzten Schritte des Königs den Boden berührt hatten.

Wo jetzt ein Pärchen stand, das sich schamlos küsste.

Schwabinger fuhr zusammen und machte eine unbedachte

«O mein Gott! Sie ertrinkt ja!», schrie Schwabinger. Und fauchte den Knecht an: «Nun los, ziehen Sie sie schon heraus!»

Der Knecht gehorchte und sprang ins Wasser. Nach kurzer Zeit kam er an die Oberfläche und hielt das zuckende Mädchen am Kragen fest.

Und das aus der Trance erwachte Medium kehrte unversehens in den Tonfall seines heimischen Bauernhofs zurück: «Sakrament, Zefixhalleluja!», krächzte sie, kaum war sie an der Luft. «Passen S’ doch auf, Sie Kasamandljager, Sie damischer! Mit am toten Kini mag er ratschen und daschrickt scho vor am depperten Busserl!»

Schwabinger seufzte. Er warf die Jacke ab und half seinem Knecht, das krakeelende und schimpfende Mädchen an Bord zu hieven. Er schirmte mit der Hand seine Augen und warf einen bösen Blick ans Ufer, wo der Quell des Übels noch deutlich zu sehen war. Das grenzte ja an Blasphemie. Wer wagte es, an diesem heiligen Ort der schnöden Körperlichkeit zu frönen?

***

René hatte seine Hände in Claras Haar vergraben und küsste sie wieder und wieder. Ich wusste nicht, wie es ist, zu leben, dachte sie atemlos. Ihr ganzer Körper prickelte, wenn sie seinen warmen Atem auf ihrer Haut spürte. Seine Jacke lag am Boden, und der leichte Wind bewegte sein widerspenstiges Haar und den Saum ihres Kleides, strich ihr verlockend um die Beine. Das Ufer duftete nach Holunder und feuchtem Schlamm, Lavendelweiden und Schilfröhricht neigten sich weit ins Wasser. Kleine

Auf einmal ließ René sie los und blickte mit gerunzelter Stirn zum Wasser. Draußen trieb ein Boot, und es sah aus, als versuchten zwei Männer, eine Frau aus dem Wasser zu ziehen. Das Weib schimpfte wie ein Rohrspatz.

Clara fing an zu lachen. Sie legte die Stirn an seine Schulter und meinte: «Wir sind wohl nicht die Einzigen, die es am Wochenende an den See zieht.»

«Du meine Güte!», seufzte René und legte den Arm um sie. «Dabei wirkte die Stelle so abgeschieden.»

Clara streichelte seine Wange und küsste ihn noch einmal. «Schade.»

René hob seine Jacke auf und breitete sie auf die von Wind und Wasser hell polierten großen Kiesel. Sie setzten sich und warfen ein paar Steinchen ins Wasser, aber nach dem dritten oder vierten hörte Clara auf. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen. Trotz des warmen Wetters hatte er die Ärmel nicht hochgekrempelt und auch die Weste nicht ausgezogen. Nachdenklich sah er auf das glitzernde Wasser, wo sich das Boot langsam entfernte. Der Wind hatte sich gelegt, die Oberfläche war jetzt glatt wie schimmerndes flüssiges Metall. Nur die Ruder hinterließen kleine Wellen in breiter werdenden Streifen.

«Ich habe ein Angebot bei einer großen Zeitung», sagte René endlich zögernd. «In New York.»

Clara sah ihn erschrocken an. «Du gehst weg?»

Er blickte weiter geradeaus, und die Nachmittagssonne tauchte sein römisches Profil in weiches Licht. «Ich muss es nicht annehmen. Ich kann in Ruhe meine Doktorarbeit fertig schreiben und dann weitersehen. Aber wenn doch … würdest du mit mir kommen?»

«Nach Amerika?», wiederholte Clara überrumpelt. René sah

René strich ihr sanft über den Rücken. «Es ist keine leichte Entscheidung. Ich weiß.» Er legte den Kopf auf die im Nacken verschränkten Arme, die dunklen Augen auf sie gerichtet. «Ich habe die Bewerbung abgeschickt am Tag, ehe wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Deutschland war noch nie besonders gut in Sachen Pressefreiheit, und zurzeit ist es schlimmer denn je. Keine Zeitung wagt es, meinen letzten Artikel zu drucken. Graf Arcos Prozess hat noch immer nicht stattgefunden. Sein Arzt, Professor Sauerbruch, bescheinigt ihm, er sei nicht prozessfähig. Aber ich habe Arco in Stadelheim gesehen. Er trägt noch einen Verband, aber er läuft und spricht normal. Sie schonen ihn, weil er adlig ist und weil er auf ihrer Seite steht. Und vermutlich hat er einflussreiche Freunde. Nur wenn es keine Gleichheit vor dem Gesetz gibt, warum sollte man sich dann noch daran halten?»

«Ich habe gehört, dieser Sauerbruch will auch für Toller aussagen. Vermutlich geht es ihm gar nicht um Politik. Du hast ja recht, aber bitte, stürz dich nicht in jede Schlacht.» Clara ließ

«Ich verspreche es.» Er wollte sie an sich ziehen, aber Clara legte die Hand auf seine Brust und hielt ihn von sich fern.

Konnte jemand wie er sich überhaupt ändern? Und wäre er dann überhaupt noch derselbe? Sie fühlte sich so zerrissen. Sie liebte René, genau wie er war, mit all seinen Verrücktheiten. Und zugleich hielt sie die Ungewissheit jeden Morgen nicht aus, ob er am Abend wieder zurückkommen würde. Vielleicht würden sie Kinder haben. Was, wenn sie sein Temperament erbten? Sie hatte ihre Mutter gesehen, als sie ihren Sohn verloren hatte. Niemals wollte Clara das erleben.

«Ich meine es ernst», sagte sie leise.

«Ich weiß. Ich werde meine Versprechen in Zukunft halten. Zufrieden?» Er legte seine Hände auf ihre Hüften.

Clara hielt seine Arme fest. «Das Boot … Sie können uns sehen.»

«Was denkst du denn, dass ich vorhabe? Ich will nur noch einen Kuss.»

Langsam beugte sie sich zu ihm herab. Und als ihre Lippen sich berührten, fragte sie sich, wie sie aushalten sollte, was er in ihr auslöste – das Glück seiner Nähe oder den Schmerz des Verlusts.