Das Klappern der Schreibmaschinentasten erfüllte den beengten Redaktionsraum in der Schwabinger Leopoldstraße. Eigentlich war er viel zu klein, aber niemand hatte das schnelle Wachstum der Zeitungen vorhergesehen. Die große Rotationspresse war bereits ins Nachbarhaus ausgelagert worden. Viermal täglich lieferte der Tagesmerkur Nachrichten, die druckfrisch und fast noch feucht an die Zeitungsjungen übergeben wurden. Bündelweise wurden sie dann auf Karren geschnallt und ausgeliefert oder direkt verkauft.

Heute hatten sie die Fenster geöffnet, sodass die Frühlingsluft hereinwehte. Das Läuten der Tram, Automobilmotoren und ab und zu das Rattern einer Kutsche waren zu hören. Es war mild, die meisten Journalisten hatten die Jacken ausgezogen. Auch René saß im Hemd über seinem Text, eine brennende Zigarette im Mund. Das Rauchen hatte er sich in New York angewöhnt. So ganz sicher war er sich noch nicht, ob er es beibehalten würde. Eigentlich schmeckte ihm der bittere Tabak nicht, der sich scharf in die Atemwege fraß. Aber beim Arbeiten machte es ihn wacher, und im Redaktionsraum hing ohnehin fast immer ein leichter Qualm. Und gesünder als Kokain war es allemal.

Der Tagesmerkur war eine der wenigen politisch unabhängigen Zeitungen. Allerdings, dachte René, während er die über die Schreibmaschinen gebeugten Köpfe seiner Kollegen betrachtete, war das ein Privileg, das neuerdings nicht mehr selbstverständlich war. Viele Journalisten sympathisierten

Er zog das beschriebene Blatt aus der Maschine.

«Fertig?», fragte Theodor, der Ressortleiter. Er setzte sich halb auf Renés Tisch, sortierte seine langen, hageren Beine und fuhr sich über das dünne graue Haar. René lehnte sich zurück, streckte seufzend den Rücken und kippte den Stuhl gegen den Tisch seines Hintermanns.

Theodor überflog den Text und seufzte. «Das bekommst du nicht am Chef vorbei, das ist dir klar, oder?» Laut las er:

Eine Zwei-Klassen-Justiz macht sich neuerdings in Deutschland breit. Kurz nach der allgemeinen Amnestie ist festzuhalten, dass die Haftbedingungen für die linken Gefangenen in Niederschönenfeld ungleich härter waren als die für die Rechten in Landsberg. Und während der Preuße Ernst Toller nach seiner Haft von Mordkomplotten bedroht und umgehend ausgewiesen wurde, befindet sich der Österreicher Adolf Hitler noch immer in Bayern. Seine Schlägertrupps schüchtern zunehmend ihre Gegner ein. Während die Bürger sich im Haus verkriechen, toleriert der Staat diese Machenschaften, die Presse redet sie klein und die Strafen fallen milde aus.

«Die Wahrheit ist das höchste aller nationalen Güter. Ein Staat, ein Volk, ein System, in dem die Wahrheit unterdrückt wird oder sich nicht hervorwagt, ist wert, so rasch und so endgültig wie möglich zugrunde zu gehen.»

Seufzend legte Theodor den Text nieder.

«Als wäre es nicht genug, dass uns die Nazis letzte Woche den Drohbrief geschickt haben. Und dann bist du auch noch Jude, das macht es nicht besser. Es war schwer genug, dich trotz der Ausweisung der Ostjuden zurückzuholen. Du weißt, dass ihr in manchen Kreisen schon als staatsgefährdend geltet.»

René zog die Brauen zusammen. «Ich bin Atheist. Ich wurde von einer jüdischen Mutter in eine jüdische Familie geboren, und ich sehe keinen Grund, mich dafür zu schämen. Aber wenn du schon über meine Religion sprichst, dann tu es korrekt.»

«Du weißt, was ich meine.» Theodor stand auf, und der viel zu weite Anzug schlotterte um ihn herum wie um den Komiker Karl Valentin.

Natürlich wusste René das. In diesen Augen war ein ungläubiger Jude nicht gerade besser als ein praktizierender Jude. Er ließ seinen Stuhl wieder zurück auf alle vier Beine kippen. «Wo ist die Pressefreiheit, wenn wir vorgefertigte Ansichten vertreten sollen?»

