In München war zwar nicht der Alkohol verboten wie anderswo. Doch auch hier gab es manche Dinge nur hinter verschlossenen Türen. Die hiesigen Tabus waren nicht so leicht zu brechen wie durch einen Flachmann im Strumpfband. Offen beworbene Bordelle, schreiende Varieté-Reklame und sonstige Attraktionen, mit denen man frömmelnde Nönnlein hätte verschrecken können, suchte man hier vergeblich. Darauf legten die angesehenen Bürger auch Wert. München war schließlich nicht die Hure Berlin. Doch so, wie der Alkohol in New York hinter der Fassade harmloser Läden ausgeschenkt wurde, fand jeder, der sich an der Isar für die Verderbnis der Sitten interessierte, das Gewünschte hinter der Fassade eines Bierlokals.

Der Frankfurter Hof in der Schillerstraße gab sich nach außen gutbürgerlich: ein Hotel mit Steinpfeilern, Holztüren und kleinen Fenstern, Bierwerbung in altdeutscher Schrift auf Tafeln. Doch drinnen lag die wichtigste Singspielhalle der Stadt. Der Inhaber, Josef Durmer, galt als großer Anhänger von Karl Valentin und hatte die Volksbühne ins Leben gerufen. Hier war der berühmte Komiker groß geworden. Hier hatte auch Liesl Karlstadt als Soubrette angefangen, ehe Valentin sie entdeckt und zu seiner Partnerin gemacht hatte. Wer tanzende Frauenbeine in durchsichtigen Strümpfen und hohen Schuhen, grelle Flitterkostüme und wenigstens einen Hauch dessen sehen wollte, was gerade in New York oder Paris in Mode war, wurde hier fündig.

Die Attraktion des heutigen Abends war Tilda DuCourt. Ihr Name war Clara wieder eingefallen, nachdem sie mit ihren Eltern über Schwabinger gesprochen hatte: die Varieté-Soubrette, die angeblich eine Affäre mit einem der wichtigsten Männer der Stadt unterhielt. Die meisten Leute schienen ihretwegen hier zu sein. Auch Clara, die bereits einen Wurstsalat gegessen und ein Glas Wasser getrunken hatte, wurde allmählich ungeduldig.

Die Bühne war abwechselnd Zirkus, Theater und Tanzboden. Immer wieder warf Clara amüsierte Blicke zu ihren Nachbarn, wenn eine alte Dame entsetzt nach Luft schnappte oder ein Herr die Augen aufriss, als würde er zum ersten Mal im Leben Beine sehen. Zu Klängen, die für die meisten Münchner viel zu amerikanisch waren, turnte eine Akrobatin hoch oben an einem Gerüst. Belustigt dachte Clara daran, wie sie wegen eines weit weniger freizügigen und vor allem dezenter gefärbten Badeanzugs noch vor wenigen Jahren hier auf der Wache gelandet war. Dieses Kostüm war weit ausgeschnitten, hatte Fransen statt eines Röckchens und funkelte und glitzerte, dass einem schier schwindlig wurde. Dazu warf die Akrobatin beim Hin-und-her-Schwingen ihre Beine, sodass Kostüm und hochhackige Silberschuhe wie Feuerwerk durch die Luft flogen und der Gendarm von damals einen Herzanfall bekommen hätte. Danach tanzte eine Männergruppe in Frack und Zylinder einen Stepptanz,

Der Kneifer des Herrn an Claras Tisch rutschte immer weiter nach vorn auf die Nase, und der Besitzer folgte ihm. Seine Gattin betrachtete ihn misstrauisch von der Seite. Irgendwann rammte sie ihm den Ellbogen in die Rippen, doch als die Tänzerinnen anfingen, ihre Beine in schwindelerregende Höhe zu werfen, kippte er tatsächlich nach vorn. Der Kellner half ihm auf die Beine und stellte neuen Champagner auf den Tisch. Das beruhigte immerhin die Gattin. Mit einem entschuldigenden Blick nahm der Herr sein Glas und schob Clara das dritte hinüber.

Ach, sei’s drum, dachte sie und nahm es.

Die Revuemädchen bildeten auf einmal eine Gasse, und alle Scheinwerfer richteten sich auf deren Ende. Eine Schaukel senkte sich langsam auf die Bühne, auf der eine Frau in einem langen silberglänzenden Kleid saß. Eine weiße Federboa umgab ihren Hals, das blonde Haar war zu einer Wasserwelle gelegt, in der ein Stirnband glitzerte. Das Kleid war auf einer Seite bis hinauf zur Hüfte geschlitzt, sodass man das Bein sah, das sie anmutig nach oben reckte.

