Der Schrei riss Magdalena aus dem Schlaf. Sie sah sich orientierungslos um. Bleiches Mondlicht fiel durch das schmale, hohe Fenster in ihr Schlafzimmer, auf das alte Eichenbett mit den bestickten Kissen und der Decke mit Spitzenbesatz. Die hellen Baumwollvorhänge schwebten geisterhaft vor dem Fenster. Hinten im Eck schälte sich der wuchtige Schrank aus der Dunkelheit, der früher im Zimmer des Vaters gestanden hatte. Der Dielenboden war dunkel, nur der Bettvorleger aus Lammfell schimmerte bleich in der Nacht.

Magdalena ließ sich zurücksinken und starrte in die Dunkelheit. Sie schob eine Strähne, die sich gelöst hatte, unter die Nachthaube. Erneut hörte sie Alfred neben sich stöhnen.

Sie rüttelte ihn an der Schulter. «Wach auf! Es ist alles gut!»

Alfred fuhr hoch und starrte sie an. Endlich schien er sie wahrzunehmen.

«Es ist gut», sagte Magdalena wie so oft und umarmte ihn. «Es ist alles gut. Der Krieg ist vorbei. Du bist zu Hause.»

«Zu Hause», murmelte Alfred, ohne die Umarmung zu erwidern. Sie fragte sich, was Alfred immer träumte, wenn er nachts im Schlaf schrie. Auch nach über fünf Jahren war es nicht besser geworden. Es tat gut, sich um ihn zu sorgen. Um sie und ihre Vergangenheit kümmerte sich niemand. Und das war auch besser so, denn es gab nichts, wovor sie mehr Angst hatte, als jemandem davon erzählen zu müssen. Ihre Vergangenheit hatte sie in einem steinernen Sarkophag tief in ihrem Bewusstsein

«Schlaf weiter», sagte Alfred und stand auf. Er holte seinen Schlafrock und schlang den Gürtel um den Bauch. Vermutlich würde er die Kokaindose auf dem Waschtisch holen. Sie hörte das leise Hochziehen, als er schnupfte. Beruhigt zog sie die Decke hoch. Sie wusste, er würde zwar nicht mehr ins Bett kommen, aber von jetzt an würde er ruhig sein.

Beim Frühstück war Alfred kurz angebunden und verabschiedete sich schnell und ohne den üblichen Handkuss in die Firma. Magdalenas Mutter hatte sie vorerst an ihn übergeben, unter der Bedingung, Ludwig zu beteiligen oder auszuzahlen, wenn er einundzwanzig wäre. Und natürlich die ganze Familie bis dahin zu versorgen. So blieb Magdalena mit Mutter und Bruder allein am Tisch sitzen. Alfred blieb noch vor dem Spiegel im Flur stehen, um den Sitz seines Seitenscheitels zu überprüfen. Obwohl er morgens lange brauchte, bis er ihn mit Pomade geglättet und zurechtgelegt hatte, tat er das stets, ehe er aus dem Haus ging. Es war eine teure Frisur, das Haupthaar etwas länger als das an den Seiten. Alle vier Wochen musste sie nachgeschnitten werden.

«Ein Glück, dass wir den Alfred haben», sagte die Mutter, als im Flur die Haustür zuschlug. Von dem, was ihn belastete, schien sie nichts zu merken, kaute auf ihrem Tellerfleisch und strich sich noch Senf aufs Brot. Sie deutete auf den Tisch. «Er soll uns ein paar neue Damastdecken kaufen, die hier sieht schon so alt aus. Eine gut gedeckte Tafel braucht zwei Dinge: Gläser aus einem guten Kristall und Damastdecken.»

Ludwig hatte ein paar der guten Kristallgläser auf dem Gewissen, aber auch die Köchin hatte beim Spülen schon eins zerbrochen.

«Ich werde es ihm sagen», erwiderte Magdalena und nahm sich noch ein Stück Brot. Das Geld dafür war nicht da, aber es

Sie beendete ihr Frühstück hastig, stand auf und warf einen Blick nach dem Spiegel über dem Kaminsims. Ihre weichen Locken hatte sie gleich nach dem Aufstehen streng im Nacken geknotet. Sie mochte diese Frisur nicht besonders an sich, weil es ihre Wangenknochen hervorhob wie der Schleier einer Nonne. Aber Alfred sagte, heraushängende Strähnen sähen aus wie gerade aus dem Bett gestiegen. Noch schlimmer fand er die modernen Kurzhaarfrisuren, weil sie das Haar offen ließen und Frauen zu Männern machten. Schade. Alle sagten, so ein Bubikopf würde ihr stehen.

