Der Arm der Freiheitsstatue reckte sich in die vom Sturm zerfetzten Wolken. Wie hungrige Pilze schossen die Hochhäuser am Ufer von Manhattan aus dem Wasser, als hätte eine Eruption gierige Lavaströme nach oben geschossen, die, kaum an der kühlen Luft, zu Säulen des Kapitalismus erstarrt waren. Automobile bevölkerten noch spät abends die Straßen, gelbe Taxen, die sich in Scharen drängten wie eine Herde fahler Rinder. Streiflichter irrten durch die schluchtenartigen Straßenzüge, Kinoreklame blitzte in ihrem Schein auf – Rudolph Valentino lächelte der Damenwelt sein transsylvanisches Lächeln. Eine funkelnde Reihe von Theatern markierte den Broadway. Lachen schrillte durch die Nacht, abgerissene Fetzen Musik, die der Wind weitertrug. Fenster, Tausende kleiner gelber Punkte in der Nacht, lauernde Augen, die alles sahen.
Dennoch gab es in New York Plätze, an die deren suchende Strahlen nicht drangen. Verschwiegene Orte, über die man nicht sprach. Verborgen in Kellern, hinter verbotenen Türen, erreichbar nur durch geflüsterte Worte, halblaut gehauchte Namen, verstohlen in den Taschen klingelnde Münzen.
Speakeasy – «Flüsterkneipe» nannten die New Yorker jene Orte, wo es alles gab, was draußen verboten war: Charleston, nackte Leiber und natürlich vor allem Alkohol.
Ein Mann in einem hellen Trenchcoat sprang aus dem Taxi und betrat einen winzigen, vollgestellten Tabak- und Pfeifenladen in der engen Seitenstraße. Regenpfützen standen auf dem bröckelnden Pflaster und in den Kellereingängen, auf Treppen hinter Eisengeländern lagen Müllsäcke. Er nannte einen Namen, und die Hintertür wurde geöffnet. Es ging durch einen schmalen, fensterlosen Flur ins Nachbarhaus. Eine zweite Tür tauchte hinter einem scharfen Knick des Flurs auf. Der Besucher wiederholte den Namen und erhielt Einlass.
Hinter der Tür schlug ihm laute Musik entgegen, ein Geruch von Tabak, Alkohol, Schweiß und Parfüm. Ein hoher, zweistöckiger Raum öffnete sich. Überall standen Tische, übervoll mit Flaschen und Gläsern, Theken mit glitzernden Pyramiden aus Champagnergläsern und Schnaps. Hinter mit schweren Vorhängen abgetrennten Séparées hörte man das schrille Lachen von Prostituierten. Flachmänner lagen unter Tischen, die ihren betrunkenen Besitzern aus der Hand oder Tasche gefallen waren. Unterhalb der Empore spielte eine Kapelle einen Charleston. Tänzerinnen in knappen Kostümen schwangen die Beine. Funkelnde Stoffe fegten durch die Luft, Strumpfhosen mit Nähten, die die Rückseite des Beins längs hinabliefen, Glitter, Federn in strassbesetzten Stirnbändern und wirbelnde Fransen stürmten ein auf Augen und Ohren, peitschten Eindrücke in die Netzhaut wie ein Vulkanregen.
René stand mit dem Rücken zur Bühne an der Bar, über der in Leuchtschrift der Name «Lethe» prangte. Passend, der Quelle des Alkohols den Namen des Flusses zu geben, der in der griechischen Mythologie das Gedächtnis der Verstorbenen löschte. Er zog die Uhr aus der Westentasche. Eric hatte versprochen, um elf hier zu sein, und es war Viertel nach. Gewöhnlich war er pünktlich, vielleicht hatte ihn etwas aufgehalten. Schießereien auf der Straße gab es immer wieder. Der heimliche Alkoholhandel war fest in der Hand von Kriminellen und der Markt umkämpft.
Als René vor über fünf Jahren als Auslandskorrespondent angefangen hatte, war Eric einer der ersten gewesen, zu dem er Vertrauen gefasst hatte. Er war bei der größten Nachrichtenagentur des Landes, und viele Informationen waren von ihm gekommen. René war dankbar gewesen, dass ihm jemand half, Fuß zu fassen. Er hatte es sich nicht so schwer vorgestellt. Vielleicht war es das, was Max Weber die «protestantische Ethik» genannt hatte, das die Gesellschaft hier ausmachte: Reichtum wurde sofort investiert, weil es im Grunde peinlich war, ihn zu sehr zu zeigen. Die ständige Zufuhr an frischem Geld trieb das Mühlrad des Kapitalismus an. Wenn man fremd war, war es nicht leicht in einer Welt, in der alles an materiellen Dingen gemessen wurde. Aber er war hartnäckig gewesen, und es hatte sich gelohnt.
Eine junge Frau lächelte ihm zu. Sie trug einen blonden Bubikopf mit einem Stirnband, in das sie Pfauenfedern gesteckt hatte. Ihr zartgrünes Kleid war mit glitzernden Steinen besetzt, und sie schloss die dunkelrot geschminkten Lippen um eine lange, schmale Zigarettenspitze. Er lächelte zurück. Aber als sie näher rücken wollte, zog er sein in abgewetztes Leder gebundenes Notizbuch aus der Jackentasche und begann, darin herumzukritzeln. Warum tue ich das?, fragte er sich. Idiot.