Der Herr neben Clara verschüttete seinen Champagner, und im letzten Moment konnte sie sich durch schnelles Zurückrutschen in Sicherheit bringen.

«Tilda DuCourt!», flüsterte jemand.

Die Frau sprang von der Schaukel und fing an zu singen. Es waren kurze, ein wenig frivole Liedchen. Ihre Stimme war zwar nicht gerade die einer Operndiva, aber für die pikanten Texte genau richtig: tief und ein wenig rauchig, was zu ihrem Kostüm mit der Federboa hervorragend passte. Immer wieder stellte sie frech das Bein in den Schlitz.

Clara hatte sich lange überlegt, was sie tun konnte, um

Die Soubrette sang einige Couplets und tanzte zuerst allein inmitten der Revuemädchen, dann umgeben von einem Schwarm männlicher Tänzer im Frack. Dann warf sie das lange Kleid ab, und ein Raunen ging durch die Herrenwelt, ein verlegenes Kichern wie bei einem Ministrantenausflug. Unter dem Kleid trug sie silbern funkelnde Unterwäsche. Sie tanzte weiter, und dann zog sie sogar noch das Oberteil aus und entblößte zwei funkelnde Sterne, die auf den nackten Brüsten klebten. Das Ächzen einiger Damen war zu hören, von den Männern hörte man nichts mehr – vermutlich stand ihnen der Mund offen. Mehrere Tänzer hoben sie gemeinsam hoch und trugen sie in die Mitte der Bühne. Dort bildeten sie eine Art Turm, mit ihr an der Spitze. Dann fielen ein paar Schlingen aus farbigen Bändern von der Decke. Tilda stieg anmutig hinein und wurde nach oben gezogen.

Wie die Jesusstatue in der Kirche zu Christi Himmelfahrt!, dachte Clara. Halleluja! Sie beschloss, dass sie genug gesehen hatte, und stand auf.

Auf dem Weg hinaus überlegte sie, wie sie es anstellen konnte, Tilda persönlich ihr Anliegen vorzutragen. Schwabinger hätte einfach mit einem Bündel Geldscheine gewedelt, und schon hätte er alles bekommen, was er wollte. Warum sollte sie nicht einmal dasselbe versuchen? Sie war kein kleines Mädchen mehr, sondern eine erwachsene Frau mit einem abgeschlossenen

«Sagen Sie, wo kauft Fräulein DuCourt eigentlich diese wunderschönen Kleider?», fragte sie harmlos und wedelte mit dem Schein.

Der Mann riss die Augen auf. «Im Salon Grieshammer. Ludwigsstraße.»

Das war ja leicht gewesen. Du meine Güte, dachte Clara. Sind alle Leute so schnell zu kaufen? Deprimierend.

«Und wann, meinen Sie, könnte man sie dort antreffen?», fragte sie und zückte einen weiteren Schein.

Dem Burschen fielen fast die Augen heraus. «Also, ich weiß, dass sie übermorgen hinwill. Um vier hat sie einen Termin. Ich hab den Anruf für sie gemacht.» Er wollte nach dem Geld greifen, aber Clara steckte es mit ihrem schönsten Lächeln in den Ausschnitt und knöpfte den Mantel zu. «Danke, mein Lieber.»

***

Tatsächlich war Tilda im Salon, als Clara am nächsten Tag um zehn Minuten nach vier durch die Glastür der Schneiderin trat. Sie thronte beim Sekt in einem der eleganten Sessel aus dunklem Kirschholz. Um sie herum standen wie eine leblose Entourage mehrere Schneiderpuppen, angetan mit waghalsigen Kreationen, aus denen Stecknadelköpfe ragten wie die Pfeile aus dem heiligen Sebastian in der Kirche. Tilda trug einen nur knapp über die Knie reichenden beigefarbenen Rock, Strümpfe mit Naht und Pumps. Darüber hatte sie eine weiße Seidenbluse, eine leichte, gerade geschnittene Jacke und eine lange Perlenkette angelegt. Auf dem blonden Bubikopf saß ein ebenfalls beigfarbener Topfhut.

«Federn?», fragte sie gerade und hielt ein Bündel Pfauenfedern an das Hinterteil, als das Klingeln der Türglocke Claras Eintreten ankündigte.