Sie kam noch einmal zum Tisch zurück, um Ludwig über den Kopf zu streichen, und streifte dabei eines der Kristallgläser. Es fiel um, und die Milch ergoss sich über das Tischtuch.

«Was bist du nur für ein ungeschicktes, nutzloses Ding!», rief ihre Mutter. «Wir können von Glück sagen, dass Alfred so etwas geheiratet hat. Auch wenn ich nicht verstehe, was er an dir findet!»

«Entschuldigung. Ich hole ein Tuch.» Das Glas hatte einen Sprung. Stumm wischte sie die Milch auf.

Sie war froh, endlich aus dem Haus und hinüber in die Fabrik zu können. Auf der Straße war die Morgenluft noch frisch, aber sie fror nicht. Die Äpfel standen in voller Blüte, bald würden die Kastanien kommen. Die Zeit der Blüte währte nur so kurz. Wie bei Frauen. Noch immer sahen ihr die Männer nach, aber nicht mehr so viele wie früher. Sie war froh darüber. Anfangs hatte sie gedacht, es läge an ihrer konservativen Kleidung oder weil sie verheiratet war. Doch dann war ihr aufgefallen, dass es

Ein Mädchen mit schwarzem Bubikopf und kurzem, nur bis knapp über die Knie reichendem Kleid lief die Straße entlang. Sie trug knallroten Lippenstift und hatte sogar die Nägel lackiert. Ein junger Mann, der ihr entgegenkam, lächelte ihr freundlich zu, und sie erwiderte es.

Magdalena fühlte ein seltsames Gefühl des Neides. Eine unterdrückte Wut auf diese junge Frau, die sich so offen zeigte und dafür auch noch belohnt wurde, indem der junge Mann sie respektvoll behandelte. Sie selbst hatte die Freikörperkultur aufgegeben, weil Alfred sie unmoralisch fand. Er sagte, dass man eine Frau, die sich nackt zeigte, nicht respektieren konnte. Und dieses Flittchen kam damit durch! Sie blickte der jungen Frau nach, und die Missgunst bohrte hohl und dumpf in ihr wie ein Schmerz. Ob sie doch noch einmal über einen Kurzhaarschnitt reden sollten?

Als sie das Tor der Fabrik erreichte, hörte sie schon von draußen Alfred die Arbeiter anschreien: «Was ist das hier für ein Sauhaufen! Die Kundschaft wartet nicht, also bemühen Sie sich gefälligst um Disziplin, sonst können Sie Ihre Sachen packen! Gesindel wie Sie gibt es wie Sand am Meer, ich muss nur mit den Fingern schnippen!»

Magdalena trat durchs Tor. Auf dem Hof standen zwei Arbeiter, deren Namen sie nicht kannte, wie begossene Pudel neben dem Wagen. Die beiden Pferde warteten ergeben und kauten an einzelnen Grashalmen, die aus dem Pflaster wuchsen. Daneben stand ein Karren mit Malzsäcken, die noch nicht aufgeladen waren.

Alfred bemerkte Magdalena, und sein Ausdruck wurde milder. Er warf den Männern einen letzten wütenden Blick zu und

«Ich danke dir, dass du mir den Umgang mit den Arbeitern abnimmst», erwiderte sie. Das war die Wahrheit, sie hatte Angst vor ihnen. Und Alfred hatte schwere Zeiten hinter sich. Da konnte man bei dem säumigen Arbeiterpack schon mal die Beherrschung verlieren. «Herr Ganter kommt nachher. Ich werde im Kontor auf ihn warten.»

«Ich komme dazu.»

Magdalena sah ihn ernst an. «Er wird uns keinen neuen Kredit geben, solange wir den letzten nicht zurückgezahlt haben. Wenn er auf der sofortigen Rückzahlung besteht, könnte das das Ende der Firma sein.»

Alfred deutete einen Handkuss an. «Das wird es nicht, ich verspreche es dir. Geh nur, ich komme gleich.»

Magdalena hatte zwar keine Ahnung, was ihn so hoffnungsvoll stimmte, aber sie nickte. Zögernd ging sie ein paar Schritte, dann blieb sie noch einmal stehen. «Was meinst du, ob ich mir nicht doch einmal die Haare schneiden lassen sollte?»

«Habe ich eine Frau geheiratet oder einen Mann?», erwiderte Alfred angeekelt. Er fuhr sich mit beiden Händen über seine pomadegefestigte Frisur. «Ist das Clara, die dir das dumme Zeug in den Kopf setzt?»

Enttäuscht seufzte Magdalena. «Es tragen jetzt immer mehr Frauen die Haare so. Auch Bürgerliche, sogar Adlige.»

