Renés Schritte verlangsamten sich, als er am Abend des letzten Apriltags an der Ludwigsbrücke aus der Tram stieg. Es roch nach dem Fluss wie damals. Am Ende der Brücke hatte ein Arbeiter im gewachsten Kapuzenmantel seine Leiter an die Halterung einer Straßenlaterne gelehnt, um sie zu entzünden. Doch er würde den schwachen Schimmer nicht brauchen, um sich zurechtzufinden. Auf der Kohleninsel erkannte er das neue Technikmuseum. Die Kaserne war fast verschwunden, und ein Turm ragte über dem Fluss in den sich langsam verdunkelnden Himmel. Er war mit Absicht hier ausgestiegen, um noch ein Stück zu Fuß gehen zu können. Die Bewegung tat gut.

Sechs Jahre war es her.

München hatte sich verändert. Überall in der Stadt sah man Baustellen. Wurde erweitert, verschönt oder auch einfach nur Platz geschaffen für Tausende neuer Arbeiter, die nach dem Krieg verarmt waren und in die Städte strömten. Ein leichter Regen setzte ein, als er nach Giesing kam. Hier war alles schmerzhaft vertraut. Der kleine Stadtbauernhof an dem winzigen Platz, wo die schmale Straße zum Brucknerbräu abzweigte, hatte sich nicht verändert. Noch immer war der Duft des Heus zu spüren, die Scheune lag direkt an der Straße. Ein leichter Stallgeruch mischte sich hinein, und unten am nahen Fluss hackte jemand Holz. Es war, als wäre hier die Zeit stehengeblieben oder hätte sich zumindest langsamer bewegt.

Es war um diese Jahreszeit gewesen, damals. Die Kastanien

Er stieß einen trockenen Laut aus. Wozu?, fragte er sich. Um alles wieder zu verlieren? Solche Gedanken brachten nichts. Ein Leben lang hatte er sie erstickt, verborgen hinter seinem Leichtsinn. Er schirmte ihn wie eine schützende Mauer ab, wenn die anderen «Jude!» hinter ihm herriefen.

Der Nieselregen glänzte wie ein silberner Schleier im Schein der Laternen. Das nasse Pflaster unter seinen Füßen war uneben, und wenn eine Kutsche an ihm vorbeiratterte, holperte sie über eine Bodenwelle. René schlug den Mantelkragen hoch und zog den Hut ins Gesicht, das längst feucht von unzähligen kleinen Tropfen war.

Es war sonderbar, die Mietshäuser an der Straße jetzt im Frieden zu sehen. Licht brannte in den Fenstern, dahinter saßen Menschen vielleicht beim Essen und bei all den anderen kleinen, alltäglichen Dingen. Es war, als wäre er erst gestern auf der Flucht vor den Kugeln hier entlanggelaufen. Als er hinter der Kurve das niedrige, langgestreckte Gebäude der Gaststätte sah, blieb er stehen.

Nichts hatte sich verändert. Das Dach ragte, von Holzpfeilern gestützt, weit in die Straße hinein. Warum bin ich eigentlich hergekommen?, fragte er sich. Clara würde nicht einmal hier sein, und wenn doch, was würde es ändern?

Langsam atmete René durch. Er wusste selbst nicht so genau, warum er mit zögernden Schritten darauf zuging.

***

Clara hatte sich überzeugt, dass in der Gaststätte alles ruhig war. Angelika hatte alle Hände voll zu tun, aber niemand gab

Clara zog sich hinter die Theke zurück, um die Männer unauffällig beobachten zu können. «Ich mache das», sagte sie, als Angelika mit der Bestellung über zwei Malzbier zurückkam.

«Guten Abend, Alfred», grüßte sie ihn betont freundlich, als sie die Getränke vor ihnen abstellte. Sie wandte sich an den anderen. «Guten Abend, Herr …»

Die Rechnung ging auf. Er schaffte es nicht, einer Frau gegenüber unhöflich zu sein.

«… Brandtner», erwiderte er.

Sie belohnte ihn mit einem Lächeln. Dabei betrachtete sie ihn unauffällig. Er war bescheiden gekleidet, aber dazu passte nicht, dass er Alfred so von oben herab behandelte. Ein Diener, so musste es sein.