Tilda DuCourt lachte. «Wie ein Pfauenrad an meinem Allerwertesten?» Ihre Stimme war tatsächlich so rauchig wie auf der Bühne, es hörte sich an, als hätte sie ihre Kindheit in einem Dragonerregiment verbracht. Sie war jung, aber sicher keine siebzehn mehr. Mitte, Ende zwanzig, schätzte Clara. Und ganz offensichtlich hatte sie schon einigen Sekt getrunken, zumindest, wenn die Flasche eigens für sie geöffnet worden war.

Beide blickten auf, als Clara eintrat. Sie grüßte höflich.

«Mein Name ist Clara Bruckner. Ich bin das erste Mal hier, aber Sie kennen meinen Namen vielleicht von unserer Brauerei. Ich hätte gern einen Termin.» Eigentlich war es nicht ihre Art, gleich aller Welt auf die Nase zu binden, dass sie eine Brauerei besaß, aber sie durfte nicht riskieren, abgewiesen zu werden. Fräulein Grieshammer verschwand im hinteren Teil des Salons, wo sich neben einem Paravent eine Theke befand. Sie suchte nach dem Kalender.

Clara blickte sich scheinbar beiläufig um und tat, als würde sie Tilda erst jetzt erkennen. «Lieber Himmel, sind Sie Tilda DuCourt?»

Die Soubrette prostete ihr geschmeichelt zu.

«Ich habe Ihre Vorstellung gesehen», sagte Clara. «Die Männer lagen Ihnen zu Füßen, und das meine ich wörtlich – sie fielen schier um, weil sie die Hälse so verdrehten.»

Tilda DuCourt lachte schallend. «Sie sind amüsant,

«Das klingt vernünftig. Was für Staaten gilt, sollten auch wir Frauen uns zu Herzen nehmen.»

Tilda lachte erneut und wies auf den Sessel an ihrer Seite.

Die Schneiderin kam mit dem Kalender zurück. «Nächsten Dienstag, Fräulein Bruckner? Um zehn?»

«Wunderbar. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich mich noch einen Moment umsehe? Natürlich nur, wenn ich nicht störe.»

Die Schneiderin sah ihre Kundin an, und die nickte. «Machen Sie nur, Kindchen, Sie können einen neuen Stil vertragen.»

Clara sah an sich herunter. «Meinen Sie?»

Tilda stand auf. Sie nahm die Zigarettenspitze, die neben ihr gelegen hatte, kam herüber und musterte Clara. «Ja, sicher. Sie sind jünger als ich, liebe Zeit. Sie sollten sich auch so kleiden.»

Clara wollte sich in ein Räuspern retten, aber nicht einmal das gelang ihr. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich nichts aus Mode und Schmuck gemacht. Eigentlich war sie nicht hier, um sich neu einzukleiden.

Jetzt hast du die Chance, sie kennenzulernen!, sagte ihre innere Stimme. Sei nicht albern. Lass sie dich bemuttern, niemand zwingt dich, es hinterher auch anzuziehen. Das Oktoberfest für den Preis eines neuen Complets – das wäre das beste Geschäft deines Lebens.

«Was würden Sie denn empfehlen?», fragte sie.

Tilda DuCourt strahlte sie an. «Kindchen, Sie schickt der Himmel. Ich habe mich so gelangweilt, aber jetzt habe ich eine wunderbare Idee!» Sie rief die Schneiderin herbei. «Warum bis Dienstag warten? Ich nehme das Kostüm, Fräulein Grieshammer, von mir aus polstern sie mir den Hintern mit den Federn, aber lassen Sie sie glitzern. Und nun kommen Sie, wir zaubern ein neues Fräulein Bruckner!»

«Offenbar werden Sie nicht so recht braun», meinte Tilda und zeigte auf Claras Unterarme, die unter dem kurzärmligen Kleid zu sehen waren. «Aber es wirkt nicht kränklich. Suchen Sie etwas, das zu ihrem hübschen hellen Teint passt.» Sie legte ihre Hand auf Claras Arm und flüsterte: «Ich wähle auch immer die Kostüme für meine Tänzerinnen aus. Sie machen sich keine Vorstellung, was man in Berlin heutzutage auf der Bühne sehen kann! Und Sie, Liebes, werden meine neueste Kreation!»

Clara riss die Augen auf, aber Tilda hatte ihr schon Sekt eingeschenkt, und es blieb ihr nichts übrig, als einen Schluck zu trinken.