Alfred nahm ihre Hände. «Ich will dich doch nur beschützen, Liebste. Siehst du, Gleichheit ist eine Illusion. Männer sind nun mal, wie sie sind. Sie werden dich nur mit Respekt behandeln, wenn du sie nicht reizt. Frauen, die mit kurzen Haaren und in Hosen herumlaufen, müssen sich nicht wundern, wenn sie vergewaltigt werden.»

***

Die Fabrik war kleiner geworden, dachte Magdalena, als sie im Kontor saß und aus dem Fenster hinunterblickte. In den letzten Jahren hatten sie Gebäude und Grund verkaufen müssen, um das Überleben zu sichern. Die irrsinnige Inflation hatte das Vermögen der Bürger aufgefressen, das Einzige, was noch zählte, waren Sachwerte. Manche Menschen waren als reiche Leute zu Bett gegangen und am nächsten Morgen mittellos aufgestanden. Die Preise für Lebensmittel stiegen ins Unermessliche. Bauern bezahlten ihre Rechnungen mit Eiern, aber die waren ohnehin längst mehr wert als Geld. Banknoten besaßen kaum noch den Wert des Papiers, auf das sie gedruckt waren. Magdalena hatte zu spät erkannt, dass sie ihr Vermögen in Gold hätte sichern können. Als sie auf die Idee kam, hatte die Regierung bereits den Goldkauf verboten, sicherte die eigenen Reserven und überließ die Bürger ihrem Schicksal. So gehörten ihnen nur noch ein Teil des Hofs und das alte Hauptgebäude. In die anderen waren kleine Firmen eingezogen, aber auch Handwerker: ein Schreiner und ein Ziegelbrenner.

Unruhig sah sie auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Ganter war pünktlich, wenn es um sein Geld ging.

Es klopfte.

Er küsste die ausgestreckte Hand, statt sie zu schütteln. Ganter war ein traditioneller Mann. Magdalena bot ihm einen Platz an und wies auf das Wasser, das sie bereits eingeschenkt hatte. Für den wichtigen Besuch hatte sie sogar ein paar Stücke Kuchen auf den Tisch gestellt.

«Greifen Sie zu. Mein Mann kommt gleich, er hat noch in der Fabrik zu tun.» Sie ärgerte sich ein wenig, dass Alfred sie mit dem Gläubiger allein ließ. Wie sollte sie das Gespräch bewältigen? Er nahm sie doch nicht einmal ernst. «Wie geht es der Familie?», versuchte sie ein unverfängliches Geplauder zu beginnen.

«Danke der Nachfrage, vorzüglich. Aber ich bin nicht hier, um über die Familie zu reden. Ich will mein Geld zurück.»

Magdalena rang nach Atem. Früher war sie bei solchen Anlässen selbstbewusster gewesen. Warum hatte sie das Gefühl, dass jedes böse Wort sie zu einem hilflosen Kind machte? «Wir haben es beinahe …»

«Bedaure, gnädige Frau, aber ‹beinahe› ist nicht genug. Ich will es jetzt und ohne Abzug, dann können wir weiterreden.» Ganter verschränkte die Arme vor der Brust und rückte näher. Er beugte sich sogar ein wenig über ihren Schreibtisch.

«Wir erwarten demnächst die Abnahme einer größeren Menge …»

«Lassen Sie die Ausreden. Kein Geld, kein Geschäft.»

Magdalena presste die Lippen aufeinander. Egal, was sie sagte, ob ihre Argumente gut waren oder schlecht, er hörte ihr nicht einmal zu. Er war sich seiner Sache sicher, und nichts anderes zählte für ihn. Sie wünschte, sie hätte ihm ein ebensolches Selbstvertrauen entgegenzusetzen. Stattdessen fühlte sie sich

Ein Geräusch, sie fuhr zusammen. Die Tür öffnete sich.

«Herr Ganter», sagte Alfred kühl. Magdalena atmete auf. Er blieb in der Tür stehen, und ihr fiel auf, dass er einen schmalen Handkoffer trug. «Versuchen Sie, meine Frau einzuschüchtern?»

Ganter blies sich auf wie ein Puter und wandte sich an ihn. «Es geht hier nicht um Floskeln, Herr Bauer. Ich will mein Geld, und ich habe Ihrer Frau gesagt, ohne Geld verhandle ich nicht weiter.»

Alfreds Gesicht blieb unbewegt. «Nun, dann verstehen wir uns ja. Ich bin gekommen, um Ihnen Ihr Geld auszuzahlen. Hier ist es.»

