Clara hatte das Gefühl, dass René genau wie sie alles vermeiden wollte, was an damals erinnerte. Sie trafen sich im Englischen Garten, flanierten und mieteten ein Ruderboot auf dem Kleinhesseloher See. Obwohl sie sich immer wieder verstohlen ansahen, brachte keiner von ihnen das Gespräch auf die letzten Jahre. Sie spürte, dass er genau wie sie einfach glücklich war und nichts tun wollte, was das gefährdet hätte. Auch in den nächsten Tagen änderte sich daran nichts.

Am Samstag musste René für ein paar Tage nach Nürnberg, und Clara beschloss, endlich der Sache mit Alfred nachzugehen. Nachts allein zur Museumsinsel zu gehen, wäre viel zu gefährlich. Also verabredete sie sich mit Magdalena im Kino. Sie würde wissen, was ihr Mann tat. Womöglich hatte ihn Schwabinger mit seinen Geistergeschichten angesteckt, auch wenn sie sich das nicht so recht vorstellen konnte.

Als Clara Das Cabinet des Dr. Caligari vor ein paar Jahren das erste Mal gesehen hatte, hatte es sie tief beeindruckt. Zwei Wochen lang hatte sie jeden Abend ihren Schrank untersucht, um sicherzugehen, dass kein schlafwandelnder Mörder darin lauerte. Sie mochte das unheimliche Kribbeln, das einem über den Rücken lief, und die wahnhaften Bilder in den fast leeren, irrwitzig verzerrten kubistischen Kulissen, die das Ganze in einen einzigen Albtraum verwandelten.

Auch jetzt hatte der Film nichts von seiner Faszination eingebüßt. Als sie mit Magdalena danach noch durch den Alten

«Lil Dagover ist hinreißend», meinte Magdalena. «Sie sieht so wunderschön aus, diese riesigen Augen und das lange schwarze Haar.»

«Es heißt, die Rahmenhandlung in der Irrenanstalt wurde erst nachträglich hinzugefügt», sagte Clara. «Ohne die ist es noch grauenhafter. Unheimlich die Vorstellung, dass ein Mann einer ganzen Stadt derart Sand in die Augen streut. Dass er Schlafwandler abrichtet, die willenlos in Trance seine Mordbefehle ausführen. Niemand ahnt, dass Caligari ein machthungriger Verrückter ist. Die Leute sind eher bereit, den Mann für den Irren zu halten, der ihm auf die Schliche kommt.»

Magdalena winkte ab. «Ja, das ist ein wenig unglaubwürdig.»

Clara fand das nicht so abwegig in einer Zeit, in der einem die Zeitungen erzählten, dass Adolf Hitler überschätzt werde, während man auf der Straße immer öfter Schlägereien sah, die von seinen Nazis provoziert wurden. Aber sie hatten sich versprochen, nicht mehr über Politik zu reden. Sie setzten sich auf eine der Bänke und genossen die warme Luft und den Duft der Hyazinthen, die hier wuchsen.

«Alfred war kürzlich in unserer Gaststätte», wechselte Clara das Thema. «Mit einem Diener von Ferdinand Schwabinger. Ich wusste gar nicht, dass die beiden sich kennen.»

«Alfred und Schwabinger?» Es war nicht klar zu erkennen, ob Magdalenas Überraschung echt war. «Vielleicht kennt er den Mann von einer politischen Veranstaltung. Mir sagt das nichts.» Sie wollte etwas hinzufügen, unterbrach sich dann aber. Keine Politik.

Magdalena verdrehte die Augen. «Was soll das, Clara? Ich weiß, du magst Alfred nicht, aber kannst du nicht aufhören, ständig an ihm herumzunörgeln? Er hat meine Firma gerettet.»

«Die Firma gerettet? Von welchem Geld denn?»

Magdalena schlug wütend mit der flachen Hand auf die Bank. «Ob es dir passt oder nicht, er tut nichts Unrechtes!»

Es hatte keinen Sinn, das Thema zu vertiefen. Sie hatte ihren Mann offenbar auf einen Sockel gestellt, von dem ihn nichts und niemand stoßen konnte. Ganz gleich, was Clara jetzt noch sagte, sie würde es nicht hören wollen.

«Was ist los mit dir?», fragte Magdalena. «Du bist so verbissen in letzter Zeit und hängst irgendwelchen alten Ideen frustrierter Blaustrümpfe nach. Lebe doch in der jetzigen Zeit, heirate endlich und hör auf, in den Lebensraum der Männer einzudringen!»

«Lebensraum der Männer»! Himmel, woher hatte sie denn neuerdings solche Formulierungen? Und was den Blaustrumpf betraf – dagegen hatte Clara nun wirklich einiges unternommen. Sie hob das eine Bein, das in einem zarten Strumpf mit Naht steckte und öffnete den Mantel, sodass die aprikosenfarbene Weste und der passende Rock zu sehen waren. «Ich fand Hedwig Dohm nicht frustriert», meinte sie. «Sie war es doch, die für die freie Liebe eingetreten ist.»

«Sie ist tot.»

Clara sah sie überrascht an. «Du warst doch auch immer für die Befreiung der Frauen.»