Die Schneiderin brachte einen Berg Stoffe. «Am besten sehen wir erst einmal, welche Farben Fräulein Bruckner stehen. Oh, ich sehe schon: Grün, ein zartes Violett oder Aprikosengelb. Eierschalweiß, Meerblau und vermutlich fast alle Arten von Rot.» Sie legte Clara mehrere Stoffe um den Hals und musterte sie. «Ja, bis auf das Feuerrot, das ist zu grell.»

«Rot? Ich habe noch nie Rot getragen.»

«Keine Sorge, diese Saison müssen Sie das auch nicht. Zarte Farben liegen in der Luft, wie Sommerblumen und Frühlingshimmel. Allenfalls werde ich Ihnen ein leichtes Rosé … Nein, lieber nicht.» Die Schneiderin legte ihr noch mehr Farben um, dann nickte sie. «Gut. Was schwebt Ihnen denn vor?»

«Sie sehen ja, wo Bedarf besteht», meinte Tilda. «Der Saum ist zu lang, die Taille zu mittig, und sie braucht dringend Strümpfe mit einer gutsitzenden Naht.»

Clara stand auf und ließ sich ausmessen. Sonst war es ihr peinlich, aber Tilda hatte eine so überschäumende Art, dass sie sich auf einmal richtig gut fühlte. Sie bekam selbst Lust, sich

Die Schneiderin legte ihr das Maßband um den Bauch. «Dabei haben Sie so eine hübsche Figur. Schlanke Beine, da brauchen Sie die richtigen Strümpfe, in denen man sie auch sieht. Heutzutage zeigt man, was man hat.» Fräulein Grieshammer legte das Maßband weg und holte eine Schachtel mit Strümpfen. Clara wühlte ein wenig unentschlossen darin, aber Tilda fand innerhalb von Sekunden ein Paar.

Clara griff nach den seidenen, fast durchsichtigen Gespinsten. Sie hatte beinahe Angst, sie durch eine falsche Bewegung zu zerreißen. Hinten, längs der Schenkel, verlief die dunkle, deutlich sichtbare Naht. «Das betont die Beine», sagte sie verlegen. «Irgendwie habe ich das Gefühl, als ob ich selbst nackt weniger zeigen würde.»

«Ja, und genau so soll es auch sein», meinte Tilda trocken. «Probieren Sie sie mal. Fräulein Grieshammer, haben Sie ein hübsches Sommerkleid da?»

Die Schneiderin brachte ein veilchenblaues Kleid aus einem weichen Stoff. Es hatte gar keine Ärmel, sondern nur Träger, und war gerade und schlicht geschnitten. Unten am Rockteil wurde es weiter und öffnete sich glockenförmig.

«Aus Crêpe de Chine, im neuesten Schnitt aus Paris. Diesen Sommer können wir größere Schritte machen. Das passt zu Ihren hübschen großen Augen», meinte Fräulein Grieshammer. «Ziehen Sie es in Ruhe hinter dem Paravent dort an, und auch die Strümpfe. Wenn Sie fertig sind, stecke ich es ab.»

Als Clara ihr eigenes Kleid abstreifte und das zarte Fähnchen anzog, kam sie sich auf einmal gut vor. Das hätte sie schon viel früher machen sollen. Vermutlich hatte sie einfach niemanden gehabt, der sie begleitet hätte. Magdalena war die reinste

«Oh, là, là! Was für eine Verwandlung!» Tilda stellte ihren Sekt ab. Während Fräulein Grieshammer an Taille und Saum Stecknadeln in dem Kleid befestigte, um es später auf Claras Maße zurechtzuschneidern, half ihr Tilda, die Naht an den Strümpfen geradezurücken. Eine Wolke von Chanel No 5 und Alkohol wehte hinauf.

«Ich würde Sie ja zu gern zu einer Kurzhaarfrisur überreden», meinte sie und hob Claras lockeren Haarknoten. «Aber für den Moment ziehen Sie einfach vorn ein paar Strähnen aus dem Dutt. Sie brauchen einen von diesen modischen Topfhüten, das wird Sie etwas frecher aussehen lassen. Haben Sie eine Perlenkette?»

Clara lachte. «Schon, aber ich trage sie nie. Ich würde nur mit den Händen hineingeraten und sie zerstören. Aber vielleicht kann ich mir einmal eine Wasserwelle legen lassen.»

