«Und? Hält das Wetter?»
René stand auf dem Flugplatz Oberschleißheim bei München und blickte in den Himmel. Die Gewitterwolken, die schon ziemlich tief hingen, und das schwüle Wetter machten ihm Sorgen. Über der Startbahn, die sich unterhalb des Schlosses in der Ebene erstreckte, schwebte feiner Dunst.
Der Flugleiter, Karl Wildt, neben ihm zuckte die Schultern. Windböen zerrten schon hier unten an seiner Uniform. Oben würde es noch ungemütlicher sein. «Ich fürchte nein. Selbst wenn Sie im Moment noch keine Luftwirbel haben, können jederzeit welche entstehen. Das passiert ohne Vorwarnung.»
René sah hinüber zu dem Doppeldecker, der ein paar Meter entfernt vor dem geöffneten Hangar stand. Es war die Fokker D.VII. Zu gern hätte er sie gestartet. Ein Flug über das gerade eröffnete Herbstfest wäre ein Spektakel, das vielen Münchnern den Auftritt eines Königs voll und ganz ersetzt hätte. Aber er hatte Clara versprochen, beim kleinsten Anzeichen von Gefahr am Boden zu bleiben. «Es hat kaum noch jemand damit gerechnet, dass es ein Oktoberfest geben wird», meinte er. «Es wäre ein Jammer, den Flug abzusagen.»
Warum musste ausgerechnet heute das Wetter so launisch sein? Die ganze letzte Woche war es strahlend schön gewesen, keine einzige Wolke hatte sich am Himmel gezeigt. Die aufziehenden weißen Gewitterwolken am hellblauen Himmel waren zwar dekorativ, wenn man an die bayerischen Farben dachte, aber für ihn waren sie vor allem eine Warnung. Niemand hatte etwas davon, wenn er die Maschine in einen Acker setzte und sich den Hals brach.
Der Flugleiter seufzte. «Sie wird nächste Woche abgeholt», sagte er. «Das Verbot für Militärflüge gilt ab Januar, wenn der Versailler Vertrag in Kraft tritt. Eine Bedingung für den Waffenstillstand war, dass alle D.VII-Jäger ausgeliefert werden.»
René blickte nachdenklich auf. «Dann ist das eine der letzten Gelegenheiten, so eine Maschine zu fliegen?»
Clara wollte gar nicht so genau wissen, was das Wunder möglich gemacht hatte. Als Tochter eines Brauereibesitzers war das Oktoberfest für sie Teil des Jahresablaufs gewesen, genauso wie Weihnachten und Ostern. Nur dass es zu Weihnachten keine Schiffschaukel und keine Schießbuden gab. Sie blickte zum Himmel, wo sich die Wolken beunruhigend zusammenzogen.
«Wenn René den Flug absagen muss, treffen wir uns bei der Bavaria», sagte sie zu ihrer Mutter. Antonia gab die Anstandsdame, aber vermutlich war sie einfach neugierig auf ihn. Während der letzten Monate hatte es den Anschein gehabt, als sei René etwas zur Ruhe gekommen. Zumindest hatte er keine halsbrecherischen Abenteuer mehr unternommen. Sein Schiff nach New York ging nächste Woche. Er hatte die Stelle vorläufig nur für sechs Monate angenommen, um Clara mehr Zeit zu geben. War es zu früh zu hoffen?
«Böse Zungen behaupten, Schwabinger hätte nur in das Fest investiert, um sich als Demokrat zu inszenieren», meinte Antonia. «Es wird geredet, Arco habe nicht allein gehandelt, als er den Ministerpräsidenten erschoss. Angeblich stecken die Monarchisten dahinter.»
Das würde erklären, warum Arcos Prozess verzögert wurde. Aber Clara wollte nicht darüber nachdenken. Wie in ihrer Kindheit roch die warme Luft nach den schweren Kaltblutpferden, welche die Bierkutschen zogen. Sanfte Tiere mit Scheuklappen und metallbeschlagenem Geschirr, die ergeben vor den mit Girlanden geschmückten Wagen warteten und die tausend streichelnden Kinderhände geduldig über sich ergehen ließen. Überall roch es nach heißem Zucker, nach Mandeln und gegrillten Hühnchen. Blaskapellen spielten, und die Marktschreier überboten sich darin, das staunende Publikum zu ihren Buden zu locken. Längst waren die einfachen Stände von früher großen, bunt bemalten Holzfassaden gewichen. Hoch über den Platz trug ein Riesenrad die Mutigen, die sich in die schwankenden Gondeln wagten. Claras Blick blieb an einem Gesichtsversehrten in der Schießbude gegenüber hängen. Er trug eine Kupfermaske, unter der er seine zertrümmerten Knochen verbarg. Viele hatten durch Granaten Teile ihres Gesichts verloren.