«Herr Brandtner, richtig. Clara Bruckner. Sie kommen mir so bekannt vor. Warten Sie, es fällt mir gleich ein …» Es war gewagt, aber ein Diener traute sich vermutlich nicht, einer wohlhabenden Frau etwas vorzuenthalten.

«Ich arbeite bei Herrn Schwabinger», gab er dienstfertig Auskunft. «Aber dort trage ich einen Dienstanzug.»

Clara strich zufrieden das neue veilchenfarbene Kleid glatt. Was so ein elegantes Auftreten ausmachte. «Das muss es sein. Seien Sie doch so gut und richten Sie ihm meine besten Grüße aus.»

Er nickte, und Clara steuerte mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht wieder die Küche an. Sie fühlte sich wie

Sie setzte sich mit einer Tasse Tee in die Küche, so, dass sie die beiden beobachten konnte, jedes Mal, wenn Angelika mit einem Tablett oder Bierkrügen herein- oder herauskam. Alfred schien sich um Brandtner zu bemühen, aber das Interesse beruhte ganz offensichtlich nicht auf Gegenseitigkeit.

Nach einer Weile steckten sie die Köpfe dann doch etwas dichter zusammen. Clara überlegte. Dann stand sie auf und lief durch die Gaststube, als wollte sie nach dem Rechten sehen. Sie ging zuerst ein Stück an den beiden vorbei und näherte sich ihnen dann von hinten.

«… hole ich es ab», sagte Brandtner. «Am Fünfzehnten auf der Kohleninsel, gegen elf Uhr abends.»

«Ist der Ort geeignet?», fragte Alfred.

Brandtner nickte. «Die Bäume schützen vor Blicken, und wegen des Museums ist es abends verlassen.»

Alfred blickte auf, und schnell ging Clara weiter und zurück in die Küche. Gern hätte sie noch mehr in Erfahrung gebracht, aber Alfred schien misstrauisch geworden zu sein. Er beobachtete sie, und als sie etwas später noch einmal herüberkam, zahlte er, und sie verschwanden.

Clara blickte ihnen nach. Der Fünfzehnte – das konnte nur der fünfzehnte Mai sein, sonst hätte er den Monatsnamen gesagt. Was konnte jemand da nachts auf der Museumsinsel vorhaben? Wenn Brandtner für Schwabinger arbeitete, konnte der seine Finger mit im Spiel haben. Allerdings konnte Brandtner auch ein Korpsbruder sein, oder Alfred kannte ihn von früher aus der Bürgerwehr. Es ging sie nichts an, aber sonderbar war es doch.

Der so Beschimpfte hätte vielleicht geantwortet, doch sie hatte ihren Bierkrug mit voller Wucht auf seine andere Hand gestellt, und nach Luft schnappend, wedelte er sie mit schmerzverzerrtem Gesicht in der Luft.

«Du Hex!», japste er endlich. «Du hast mir ja die Finger brochen!»

«Recht g’schieht’s dir, du Saubua! Schau, dass d’ weiterkimmst, da herin is koa Platz ned für solcherne Verbrecher!»

Clara grinste und ging in den Durchgang zur Küche, um nun doch endlich ihren Mantel zu holen. Mit so etwas wurde Angelika allein fertig. Der Bursche würde sich das nie wieder herausnehmen. Sie konnte nach Hause gehen.

«Außi, sag i!», kreischte ihn die erboste Kellnerin an, als er nicht gleich reagierte. Sie hob angriffslustig die drei leeren Bierkrüge, die sie in der anderen Hand trug. «Schleich di, du Satansjünger!»

Der kräftige Arbeiter überlegte sichtlich einen Moment, ob er handgreiflich werden sollte. Aber die kleine, hagere Kellnerin machte ein Gesicht, als wollte sie sich gleich wie eine wütende Bulldogge in ihn verbeißen. Er war klug genug, das Schicksal nicht herauszufordern. «Öha!», brachte er noch hervor, dann raffte er seine Joppe vom Stuhl und lief zum Ausgang.