Tilda klemmte Claras vordere Strähnen seitlich am Kopf zwischen zwei Finger. Fachmännisch betrachtete sie sie, während die Zigarettenspitze in ihrem Mundwinkel klemmte. «Ja, das sollten Sie. Es wird Ihnen stehen.»

Clara musterte Tildas kurzen Bubikopf, der vorn etwas länger war, sodass genug Haar für die beliebte Welle blieb. «Zu wem sollte ich dafür gehen, was meinen Sie?»

Tilda ließ Claras Strähnen los und zog an ihrer Zigarette, um sie beiläufig in den schweren Aschenbecher auf dem Tisch zu klopfen.

«Auf jeden Fall zum Salon Hammer. Das ist in der Türkenstraße. Sie schminken auch und lackieren die Nägel.»

Mit etwas Glück würden ihre Eltern ja bald dafür sorgen, dass harte ausländische Währung ins Haus kam. Sie hatte jetzt

Die Schneiderin drehte den Spiegel zu ihr, sodass sie sich ganz sehen konnte.

Tilda hatte vorn zwei Strähnen aus Claras Dutt gezogen. So wirkte die Frisur lockerer. Das Veilchenblau des Kleides brachte ihre großen blauen Augen zum Strahlen. Ihr Teint wirkte gesund und glatt, und der gerade Schnitt ließ ihre Figur schlank und sportlich erscheinen.

«Es ist wunderbar!», rief Clara. Sie drehte sich zur Seite, und jetzt konnte sie die Nähte der Strümpfe erkennen, die senkrecht an der Rückseite ihrer Unterschenkel herabliefen. Ansonsten sah es aus, als wären ihre Beine nackt, so dünn war der Stoff. Wenn René sie in diesem Kleid sehen könnte …

«Was ist denn, Sie wirken auf einmal so traurig.»

«Nichts.» Clara lächelte. «Ist die Naht nicht zu auffällig?»

«Ach was. Es ist kein männliches Privileg mehr, aufzufallen und attraktiv zu sein, Kindchen. Sie sehen großartig aus, und das ist heutzutage auch Ihr gutes Recht. Haben Sie schon einmal ein Stirnband getragen? – Holen Sie welche, Fräulein Grieshammer! Nehmen Sie eine passende Seide oder Schwarz. Und eine Feder.»

Die Schneiderin kramte in ihren Schränken und förderte eine zweite Schublade zutage. Clara hatte auf einmal Spaß daran, ein passendes Band zu suchen. «Schwarz oder Blau, was meinen Sie?» Sie hielt die Bänder an ihr Haar und meinte: «Ach, und wenn schon. Ich liebe Schwarz.»

Die Schneiderin band es ihr um. «Ich kann Sie auch ein wenig schminken, wenn Sie mögen», meinte sie.

Wenn ich noch eine halbe Stunde hier verbringe, um diese Tilda zu beschwatzen, komme ich hier heraus wie Clara Bow, dachte Clara. Aber eines steht fest: Das ist eine Art,

 

Ein paar Stunden später in der Tram fehlte wirklich nicht mehr viel zu der amerikanischen Schauspielerin Clara Bow. Clara trug ein Complet aus Weste, Rock und Paletot in Beige mit roten Karos, und einen neuen beigefarbenen Topfhut. Ihre Nägel waren rot lackiert und die Lippen tiefrot geschminkt. Tilda hatte ihr eine Karte zugesteckt. Am Ende hatte sie sich mit zwei nach Sekt riechenden Küsschen rechts und links und «Rufen Sie mich an!» trompetend verabschiedet. Clara musste wieder heimlich lachen. Sie war exzentrisch, diese Tilda, aber irgendwo hinter dieser Maske mit Pfauenfedern und zu viel Alkohol steckte eine gute Seele.

Ein paar ältere Herren tuschelten verstohlen und echauffierten sich über die Schminke. «As Mei o’gstrichen, da graust mir ja!», tuschelte einer.

Verstohlen lachend, lehnte sie sich zurück, machte mit dem Stein des Anstoßes einen Kussmund und räkelte die Finger mit den lackierten Nägeln nun erst recht in Richtung der Herren.

René hätte seinen Spaß gehabt.

Verärgert schloss sie die Hände um ihre Tasche und blickte aus dem Fenster. Aber dann musste sie doch wieder lächeln. Eine Stunde im Salon der Schneiderin, und sie hatte die Telefonnummer von Tilda DuCourt!