«Herr von Stuck!», rief Antonia hinter ihr. Ein älterer Herr kam mit seiner Frau am Arm auf sie zu. Sie waren in Gesellschaft eines etwa fünfundvierzigjährigen elegant gekleideten Mannes mit glattem dunkelblondem Haar und einem Kneifer auf der Nase. Antonia ging hinüber, um sie zu begrüßen, und Clara folgte ihr.
«Professor Ferdinand Sauerbruch», stellte Stuck seinen Begleiter vor. «Antonia Bruckner, die Inhaberin des Brucknerbräu, und ihre Tochter Clara.»
Antonia schenkte ihm das Lächeln, das maßgeblich zu den Gerüchten über ihre Vergangenheit als Modell beitrug. «Herr von Stuck hat mir berichtet. Sie waren der Arzt, der die spektakuläre Operation an Graf Arco durchführte. Sie haben sein Leben gerettet, und als sein Gegner, Minister Auer, am selben Tag angeschossen wurde, auch seines.»
Und das seines Assistenzarztes, der die Räterepublik unterstützt hatte, erinnerte sich Clara überrascht. Hans hatte das erzählt. Aber das war auch der Arzt, der mit seinen Gutachten den Prozess gegen Arco verzögerte. Der außerdem dafür verantwortlich war, dass jede Dame der guten Gesellschaft unversehens dringend eine Operation samt Klinikaufenthalt bei ihm benötigte. Es war fast schon eine Mode, ein Zeichen, dass man zu den besseren Kreisen gehörte. Clara verstand jetzt auch, warum. Sauerbruch war zwar nicht gerade Adonis persönlich, aber für einen Medizinprofessor doch gutaussehend und noch nicht alt. Mit seinem eleganten Auftreten, seinem Benehmen und nicht zuletzt dem Ruf des Spektakulären, der ihm vorauseilte, verbreitete er einen morbiden Glanz. Seine wagemutigen Lungenoperationen mit Hilfe der vollkommen neuartigen Druckkammer hatten ihn ebenso berühmt wie berüchtigt gemacht.
Er nahm Antonias Hand und deutete einen Kuss an. «Herr von Stuck übertreibt. Der Patient hatte eine Schussverletzung am Hals. Damit er nicht an seinem Blut erstickt, spaltete ich die Halsmuskulatur. Es war experimentell, aber keineswegs spektakulär.»
Antonia ließ es sich gefallen, dass er ihre Hand auch danach nicht sofort losließ. «Der Mann war so gut wie tot, das stand in allen Zeitungen. Sie haben ihn gewissermaßen auferweckt. Herr von Stuck sagte, Sie seien im Februar gemeinsam in Haidhausen inhaftiert gewesen, weil Sie Arco nicht herausgeben wollten.»
Sauerbruchs Haut rötete sich, und seine Stimme verlor von einem Moment auf den anderen den verbindlichen Klang. «Ich lasse keinen Patienten erschießen», erwiderte er herrisch. «Sie wollten auch den Auer, das ist mir gleich. Solange einer in meinem Krankenhaus liegt, gehört er mir, und ich bestimme, was geschieht. Das habe ich der Sauregierung von damals gesagt, und ich würde es jeder anderen Sauregierung auch sagen.» Er räusperte sich und blickte zu Antonia. «Verzeihung. Dieser Ausdruck war unangemessen.»
Antonia lächelte, es schien sie nicht zu stören. Sie gingen alle zusammen ein Stück in Richtung der Bavaria, und unversehens fand sich Clara wie so oft in der Rolle, die Anstandsdame für ihre Mutter zu geben statt umgekehrt. Sie sah sich nach René um, aber bisher war er nirgends zu sehen. Auf den Stufen zur Ruhmeshalle mit der monumentalen Bronzestatue spielten Kinder Fangen. Mit dem bayerischen Löwen an ihrer Seite hielt die Bavaria ihren Eichenkranz in die Höhe. Doch von René keine Spur. Clara wandte sich wieder ihrer Mutter zu, die soeben erzählte, dass der geplante Flug über das Gelände von einem Bekannten ihrer Tochter gemacht würde.
