«Paula, wie weit bist du?»
Magdalena lief zum dritten Mal nervös zwischen Speisezimmer und Küche hin und her. Alfred brachte nicht oft Besuch zum Mittagessen mit, und heute war Himmelfahrtstag. Da wollte sie einen perfekten Eindruck machen. Schon vier Hausierer hatte sie heute Morgen weggejagt. Es gab so viele Arbeitslose, die bettelten oder Trödel verkauften, und viele rochen nach Fusel und boten einen unheimlichen Anblick mit ihren Beinstümpfen oder Glasaugen im unrasierten Gesicht. Nicht auszudenken, wenn eine solche Elendsgestalt hier herumlungerte. Magdalena strich über die grünen Samtvorhänge, die schon etwas verblichen waren. Aber wenn sie sie richtig raffte, sah man das kaum. Ein letztes Mal kontrollierte sie, ob die Spitzendeckchen gerade lagen, ob das Damasttuch und die passenden Servietten auf dem Tisch makellos waren und ob die Kristallgläser im richtigen Abstand zum guten Porzellan standen. Sie hatte der Köchin den Auftrag gegeben, Zicklein mit Bratkartoffeln und Rotkraut zu servieren. Eine Premiere für Paula, und zum Glück roch es wunderbar. Während der Inflation hatten sie nur selten Fleisch gehabt. Magdalena hatte die Köchin schon entlassen wollen, aber Alfred hatte gemeint, ein Firmeninhaber ohne Köchin sei undenkbar. Jetzt war sie froh, sie zu haben, denn gutes Personal war schwer zu finden.
Magdalena inspizierte noch einmal die Töpfe in der altmodischen Küche, aber alles sah gut aus. Sie heizten noch immer mit demselben alten Eisenofen. Seitlich gab es ein Türchen, in welches das Brennholz geworfen wurde. Es war glühend heiß, man konnte es nur mit einem Topflappen anfassen, wenn der Ofen brannte. Da er aus Gusseisen war, strahlte er genug Wärme ab, um auch als Heizung zu dienen. Auch die Köchin war vorzeigbar: Sie trug wie geheißen ihre weiße Schürze mit den Rüschen über dem schwarzen Kleid und das weiße Häubchen.
«Gut so.» Erleichtert verließ Magdalena die Küche und blieb vor dem Spiegel im Flur stehen. Sie hatte das Haar streng nach hinten gekämmt und den geflochtenen Zopf im Nacken zu einem Knoten gewunden. Haare waren verführerisch, sagte Alfred, und er wollte nicht, dass ein anderer Mann ihr offenes Haar zu sehen bekam. Schade, dachte Magdalena. Es stand ihr viel besser. Gestern hatte sie Clara getroffen, als die gerade vom Friseur gekommen war. Sie hatte sich jetzt auch so eine moderne Kurzhaarfrisur schneiden lassen. Man konnte sie mit Spangen oder Stirnbändern schmücken, und tatsächlich hatte über Claras Ohr eine goldene Spange geglänzt. Magdalena hatte sie heimlich beneidet, aber laut hatte sie nur gefragt, ob Clara nicht Sorge hätte, für ein Flittchen gehalten zu werden. Danach hatte sie sich dafür geschämt.
Seufzend sah sie an sich herab. Es gefiel ihr ja, dass Alfred so eifersüchtig war. Es gab ihr das Gefühl, beschützt zu werden und dass sie ihm etwas bedeutete. Aber manchmal hätte sie sich auch gern geschminkt und so verführerisch gekleidet, wie es Clara neuerdings tat, mit kurzen Röcken, in denen man die Beine bis zum Knie sah, und Strümpfen mit Naht. Stattdessen trug sie eine hochgeschlossene Bluse und einen schmalen Rock, der bis fast zu den Knöcheln reichte. Sie kniff sich in die Wangen und biss sich ein paarmal auf die Lippen, damit sie rot wurden. Es wäre besser, nicht über Clara nachzudenken, sagte sie sich. Deren Fragen nach Alfred hatten sie gekränkt. Dass sie wieder Geld hatten, war ein Wunder, für das Magdalena jeden Tag dankbar war, und es interessierte sie nicht, woher es kam. Vielleicht sollte sie sich ein wenig von Clara zurückziehen. Alfred hatte so viele Freunde.
Vor der Tür hörte sie Männerstimmen. Alfred. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf und ging zur Tür, die sich gerade öffnete.
Im selben Moment taumelte zurück. Mit einem Schlag verschwand das Leben aus ihr und ließ sie als leere Hülle zurück. Die Kraft wich aus ihren Beinen. Ihr Gesicht wurde eiskalt. Sie öffnete die Lippen, aber kein Ton kam.