Das Mädchen schlug die Beine übereinander und zeigte ein Paar hochhackige Riemchenschuhe aus Krokoleder. Der Hauch eines französischen Parfüms wehte herüber, als sie den Rock übers Knie hochschob und eine kleine Flasche aus ihrem Strumpfband zog. Sie winkte dem Barmann, sie mit Schnaps zu füllen. René grinste verstohlen. Jeder besaß hier so eine Notration, und es war der Mode zu danken, dass unter den kurzen Glockenröcken Platz für diese ganz unparadiesische Sünde war.
«Na? Wieder beim Studium der Prohibition?», sprach ihn jemand von hinten an. «Oder schafft es deine Münchner Abstinenzlerin doch noch aus der Ferne, dir die Lust zu vergällen?»
Eric. Sein Hut und die Schultern seines Trenchs waren feucht, offenbar hatte es zu regnen begonnen. Doch das straff gescheitelte blonde Haar mit den einzelnen grauen Strähnen war trocken geblieben, schlimm konnte es nicht sein. Ächzend befreite Eric seinen korpulenten Bauch von dem Mantel.
René verzog einen Mundwinkel. «Niemand kann mir etwas vergällen.»
«Ich habe deinen letzten Artikel gelesen.» Eric grinste. «Du schreibst, die Prohibition macht uns zu Alkoholikern.» Wie zur Bestätigung winkte er dem Barkeeper und bestellte einen Manhattan.
René hob die Brauen. «Was verboten ist, wird interessanter. Und wer heimlich trinken muss, tankt eben gleich auf Vorrat, weil er nie weiß, ob er morgen wieder etwas bekommt. Aber du wolltest mich sicher nicht wegen meiner Arbeiten sehen und vermutlich auch nicht, um Wetten abzuschließen, wer der nächste Sieger im Preisboxen wird.»
«Warum nicht? Gene Tunney könnte der nächste Weltmeister im Schwergewicht werden. Triumph der Technik über die rohe Stärke, das müsste dir doch gefallen.»
«Du denkst, er hat eine Chance gegen Dempsey?»
«Warum nicht? Dempsey ist auf dem absteigenden Ast, und Tunney hat sogar Georges Carpentier geschlagen. Das war immer der, dem die meisten Chancen eingeräumt wurden, Dempsey abzulösen.»
Der Barkeeper schaufelte Eis in den Shaker, schüttelte ihn und stellte Eric seinen Stammdrink hin. Diese Mixgetränke zu trinken, hatte man sich in New York angewöhnt. Schnaps war stärker als Wein oder Bier und leichter zu schmuggeln. Die Cocktails trugen farbenfrohe Namen wie Blue Moon oder Cosmopolitan.
Eric zog seinen Manhattan heran, kramte in seiner Tasche und förderte einen fleckigen Umschlag zutage. «Ehe ich’s vergesse, ich habe deinen Chefredakteur getroffen. Das hier soll ich dir geben.»
René stellte seinen Drink zur Seite und nahm den Brief entgegen. Eine Kündigung war es sicher nicht, und alles andere war ihm egal. Er öffnete den Umschlag.
Eric sah ihn an, als er das Schreiben langsam sinken ließ.
«Was ist?»
Wortlos schob ihm René das Papier über die Theke.
Eric las und blickte auf. «Sie rufen dich nach München zurück?»
René sah ihn an. Etwas fühlte sich auf einmal schwer an.
In den letzten Jahren hatte er Clara vergessen wollen. Er hatte sich in sein neues Leben gestürzt, weit entfernt von ihr. Doch das Überqueren eines stygisch funkelnden Ozeans hatte nicht genügt, um sein Gedächtnis zu löschen.
Eric legte ihm die Hand auf die Schulter. «Erinnerungen?»
René nickte stumm. Auf einmal stürmten sie auf ihn ein und überwältigten ihn. Clara an jenem sonnigen Tag an der Isar, mit nackten Beinen im Wasser balancierend. Am Würmsee, als sie ihn geküsst hatte. Im Tropenhaus. Er atmete tief durch.
«Wirst du es tun?», fragte Eric.
René blickte zweifelnd auf. «Ich weiß nicht.»
Ein Teil von ihm wollte die Vergangenheit zurückholen. Er sehnte sich nach ihrem Lebensmut. Nach ihren bissigen Kommentaren, hinter denen ganz plötzlich eine Verletzlichkeit zu spüren war, die ihn überwältigte. Es war so stark, dass es kaum auszuhalten war. Aber er wusste auch, wenn er sich der Angst, sie zu verlieren, noch einmal aussetzte, konnte es ihn vernichten. Er, der sich leichtfertig in jedes Abenteuer stürzte, fürchtete nichts so sehr wie seine eigenen Gefühle.
Sechs Tage auf dem Ozean lagen zwischen ihnen. Nur sechs Tage.