«Du hast Glück, dass du nicht selbst längst als Bolschewist dastehst. Wärst du nicht so lange in Amerika gewesen, wo sie

René verdrehte die Augen.

«Weißt du, dass es schon gestern Ärger mit einem deiner Artikel gab? Ein paar SA-Schläger haben einen Zeitungsjungen verprügelt, nur weil er die Schlagzeile ausrief.»

«Der Abstinenzler im Bierkeller», wiederholte René. Er stand auf, nahm seine Jacke von der Rücklehne und streifte sie über. Dann steckte er Bleistift und Notizblock ein. «Einerseits gibt Hitler den Moralisten und Asketen, der weder Fleisch isst noch Alkohol trinkt. Andererseits tritt er am liebsten in Bierkellern auf. Wer da nicht sieht, wie ihm die Scheinheiligkeit und die Selbstverliebtheit aus allen Poren quillt wie schmieriger Talg, dem ist auch nicht zu helfen. Und bei der Art, wie er und seine Anhänger für ihren Kreuzzug gegen die Juden auch noch Wissenschaftlichkeit beanspruchen und jede Gegenstimme als Faktenleugner darstellen, wird mir übel.»

Er wollte gehen, aber Theodor hielt ihn am Ärmel fest. «Er ist ein Charismatiker.»

«Er ist ein Irrer. Der einzige Unterschied zwischen dem Irren und dem Charismatiker besteht in der Anzahl der Jünger.» René machte sich los.

Etwas klirrte, dann splitterte Glas. Der Botenjunge, der gerade mit frischen, duftenden Broten hereingekommen war, schrie erschrocken auf und ließ das Tablett fallen.

Das Fenster zur Leopoldstraße war zerbrochen, ein Stein lag am Boden, der den Jungen offenbar um Haaresbreite verfehlt hatte. Draußen standen mehrere Männer mit Armbinden, sie grölten und johlten das Deutschlandlied. Sie waren jung, sehr jung. Eine Bande Rotzlöffel. Und ein paar von ihnen stanken bis in die Redaktion hinein nach Fusel.

«Beides. Mit einem dicken Hakenkreuz in der Mitte», meinte Theodor trocken. «Verdammt. Die haben uns die Scheibe eingeworfen!»

«Komm raus, Jude!», grölten die Männer draußen.

René presste die Lippen aufeinander und spannte die Muskeln an, als wollte er tatsächlich zur Tür stürzen.

Theodor hielt ihn fest. «Bist du verrückt? Siehst du, wie viele das sind?»

Man sieht sie immer nur in der Gruppe, dachte René. Nie allein. Feiglinge. Er schüttelte den Arm ab und warf das widerspenstige Haar aus dem Gesicht. Wütend starrte er nach draußen. «Ich bin ja nicht blind.» Der Hausmeister war an die Tür gegangen, und es gab einen heftigen Wortwechsel. «Ist ja gut», fauchte René Theodor an, der wieder nach seinem Arm greifen wollte. Obwohl es ihn fast verrückt machte, sich wieder beleidigen lassen zu müssen. Wie tausendmal als Kind. Das Gefühl der Ohnmacht, weil er sich nicht wehren konnte. Eine kochende, hilflose Wut, dass noch der Letzte auf ihn herabsehen konnte. Dass alles, was er war, nichts zählte, unsichtbar wurde und verschwand hinter dem Brandmal, mit dem sie ihn willkürlich, allein aufgrund seiner Geburt gezeichnet hatten.

Auf einmal ging alles ganz schnell. Bretter splitterten, die Tür wurde eingetreten. Mehrere Männer mit Armbinden polterten in den Raum und gingen auf die Redakteure los.

«Welcher ist der Hetzer?», brüllte einer. «Sonst verprügeln wir eben alle!» Renés Kollegen sprangen auf und versuchten die Meute hinauszudrängen.

«Ruf die Polizei!», zischte René Theodor zu. Er war fast erleichtert. Alles war besser als diese hilflose Wut.

Eine Ewigkeit verging, bis endlich die Trillerpfeife eines Gendarmen schrillte.

«Raus hier!», kreischte der Anführer. Einer schlug die Splitter des eingeworfenen Fensters weg, und sie rannten davon, den Gestank nach Fusel und Bier zurücklassend.

Keuchend presste René die Hand auf den Bauch, wo ihn ein Tritt getroffen hatte. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Blut. Ihm war so schwindlig, dass er sich an einem der Tische abstützen musste.

«Alles in Ordnung?», fragte Theodor.