Zwei Studenten kamen vorbei, und einer lächelte ihnen im Vorbeigehen zu. Clara erwiderte das Lächeln. Sie genoss es, dass die Männer sich anständiger benahmen als früher. Es

Magdalena betrachtete Claras Complet aus Rock, Weste und Mantel, deren Farben unauffällig miteinander harmonierten. «Ich bin für Rechte für Frauen. Aber nicht für Weiberherrschaft und sexuelle Verwahrlosung.»

Clara seufzte. «Hedwig Dohm hielt die Prüderie für ein großes Problem bei der Befreiung der Frauen. Solange sich Frauen Moralvorschriften beugen müssten, könnten sie nicht frei sein. Sieh dich doch um, die beiden gerade sind der beste Beweis, dass sie recht hatte.»

«Zufall. Eine Frau, die sich an keine Moral hält, ist die Sklavin der Unmoral. Schau dir doch all die Weiber an, die es mit jedem treiben! Wenn wir wirklich frei sein wollen, dürfen wir uns auch nicht der Verwahrlosung unterwerfen.»

Also bei Frauen war es Verwahrlosung, wenn sie sich hübsch machten oder rauchten, aber ihr Mann gab den Pomadenhengst. «Das bedeutet, es ist wahre Freiheit, die Sklaverei gut zu finden?», fragte Clara herausfordernd. «Ich kann nicht ganz erkennen, wo die Freiheit sein soll, wenn es nur entweder freiwillige oder unfreiwillige Unterwerfung gibt. Was soll das sein, die Freiheit, sich zu unterwerfen?»

Magdalena räusperte sich, aber sie erwiderte nichts. Der schöne, sonnige Tag war auf einmal verdorben. Clara betrachtete sie beunruhigt. So hatte Magdalena früher nie geredet. Je sturer sie sich gab, desto unsicherer schien sie in ihrem Inneren. Das war nicht die Magdalena, die Clara seit ihrer Kindheit kannte. Nicht die Magdalena, die ihre Hand gehalten hatte, als sie um ihren Bruder weinte. Die sie für die Lobau begeistert und ihr

Magdalena verdrehte die Augen. «Nein. Wir sind in vielen Dingen gleicher Meinung, aber das heißt doch nicht, dass er mich beeinflusst.»

«Nun ja. Früher hattest du andere Meinungen.»

«Ich entwickle mich eben weiter. Ich will nicht mit fünfundachtzig noch genauso denken wie mit fünfzehn.» Sie sah Clara an. «Du bist so wunderlich geworden, seit du so lange allein bist. Pass besser auf, dass du keine alte Jungfer wirst. Du wirst auch nicht jünger, und je sonderbarer du wirst, desto geringer sind deine Chancen.»

Clara hätte ihr von den neuesten Entwicklungen diesbezüglich erzählen können, aber darauf hatte sie jetzt keine Lust mehr. Stattdessen hob sie nur beide Hände. «Schon gut. Ich wollte nicht mit dir streiten. Keine Politik, keine Frauenrechte, meinetwegen auch keine Männer. Die Freundschaft ist wichtiger.» Viele Themen würden ihnen allerdings nicht mehr bleiben, wenn das so weiterging. Heimlich beobachtete sie Magdalena. Sie war schön wie immer, aber sie schminkte sich nicht mehr. Und das Haar so straff nach hinten zu tragen, stand ihr nicht. Es hatte so hübsch ausgesehen, wenn sich die blonden Locken um ihre Schultern geringelt hatten. Ich weiß nicht, wer von uns beiden sich verändert hat, dachte Clara. Aber eine von uns hat es und nicht zum Guten.

***

Die Prohibition hat die Kreativität der Amerikaner ebenso befeuert wie ihre Distanz zum Gesetz. Kleine Flaschen, deren Konturen sich dem Körper anpassen, sind der Verkaufsschlager und werden an Stellen transportiert, die zu nennen der Anstand oder auch der Chefredakteur verbietet. Während auf den Straßen breit gebaute Männer Alkohol in die Kanalisation kippen, füllen hinter verschlossenen Türen junge Damen die Flachmänner und lassen sie wieder in Strumpfband oder Stiefel verschwinden. Für die organisierte Kriminalität bedeutet das Alkoholverbot das lukrativste nur denkbare Betätigungsfeld, lukrativer selbst als die Prostitution. Draußen knallen die Schießeisen, drinnen die Korken. Auf offener Straße werden Revierkämpfe ausgetragen, und kaum noch jemand sieht sich auch nur um, wenn irgendwo die Kugeln fliegen. Jedes Tabu erzeugt unweigerlich die Perversion des Tabuisierten: Der neutrale

Clara lachte laut und erntete einen bitterbösen Blick des grauen Herren. Er legte den Zeigefinger an den Mund, und sie nickte. Dieser Text, das war René, wie er leibte und lebte. Die meisten Artikel waren in diesem Stil geschrieben, und es machte Spaß, sich durchzublättern. Wie im Rausch durchstöberte sie die Texte, und als sie den dicken Zeitungsstapel endlich vor sich auf den wurmstichigen Tisch legte und in die staubigen Lichtkegel blickte, die durch das hohe Fenster fielen, waren Stunden vergangen.

Nachdenklich schob sie den schweren Packen zur Seite. Ihr Magen knurrte, sie hatte gar nicht bemerkt, dass es längst Zeit zum Essen war und sie zu spät nach Hause kommen würde. Offenbar hatte auch René einige seiner Ansichten geändert. Niemand blieb über sechs Jahre derselbe, auch sie nicht.

Sie war sich nur nicht sicher, was das bedeutete.