«Wie entsetzlich!», sagte Frau von Stuck. «Mein Sohn Otto, aus meiner ersten Ehe mit meinem guten Lindpaintner, Gott hab ihn selig, ist jahrelang geflogen. Jedes Mal habe ich Todesängste ausgestanden. Er war der Erste, der einen Motorflug über die Theresienwiese gemacht hat. Erinnern Sie sich?»
«Otto Lindpaintner», bestätigte Antonia. «Es war unvergesslich! 1910, nicht wahr? Der Magistrat hat ihn ausgezeichnet.»
«Wir sind alle froh, dass er mit diesem Unsinn aufgehört hat und jetzt Medizin studiert», mischte sich Stuck ein, dem das Thema sichtlich missfiel. «Zum Glück hat man bei der Musterung eine Störung des Gleichgewichtssinns festgestellt. Selbst die Autorennen, die er jetzt fährt, sind weniger gefährlich als das Fliegen.»
Clara schluckte.
«Seine arme Tina», meinte Frau von Stuck. «Sie hat ihn erst geheiratet, als er die Fliegerei aufgab. Niemand will gleich nach der Hochzeit Witwe werden.»
«Ist das denn wirklich so gefährlich?», mischte sich Clara ein. «Es heißt, es sei nicht so schlimm, wenn man das Wetter berücksichtigt.»
Frau von Stuck winkte ab. «Das hat Otto auch immer gesagt. Aber die Wahrheit ist, man kann das Wetter nicht kalkulieren. Militärflugzeuge können Tausende Meter hochsteigen. Man kann nie wissen, wie der Wind in dieser Höhe ist. Es gibt so viele tödliche Unfälle, da kann mir der Junge erzählen, was er will.»
Clara biss sich auf die Lippen.
«Machen Sie sich keine Sorgen, Kindchen», tröstete Frau von Stuck. «Das Wetter ist heute nicht gut genug. Er wird nicht fliegen.»
Clara versuchte ein Lächeln. Und in diesem Moment hörte sie das Motorengeräusch.
Tausend Köpfe blickten nach oben. Von Norden her näherte sich etwas in der Luft. Es wurde größer, und dann erkannte man die Flügel. Hüte wurden geschwenkt, behandschuhte Damenhände winkten, begeisterte Rufe ertönten. Die Maschine zog einen Bogen über die Festwiese und summte über den Köpfen der Menschen hinweg.
Jubel brandete auf. René war so tief gegangen, dass er zu erkennen war, soweit von Erkennen die Rede sein konnte – er trug eine unförmige Brille, eine Lederhaube und eine schwere Jacke. Er winkte aus dem Flugzeug, und Clara dachte, dass die Stucks vielleicht doch etwas übertrieben. Stolz erfüllte sie.
Er zog die Maschine hoch hinauf, in die Nähe der sich weiter ausbreitenden Wolken. Dann senkte er die Nase und ließ sie in weiten Bögen nach unten gleiten.
Erneut brandete Applaus auf, Jubelschreie und Gelächter. Die Zuschauer waren begeistert.
«Er schwankt!», rief Frau von Stuck plötzlich erschrocken.
Es ging so schnell, dass sie kaum Zeit hatten zu begreifen. Das Flugzeug schien von einem Windstoß erfasst worden zu sein. René versuchte, die Maschine abzufangen, und einen Moment sah es so aus, als würde es ihm gelingen. Da erfasste ihn ein Wirbel. Urplötzlich sackte der rechte Flügel nach unten, und er geriet ins Trudeln.
Claras Herz setzte einen Schlag aus. Das Flugzeug stürzte in einer senkrechten Spirale herab und zog eine korkenzieherförmige weiße Abgasspur hinter sich her.
Ein Schrei ging durch die Menschenmenge. Die Maschine zuckte, als versuche der Pilot, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Die Spirale wurde weiter. Dann standen die Flügel wieder gerade.
Er hatte es geschafft! Clara atmete auf.
«Warum steigt er nicht?», flüsterte jemand. Mit einem zornigen Surren sank die Maschine weiter, steuerte auf den Eichenkranz der Bavaria zu. Jetzt, da sie tiefer und tiefer kam, sah man, dass einer der Flügel beschädigt war. Erschrocken schrien die Zuschauer auf.
«Das Seitenleitwerk hat der Belastung durch den Spiralsturz nicht standgehalten, er versucht eine Notlandung!», schrie Stuck. «Mein Gott! So kann er keine Kurven mehr fliegen. Wenn er in die Menschenmenge rast, gibt es Tote!»
Clara wurde eiskalt. Sie konnte kaum atmen, wollte nicht hinsehen, konnte zugleich die Augen nicht abwenden. Sie war wie gelähmt.