Er rang nach Luft und nickte.

«Ich sag Ihnen gleich, das wird schwierig», meinte der Gendarm. «Sie können die anzeigen, aber selbst wenn sie jemand erkannt hat, wahrscheinlich wird denen nichts passieren.»

René presste die Lippen aufeinander.

«Was ist denn hier los?» Friedrich Haller, der Chefredakteur, stand in der Tür und starrte fassungslos auf die umgeworfenen Tische, die am Boden liegenden Schreibmaschinen und das eingeschlagene Fenster. Offenbar hatte man ihn direkt vom Frühstückstisch geholt, in seinem Kragen steckte noch eine Serviette.

«Nazis», antwortete Theodor für ihn. «Sie wollten René. Zum Glück ist nichts passiert.»

René wischte sich das Blut aus dem Gesicht und betrachtete demonstrativ die rote Spur auf seiner Hand. Unter «nichts» verstand er etwas anderes. «Ich schreibe den Bericht darüber», sagte er, noch immer nach Luft ringend. «Sie haben ihn noch heute.»

«Um Himmels willen, bloß nicht! Wenn wir das drucken, stehen wir als Bolschewikenblatt da. Nein, Sie werden jetzt nach Hause gehen, ein Bad nehmen und sich in Zukunft etwas diplomatischer ausdrücken.»

René war wie vor den Kopf geschlagen. So kannte er Haller nicht. Bisher war er immer bereit gewesen, auch provokante Formulierungen zuzulassen – ganz anders als manch andere Blätter, die zwar gern gegen die kommunistische Gefahr wetterten, sich aber nicht mit den nationalistischen Parteien anlegen wollten. «Diese Dreckspartei war noch vor ein paar Monaten verboten», zischte René. «Und jetzt soll ich sie mit Samthandschuhen anfassen?»

Haller trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. «Sie wissen doch, den Nazis ist ihr Hitler heilig. Provozieren Sie sie nicht so.»

René glaubte, nicht recht gehört zu haben. «Provozieren?», zischte er mühsam, so gut das mit schmerzenden Rippen ging. «Ist Kritik neuerdings wieder Majestätsbeleidigung?»

«Jetzt machen Sie den Hitler nicht zum Märtyrer. Sie wollen doch niemanden aufhetzen.» Haller klopfte ihm auf die Schulter. «Nun gehen Sie nach Hause und kurieren Sie sich aus. Die anderen räumen hier auf.» Er nickte ihm zu und winkte den Gendarmen zu sich heran. Leise sprach er ein paar Worte mit

René starrte ihm fassungslos nach.

***

Als er anrief, um ihre Verabredung abzusagen, spürte Clara sofort, dass etwas nicht stimmte. Es sah René überhaupt nicht ähnlich, einen Rückzieher zu machen. Er hatte sonderbar geklungen, gehetzt. Also nahm sie das Automobil und fuhr nach Schwabing.

Sie wusste, dass René wieder in der Occamstraße wohnte, weil er den Philosophen, nach dem die kleine Straße benannt war, schätzte. William of Occam war berühmt für seine Aussage, dass die unkomplizierteste Erklärung die richtige sei: «Occams Rasiermesser», weil er alle überflüssigen Gedanken sozusagen wegrasierte. In einer Welt, in der einem so viele Zeitungen täglich erzählten, dass alles nicht wirklich so sei, wie man es doch jeden Tag wahrnahm, war es vielleicht ganz gut, sich an diesen Philosophen zu erinnern.

Sie suchte zuerst den Tagesmerkur auf, um die genaue Adresse zu erfragen. Aber als sie ihn erreichte, hielt sie den Horch überrascht an.

Die Zeitungsredaktion befand in einem schmalen Haus, über dessen Eingang der Schriftzug des Blatts prangte. Der Türsturz war offenbar nachträglich von einem Steinmetz angebracht worden, denn das Haus war eigentlich zu einfach dafür: ein von einem Tympanon gekröntes Portal mit weiß-blauen Ranken, die von vergoldeten Rosetten unterbrochen wurden – wie ein Armband mit Blumenranken aus Lapislazuli am Handgelenk einer Frau. Es sah aus, als wäre hier früher ein Laden gewesen, denn im Erdgeschoss befanden sich zwei große Fenster. Eines davon

«Guten Tag. Mein Name ist Clara Bruckner, ich möchte zu René Kurowsky.»