Er wäre fast in den Mann gerannt, der im selben Moment hereinkam. Der Ankömmling trat verwundert beiseite, als er angerempelt wurde. Er trug einen Sommermantel, der auf den Schultern dunkel vom Regen war, und einen Panamahut, den er jetzt abnahm. Zögernd blieb er im Eingang stehen.

Der leichte Mantel war modisch kurz geschnitten und betonte seine schlanke Figur. Regentropfen überzogen ihn bis hinunter auf die Brust, glitzernde Punkte, die vom Stoff langsam aufgesogen wurden und sich zu dunklen Flächen vereinten. Doch das neue, elegantere Äußere konnte den alten Abenteurer nicht verbergen. Das schwarze Haar widerstand noch immer allen Versuchen, es zu bändigen. Der leichte Regen hatte gereicht, es in die Stirn fallen zu lassen, als wäre er wieder durch den Kugelhagel gerannt oder gerade aus einem Flugzeug gestiegen. Und seine Augen waren dieselben: die lebhaften dunklen Augen unter dichten Brauen, die wie die eines Jägers alles wahrzunehmen schienen. Die Erinnerung daran hatte sie fast verrückt gemacht. René.

Er schien nicht damit gerechnet zu haben, sie hier zu sehen. Seine Lippen öffneten sich leicht, und er starrte sie wortlos an.

Clara wollte etwas sagen, aber sie brachte kein Wort heraus. Schlag für Schlag hörte sie ihren eigenen Puls wie das Pendel einer Uhr in ihrem Innern.

«Kurowsky!» Einer der Gäste brach das Schweigen. «René Kurowsky.»

Das brachte sie wieder zu sich. Jeder im Brauereiwesen hatte René Pest und Schwefel an den Hals gewünscht. Sie wollte einen Schritt machen, um den Burschen aufzuhalten, aber da war er schon auf René los. «O mei, dass man Sie hier sieht!»

Und fiel ihm um den Hals.

René wirkte genauso überrascht wie alle anderen. Er sah noch immer Clara an, dann schüttelte er kurz den Kopf, als müsse er sich gewaltsam zwingen, den Blick abzuwenden. Als hätte er ein Bild vor sich, das er nicht loslassen wollte, weil es sich aufzulösen drohte, sobald er sich abwandte.

«Der Herr Kurowsky, wissts scho!», wandte sich der Knecht

Das schien einiges auszulösen, denn tatsächlich sprangen nun noch mehr Leute auf und scharten sich um ihn. René schien überrascht, plötzlich so viele Freunde zu haben. Er schüttelte einige Hände, beantwortete Fragen und nickte, während sie auf ihn einredeten. Endlich gelang es ihm, sich zu befreien.

Clara hatte sich etwas gesammelt. «Du hast offenbar Anhänger gewonnen», sagte sie, als er vor ihr stehen blieb. «Ich wusste nicht, dass du deine Ansichten übers Bier so geändert hast.»

«Du hast meine Artikel nicht gelesen?»

Sie schüttelte den Kopf. Seine Stimme hatte sich nicht verändert. Dennoch hatte sie nicht erwartet, nach über fünf Jahren davon noch immer dieses verfluchte Herzklopfen zu bekommen.

René lächelte, und ihr wurde auch noch heiß. «Ich hätte es auch nicht anders gemacht», meinte er. «Und da ich weiß, warum ich es nicht getan hätte, nehme ich das als Kompliment.»

«Bilde dir nur nichts ein, Cyrano», erwiderte sie. Aber sie erwiderte das Lächeln unwillkürlich. «Ich nehme an, du wolltest ein Bier trinken?»

«Eigentlich dachte ich, du bist längst auf Malzbier umgestiegen. Bekäme ich denn noch eines?»

«Schon möglich.» Clara lächelte verstohlen.