Er kam herein, legte den Koffer auf den Schreibtisch und öffnete ihn.

«Zwanzigtausend. In Devisen, so wie Sie es wünschten.»

Ganter starrte ihn an – und Magdalena ebenso. Woher hatte Alfred auf einmal so viel Geld?

Alfred hob ein Bündel Scheine heraus und zeigte es ihm.

«Sie … scherzen», stotterte Ganter.

«Keineswegs. Sie wollen Ihr Geld, hier ist es. Nehmen Sie es, und dann setzen Sie sich, und wir reden über das Weitere.»

Magdalena fiel ein Stein vom Herzen. Sie hatte geglaubt, die Firma verkaufen zu müssen. Alfreds Gesicht war regungslos und verriet nichts. Vor allem nicht die Antwort auf die Frage: Wie war er an dieses Geld gekommen?

***

Zur gleichen Zeit betrachtete Clara misstrauisch Ferdinand Schwabinger, der dekorativ in dem hell bezogenen

Clara lehnte sich in den Ledersessel am Schreibtisch zurück. «Sie wollen ins Brucknerbräu einsteigen?»

Schwabinger lächelte charmant und entblößte eine perfekte Reihe geradezu unverschämt weißer Zähne.

Clara legte die Papiere auf der Schreibunterlage zusammen und betrachtete ihn forschend über den Stapel hinweg. «Sie wissen, dass ich so etwas nicht allein entscheiden kann.»

«Meine Liebe, natürlich. Aber vielleicht werden Sie ja bei Ihren verehrten Eltern ein gutes Wort für mich einlegen.» Er nippte an dem Cognac, den sie ihm hatte einschenken lassen. Es war der ihres Vaters, Katharina hatte ihn aus dem großen Schrank in der Bibliothek geholt. Von einer gelösten Zunge erhoffte sich Clara ein paar Antworten. Aber bisher hatte sie vor allem den Eindruck, dass er mit ihr hatte sprechen wollen, weil er dachte, dass man sie leichter beeinflussen könnte als ihre Eltern.

Sie versuchte, seinem Lächeln auszuweichen, und tat, als würde sie die Zeitungen mit dem aktuellen Klatsch auf dem Schreibtisch studieren. Minister soll Affäre mit Soubrette Tilda DuCourt haben, las sie. Und: Lenkt neuerdings eine Soubrette den Stadtrat? Tilda DuCourt war der aufgehende Stern des Varieté im Frankfurter Hof, sie hatte schon von ihr gehört. Es hieß, ihr richtiger Name sei Mathilde Hofer. Schade, dachte Clara. Wenn

«Sehen Sie, ich plane da ein paar ganz reizende neuartige Dinge», erinnerte Schwabinger sie wieder an seine Anwesenheit und sein Anliegen. «Was denken Sie zum Beispiel über ein Prinzregent-Luitpold-Bier?»

«Wie bitte?» Clara blickte auf. Eigentlich hatte sie dieses Jahr zum ersten Mal mit ihrem Malzbier aufs Oktoberfest gewollt.

Er erhob sich und blickte durch das rosenumrankte Fenster hinab in den Garten, wo die letzten zarten Nebelschleier von der Sonne aufgesogen wurden. «Ja, oder gar ein Märchenkönigsbier! Denken Sie nur, wie romantisch!»

Clara hob die Brauen. «Es könnte Fragen aufwerfen, wie fest die Brauerei auf dem Fundament der Demokratie steht.»

Schwabinger nippte erneut am Cognac. Offenbar fand er seine Zustimmung, das Glas war fast leer. «Ach, Liebe. Machen Sie sich doch nicht lächerlich.»

«Nun, es gibt Leute, die munkeln, Sie würden monarchistische Umtriebe finanzieren. Sogar solche, die meinen, Graf Arco habe bei seinem Mord an Eisner nicht allein gehandelt.»

«Du meine Güte, Sie wissen doch, die Leute reden. Glauben Sie doch nicht jedes Gerücht!» Aber obwohl er ein wenig die Augen verdrehte, sah er nicht sie dabei an, sondern ließ den Rest Cognac im Glas kreisen, während er die Goldnuancen im Licht betrachtete.

«Sie sind in derselben Studentenverbindung wie Arco.»

Schwabinger schenkte ihr einen Augenaufschlag von der Seite. «Das können Sie mir nicht zum Vorwurf machen. Ich habe vor ihm studiert.»

«Die Rhaetia gilt als monarchistisch.»

«Nostalgie, Liebes.»

«Sie wollten, dass ich ihn im Gefängnis aufsuche.»