«Ich bin nur der Wachdienst. Warten Sie bitte, ich frage nach.»

Wachdienst?, dachte Clara überrascht. Seit wann brauchte eine Zeitung einen Wachdienst? Hier gab es doch nichts zu stehlen.

Der Wachmann kam mit einem hageren älteren Mann mit akkurat geschnittenem Spitzbart zurück. Er erinnerte sie ein wenig an Karl Valentin, nur weniger derb. Wenn sie ihn auf der Straße getroffen hätte, hätte sie ihn eher für einen Musiker gehalten. Vielleicht einen Geiger, aber vermutlich kam ihr der Gedanke nur, weil er so lang und dünn war, wie man es auch Paganini nachsagte.

«René Kurowsky ist heute nicht hier. Er hatte … einen Unfall.»

Clara starrte ihn erschrocken an. Im ersten Moment kam ihr der Gedanke ans Fliegen.

«Nichts Lebensgefährliches», versuchte er sie zu beruhigen. «Wir hatten Besuch von ein paar SA-Schlägern.»

«Er hat sich in eine Schlägerei verwickeln lassen?», stieß Clara hervor.

«Er hatte gar keine Wahl. Die waren darauf aus, Juden zu verprügeln, und ganz besonders solche, die den Mund aufmachen», schnaubte der Mann. «Occamstraße sieben, zweiter Stock.»

 

Als René auf ihr Klopfen die Tür öffnete, erschrak sie. Er trug keine Jacke, und das Hemd war oben geöffnet, als hätte er Schwierigkeiten gehabt, Luft zu bekommen. Quer über die

«Warst du beim Arzt? In der Redaktion sagten sie mir, was passiert ist.»

Er machte einen Schritt zur Seite, um sie hereinzulassen, und sie trat in einen schmalen, mit Fischgratparkett belegten, fensterlosen Flur. Mehrere hohe Türen mit Glaslunette zweigten davon ab. Er öffnete die erste, und sie standen in einem hellen Raum mit zwei hohen Sprossenfenstern, die auf die Straße hinuntersahen.

«Es ist wirklich nicht so, dass ich zu viel riskiert hätte. Niemand hat damit gerechnet.»

«Schon gut.» Aus irgendeinem Grund war Clara einfach nur froh, dass nichts Schlimmeres passiert war. Sie tauschten ein verlegenes Lächeln.

Clara war noch nie in Renés Wohnung gewesen. Das Mobiliar passte zu ihm, es wirkte wie aus verschiedenen Ländern zusammengewürfelt. Ein mit Leder bespannter Schrankkoffer, der Tisch aus einem hellen Holz, das sie nicht kannte, mit einer wunderschönen Maserung, Korbsessel und ein ebenfalls mit Leder bezogenes Kanapee. Den Boden bedeckte ein Teppich mit einem fremdartigen Muster in Naturtönen. Alles war leicht, was dem Raum zusammen mit den großen Fenstern eine Schwerelosigkeit verlieh, als könnte man alles an einem Tag verschiffen, wenn man gerade Lust darauf hatte. Das verbindende Element war nicht das Spiel wie beim Art déco, sondern die Sehnsucht.

«Oh, willst du dich setzen?», besann sich René auf seine Manieren. Er schubste einen Haufen loser, eng beschriebener Blätter von einem Sessel und stapelte sie auf dem Tisch. Der Stapel wurde zu hoch und drohte, wieder herabzurutschen.

Seine Verlegenheit war irgendwie unwiderstehlich. Clara ließ sich in den Korbsessel fallen. «Ach, du solltest mein Schlafzimmer sehen.»

Er blickte auf, und sie biss sich auf die Lippen. Die Erwähnung ihres Schlafzimmers war nicht gerade geschickt. «Also, sie wollten dich zusammenschlagen, nur weil du Jude bist?»

René hob die Brauen, als wollte er eine spöttische Bemerkung machen, aber dann hielt er inne. «Weißt du, wie es sich anfühlt, wenn dir jemand das Gefühl gibt, du wärst von Geburt an wertlos?», fragte er plötzlich.

«Ich bin eine Frau. Natürlich weiß ich das.» Auch wenn es nicht dasselbe war, sie konnte sehr gut nachfühlen, was dieses dumpfe Gefühl der Machtlosigkeit bedeutete. Die niederdrückenden Fragen, warum, woher dieser Hass und diese Verachtung kamen. Die bohrenden Zweifel im Inneren. Die heimliche, nur schwer zu unterdrückende Wut, weil man sich wider besseres Wissen doch bei der Frage ertappte, ob man überhaupt das Recht hatte, zu existieren. Sie hatte das Bedürfnis, ihn aufzumuntern. «Du siehst jedenfalls auch nicht besser aus als damals nach deinem Absturz», meinte sie. «Und dieses Mal bist du ganz und gar unschuldig daran.»