Im letzten Moment gelang es dem Piloten, die taumelnde Maschine von der Statue wegzulenken. Er zog den rechten Flügel hoch und stellte das Flugzeug schräg. Es schrammte so knapp am Eichenkranz vorbei, dass ein neuer Aufschrei durch die Menge ging, und steuerte dann auf die weite Fläche im Süden der Buden zu.
«Die Leute müssen von der Wiese runter!» Sauerbruch rannte hinüber und begann wild zu brüllen.
Der Doppeldecker jagte so dicht über die Köpfe der Menschen hinweg, dass manche sich unwillkürlich duckten. Dann überquerte er die letzten Buden. Ein Aufprall. Holz splitterte.
Clara schrie zusammen mit den anderen auf. Dann rannte sie zur Wiese. Rücksichtslos drängte sie sich durch die Menschen.
Der Doppeldecker hatte sich mit der Nase in den Boden gebohrt. Er musste sich bei der Landung überschlagen haben. Der eine Flügel war gebrochen, Seile schlenkerten noch herum, die Bespannung des Rumpfes war zerrissen, die Räder verbeult. Holzsplitter und aufgerissene Erde verrieten die Bahn, auf der er endlich zum Stehen gekommen war. Die Kräfte, die beim Sturz auf die kleine Maschine eingewirkt hatten, mussten gigantisch gewesen sein. René hing leblos kopfunter in den Gurten. Aus einer Platzwunde an der Stirn lief Blut über sein Gesicht. Überall war Blut.
Clara rannte zu ihm und rief seinen Namen. Vorsichtig versuchte sie, ihn aufzurichten.
«Nicht anfassen!», brüllte sie jemand an. Sauerbruch stieß sie zur Seite. Er rief ein paar Männer, und gemeinsam befreiten sie ihn vorsichtig aus dem Gurt und legten ihn auf den Boden. Dann beugte er sich über ihn.
Clara verlor das Gefühl in den Beinen. Ihr wurde schwarz vor Augen, ihr Atem ging hektisch, in unregelmäßigen Stößen. Nicht wie Thomas!, schoss es ihr durch den Kopf. Nicht er! Bitte, bitte, nicht auch noch er! Ihre Knie gaben nach. Sie spürte die Hände ihrer Mutter, die sie festhielten, sonst wäre sie einfach zusammengebrochen. Wie durch einen Schleier nahm sie wahr, dass Sauerbruch Renés Handgelenk nahm und seinen Puls fühlte.
«Er ist ohne Bewusstsein, aber er lebt.» Die Stimme klang seltsam gedämpft.
René stöhnte. Langsam schien er wieder zu sich zu kommen. Sauerbruch bewegte seine Glieder, fragte, ob er etwas spüre. Er redete weiter auf ihn ein und schob den Arm unter seinen. Mit Hilfe des Arztes richtete René sich auf. Er sah sich orientierungslos um.
Claras Lippen begannen zu zittern. Ihr ganzer Körper bebte wie in einem heftigen Fieber, wie durch einen Nebel sah sie ihn an. Er blinzelte und schien sie zu erkennen.
«Es tut mir leid», stöhnte René mit schmerzverzerrtem Gesicht.
«Es tut dir leid?», flüsterte sie. «Jedes Mal tut es dir leid. Aber du änderst nichts.»
Mühsam kam er auf die Beine, gestützt von Sauerbruch. «Unfälle passieren», sagte er und berührte vorsichtig seine Rippen. Sein Gesicht war voller Blut, aber er versuchte ein verzerrtes Lächeln. «Du kannst nicht immer alles kontrollieren, Clara. Das ist das Leben.»
«Das ist nicht das Leben. Das ist Selbstmord.» Sie schüttelte den Kopf. «Du wirst dich nie ändern, René, und selbst wenn, würdest du irgendwann unglücklich werden. Du würdest dich nur selbst verleugnen, und das würdest du mir nicht verzeihen.»
René sah sie verständnislos an.
Sie atmete tief ein, und allmählich kehrte das Gefühl in ihre Beine zurück. Auf einmal war ihr klar, was sie zu tun hatte. Es war unendlich schmerzhaft, aber nicht annähernd so schmerzhaft wie die Vorstellung, das, was sie gerade erlebt hatte, immer wieder und wieder aushalten zu müssen.
«Ich kann nicht mit dir kommen», sagte sie zitternd. «Hörst du, René? Ich werde nicht mit nach New York gehen.»