Angelika räumte den kleinen Tisch am Fenster für sie frei. Als sie sich unterhielten, kam es ihr vor, als wäre seit ihrer letzten Begegnung nicht mehr als eine Stunde vergangen. René erzählte von seiner Arbeit in New York, Clara von ihrem Chemiestudium: von dem schiefgelaufenen Experiment, als sie die Hefe in ihrem Gärbehälter vergessen hatte und ihr der Deckel plötzlich entgegengeflogen war. Von dem Qualm, als sie versehentlich

«Es war schön, dich wiederzusehen», sagte René endlich beim Gehen. Sie standen gemeinsam in der Tür. Hinter ihnen war die Gaststube inzwischen fast leer, nur Angelika wischte noch über die Tische und stellte die Stühle hoch. Sie hatten nicht einmal gemerkt, dass alle anderen nach und nach gegangen waren. Das Licht fiel hinaus auf die regennasse, dunkle Straße. Winzige funkelnde Tropfen überzogen seinen gerade getrockneten Mantel mit einem feinen Schleier. Er schlug den Kragen hoch. Der Wind war noch immer kühl.

«Das fand ich auch», erwiderte Clara. Sie fror, aber es war ihr egal.

Sie sah ihm nach, als er die Straße hinunterging. Nach ein paar Schritten drehte er sich um und blickte zurück. Als er sie noch im Ausgang stehen sah, lächelte er.

***

Clara schlief unruhig in dieser Nacht und wachte schon um halb sechs Uhr auf. Ihre Eltern schliefen noch, und selbst Katharina hatte gerade erst angefangen, in der Küche zu rumoren. Bis sie das Frühstück um sieben Uhr fertig hatte, würde es noch

Es dämmerte, und der nachtblaue Himmel wurde im Osten von den ersten goldenen Streifen zerrissen. Darunter breitete sich ein rötlicher Schimmer aus. Clara setzte sich auf die kleine englische Bank, die an Ketten unter einem rosenbewachsenen Pavillon hing, und begann, langsam zu schaukeln. Die Rosen trieben gerade erst aus, aber der helle lila Flieder gleich daneben verbreitete seinen Duft meterweit. Nachdenklich lehnte sie sich zurück und blickte in den Himmel, während die Schaukel sie langsam hin- und hertrug. Nur das rhythmische Knirschen der Kette durchbrach die schlaftrunkene Stille des Gartens. Der Mond blitzte am langsam erwachenden Himmel zwischen den Rosenzweigen hindurch, hin und zurück, und wieder von neuem.

Sechs Jahre. Das war zu lange.

Er hatte keinen Ring getragen, aber bei einem Mann wie René musste das nicht viel heißen. Sein Lebensstil hatte in den letzten Jahren sicher nichts von seiner Verrücktheit eingebüßt. Vermutlich war er viel unterwegs gewesen, hatte vielleicht weite Reisen unternommen. Dennoch war er gesund und unversehrt. Hatte sie damals falsch entschieden?

Es half nichts, darüber nachzudenken. Es würde nur schmerzen, die alten Wunden wieder aufzureißen, jetzt, nachdem sie endlich zu heilen begonnen hatten.

 

Um kurz vor sieben beschloss sie, nicht auf ihre Eltern zu warten, und begann, allein zu frühstücken. Sie hatte sich eben Kaffee eingeschenkt, als das Telefon im Kontor klingelte.

Eine Minute später kam Katharina und bat sie nach oben.

Claras Herz schlug wie verrückt, als sie den Hörer ans Ohr legte und seine Stimme hörte.

«Du erinnerst dich an meine Nummer», sagte sie.

Clara konnte nicht atmen. Es war so unwirklich. Gestern hatte sie noch gedacht, dass er Tausende Kilometer entfernt am anderen Ende der Welt sei. Widerstreitende Gefühle zerrten an ihr, zu viele, mehr, als sie aushalten konnte. «Mir geht es genauso», erwiderte sie leise. «René, was soll das werden?»

Wieder kam einen Moment keine Antwort. Dann fragte er: «Wollen wir es herausfinden?» Seine Stimme klang dunkel. Ein wenig rau.

Claras Lippen begannen zu zittern. Es fühlte sich so gut an und zugleich so furchteinflößend. «Hast du Angst davor?»

«Natürlich. Du nicht?»

Jetzt musste sie auch noch lachen. Alles an dieser Unterhaltung war so vertraut, selbst sein Humor. «Doch», gestand sie. «Aber mir hat einmal jemand gesagt, dass er das leichte Gefühl von Angst schätzt.» Sie lächelte in die Sprechmuschel und umschloss sie schützend mit der Hand, als fürchte sie, ihre Worte könnten verloren gehen. «Vielleicht hatte er recht.»