René stand noch immer, die Hand auf der Tür des Schrankkoffers. «Es ist Zufall», sagte er gepresst. «Blinder, launischer Zufall. Man kann sich weder schützen noch ihn herausfordern. Ich weiß es, denn ich habe es versucht. Es passiert oder nicht, es gibt keinen Sinn darin.»

Überrascht sah Clara ihn an. Sie hatte sich immer gefragt, was ihn antrieb zu diesen halsbrecherischen Abenteuern.

«Ich bin damit aufgewachsen, dass man ‹Jude› hinter mir

Er unterbrach sich, schüttelte den Kopf. «Mein bester Freund, Wilhelm. Er hatte eine Verlobte. Ich dachte, wenn es einen von uns trifft, dann mich. Aber es traf ihn. Ich sah die Granate einen Augenblick, bevor sie aufschlug. Einen Augenblick, bevor sie ihn in Fetzen riss und die Druckwelle mich meterweit durch den Graben schleuderte.» Er sah sie an und wirkte so verloren, wie sie ihn noch nie erlebt hatte. «Wir standen nur ein paar Schritte voneinander entfernt. Nur wenig weiter rechts, und wir wären beide tot gewesen. Aber sie flog nicht weiter nach rechts. Sie flog genau auf ihn zu. Genau auf ihn.»

Mit einem Schlag war ihr klar, warum er das Risiko suchte. Es war wie eine permanente Sucht, sich zu vergewissern, ob es Zufall gewesen war, dass er noch lebte, oder ob es einen Sinn darin gab. Ob der Fluch zu überleben den Richtigen getroffen hatte. Sie kannte diese Gedanken gut. Zu gut.

«Das Schlimmste daran ist das Gefühl, dass ich nichts tun

«Wenn du sagst, du hast es versucht, meinst du …» Clara unterbrach sich. Sie war sich nicht sicher, ob sie die Antwort hören wollte.

René presste die Lippen zusammen. Vielleicht wollte er die Antwort ebenso wenig wissen wie sie. «Wenn du da oben bist, ist es gleich, ob du Jude bist oder Christ. Das Einzige, was zählt, ist, ob du die Maschine beherrschst. Das Risiko reduziert alles aufs Wesentliche. Es zwingt einen zur Konzentration. Es ist, als würde ich den Augenblick noch einmal erleben. Aber dieses Mal habe ich die Kontrolle. Ich habe das Steuer in der Hand.»

«Du hast nie versucht, dich umzubringen», sagte sie überrascht. «Alle denken das, aber es ist nicht wahr. Du versuchst zu überleben!»

Er sah sie nachdenklich an. War es das erste Mal, dass ihm jemand das sagte?

«Ich verstehe dich besser, als du vielleicht ahnst», sagte Clara leise. Das war die Wahrheit. Sie verstand ihn so gut, dass es weh tat. Ihre Abneigung, Alkohol zu trinken, ihr Bedürfnis, Sonne und Wind auf der Haut zu spüren, hatten denselben Grund. Die Spanische Grippe konnte sie damals auch nicht kontrollieren. Die Erkenntnis war so überwältigend, dass ihr die Tränen kamen. «Indem ich gesund lebe, versuche ich wohl noch immer, meinen Bruder zurückzuholen.»

Das plötzliche Gefühl der Verbundenheit war so stark, dass sie das Bedürfnis hatte, ihn zu berühren. Clara stand auf und

Sie hatte solche Sehnsucht danach, ihn zu küssen, dass es kaum auszuhalten war. Ihre Hände durch sein schwarzes Haar gleiten zu lassen, das leichte Zittern in seinem Körper zu spüren, wenn sich ihre Lippen berührten, die stürmische Art, wie er ihren Kopf in die Hände nahm. Sie waren allein. Der Gedanke, sich zu lieben, auf dem Sofa oder nebenan in seinem Bett, war so stark, dass es beinahe unerträglich wurde. Wenn sie es hier und jetzt täten, würde es niemand erfahren.

Stattdessen nahm sie einfach seine Hand und hielt sie fest.