«Nun», meinte er mit einem gewinnenden Lächeln. «Ein Geschäftsmann muss auf alles vorbereitet sein. Damals war eine Rückkehr der Monarchie durchaus denkbar. Seine Majestät – hm – Ludwig von Bayern, meine ich – hat nie offiziell abgedankt.»

Die Art, wie er den verräterischen Königstitel schleunigst durch den bürgerlichen Namen ersetzte, trug jedenfalls nicht dazu bei, Claras Misstrauen auszuräumen. «Und was war vor vier Jahren? Als Ludwig III. starb und gemunkelt wurde, sein Sohn Rupprecht würde den Thron anlässlich der Beerdigung beanspruchen? Es war geradezu ein Staatsbegräbnis, das man für das Königspaar abhielt, sogar mit Guglmännern. Wie viele solche Kapuzen liefen hinter dem Sarg her, waren es vierzig? Wer sagt mir, dass nicht auch Sie damals unter einer davon steckten und Rupprecht inthronisieren wollten?»

«Jetzt hören Sie aber auf!» Schwabinger zog die Brauen zusammen und verzog die vollen Lippen zu einer beleidigten Schnute. «Ich bin Geschäftsmann. Ich wollte wissen, woran ich bin, damals wie heute.»

Und genau das ist der beste Grund, in die Dinge einzugreifen, dachte Clara. Am leichtesten wettet es sich schließlich auf Karten, die man selbst gezinkt hat.

«Sie sollten es sich überlegen», meinte Schwabinger. «Wie Sie wissen, ist das Oktoberfest die letzten Jahre wegen der Inflation wieder ausgefallen. Sie könnten es gut brauchen, nicht wahr?» Er kam dicht an den Schreibtisch heran und beugte sich ein wenig zu ihr. «Also, Liebes, verscherzen Sie es sich nicht mit dem Mann, der es finanzieren kann.» Und lächelte dabei, als könne ihn kein Wässerchen trüben.

Du hinterfotziger Mistkerl!, dachte Clara und verfiel damit

***

Als Katharina die schwärenden Außenbezirke von Obergiesing erreichte, war es bereits dunkel. Kohlenstaub hing in dichten Wolken in den engen Straßen, und Männer hockten mit Flaschen voll Bier oder Schnaps in den Hauseingängen. Milchig erhellten Straßenlaternen das Pflaster, Abschnitte des Lichts in der Dunkelheit, unerfüllte Versprechen.

Als sie die Tür des Arbeiterhäuschens aufstieß, ein in ein Tuch geschlagenes Brot unter dem Arm, rief das Lieserl: «Mutter!»

Sie rannte ihr entgegen. Es war so gut, die Kleine endlich laufen zu sehen, dass es Katharina nicht störte, wie sie das Bein nachzog. Das Gesichtchen war kohleverschmiert, und die kleinen Ärmchen, die sich um ihren Nacken legten, dünn. Aber es ging ihr gut.

Anna kam vom Herd herüber. «Ich hab die Suppe fast fertig.»

Es duftete nach Markknödelsuppe. Katharina umarmte ihre Große und den Buben. «Geht’s euch gut? Habt ihr eure Hausaufgaben gemacht?»

Die Kinder nickten eifrig. «Ich hab aufgepasst», versicherte Anna.

«Ja. Setz dich nur, Mutter.»

Anna war so erwachsen mit ihren gerade mal fünfzehn Jahren, dachte Katharina traurig. Das schmale Gesicht mit dem ordentlich zum Knoten gewundenen braunen Haar, die Schürze vor dem Kleid, unter dem sich zarte, kleine Brüste abzeichneten. Sie hätte ihr so gern eine Kindheit gegönnt, eine Schule. Aber mit den Kindern hätte sie keine Stellung in einem so guten Haus bekommen. So blieb ihr nur der eine freie Tag in der Woche, um bei ihnen zu sein, und den Rest musste die Älteste übernehmen. Wenigstens sah die Nachbarin ab und zu nach ihnen.

«Ich hab Geld für euch», sagte Katharina und reichte Anna den Umschlag. Ihre Tochter steckte ihn in die Tasche ihrer Schürze. Dann deckte sie den grobgezimmerten Tisch: einfache Teller aus Steingut und Löffel für die Suppe.

Katharina schnitt das frische, noch warme Brot, das sie mitgebracht hatte, in dicke Scheiben. Anna stellte den dampfenden Topf in die Mitte, und hastig griffen die Kinder zu.

«Mutter, warum kannst du nicht bei uns wohnen?», fragte das Lieserl und sah so nachdenklich aus, dass Katharina der Bissen im Hals stecken blieb. «Hast du uns nicht lieb?»