Sie kannte Alfreds Begleiter.
Die kindlich vollen Lippen hatte er noch immer, doch jetzt wuchs ein hellblonder schmaler Schnurrbart darüber.
Die mitleidlosen hellen Augen.
Das letzte Mal hatte sie diese Augen gesehen, als er ihr erlaubt hatte, den Rock wieder über die Beine zu ziehen. Als er seine Hose zugemacht, sein Gewehr wieder aufgenommen und sie keines weiteren Blickes mehr gewürdigt hatte. Sie erinnerte sich an das Letzte, was sie aus seinem Mund gehört hatte, als er aus dem Zimmer ging, während sie noch immer wie betäubt auf dem Sofa gelegen hatte: «Ich wusste es. Kleine Bürgerschlampe!»
«Magdalena, das ist Erich Schwarz, aus dem Abstinenzlerverein. Meine Frau.» Alfred blickte sie forschend an. «Was ist los?»
Sie war sich nicht sicher, ob er sie überhaupt wiedererkannte. Er betrachtete sie mit der höflichen Distanz, die man Fremden gegenüber an den Tag legte. Vielleicht war sie nicht die Einzige gewesen, mit der er es getan hatte. Vielleicht war es ihm schlicht gleichgültig gewesen. Vielleicht waren die Gesichter all dieser Frauen in seinem Gedächtnis leere helle Flecken. Gesichtslose Schemen, ohne Gefühle, ohne Wert. Menschenmaterial. Konnte man so etwas vergessen? Wenn er spielte, dann sehr überzeugend.
«Ich bin entzückt», sagte er und trat auf sie zu, um ihr die Hand zu küssen.
Magdalena taumelte zurück und hielt die Hände vor ihre zitternden Lippen. «Ich … sehe nach der Köchin», brachte sie hervor.
In der Küche lehnte sie sich schwer atmend gegen den Türrahmen. Ihr Herz pochte wild, sie zitterte am ganzen Körper. Am liebsten hätte sie geweint, nur um den Druck auf ihrem Hals zu lösen, das Würgen in ihrer Kehle, den harten, schmerzenden Knoten in ihrem Bauch. Aber es kamen keine Tränen.
Es dauerte nur kurz, dann kam Alfred ihr nach.
«Was ist denn nur los mit dir?», zischte er ungehalten. Er sprach gedämpft, und kurz blickte er über die Schulter, ob Schwarz ihn hören konnte. «Weißt du, was du gerade für einen Eindruck hinterlassen hast?»
Magdalena wollte etwas sagen, aber es gelang ihr nicht. Ihre Lippen zitterten, und ihre Zunge war wie taub.
«Er ist ein wichtiger Mann, sowohl unter den Abstinenzlern als auch in der Studentenbewegung der NSDAP. Wie kommst du dazu, einfach hysterisch wegzurennen? Ich will, dass du sofort hineingehst und dich entschuldigst!» Er betrachtete sie kopfschüttelnd, dann wollte er zurück ins Speisezimmer. Magdalena hielt ihn fest.
«Dieser Mann …» Ihre Lippen zitterten so stark, dass sie kaum sprechen konnte. «Er war bei den Rotgardisten.»
Alfred blieb stehen. «Na und? Viele in der NSDAP waren früher bei den Roten. Was ist, kommst du jetzt?»
Magdalena zitterte am ganzen Körper. «Ich kann nicht», flüsterte sie.
Alfred verdrehte die Augen. «Gott, was bist du hysterisch!»
Alles in ihr wehrte sich dagegen, ihm zu sagen, was passiert war. Aber dann würde Alfred darauf bestehen, dass sie mit hinüberkam und diesen Menschen bediente, als wäre nichts geschehen. «Er war schon einmal hier … damals, mit den Kommunisten.» All die Jahre hatte sie vor kaum etwas mehr Angst gehabt, als dass er davon erfahren würde. Sie hatte die Erinnerung tief in ihrem Inneren weggesperrt, und sie hatte dieses Schloss nie wieder öffnen wollen. Aber wenn sie es ihm jetzt nicht sagte, würde er sie für krank halten. «Sie haben das Haus durchsucht … Er hat mich gezwungen … auf dem Sofa in der Stube … Ich dachte, er bringt uns alle um, wenn ich ihn nicht machen lasse.»
Alfred fuhr zusammen. «Was stehst du hier herum und hältst Maulaffen feil!», fuhr er Paula an, die mit großen Augen am Herd stand. «Raus hier!» Lautlos huschte Paula aus der Küche. Er wandte sich wieder Magdalena zu und starrte sie an. «Willst du damit sagen …?»
Magdalena presste die Augen zusammen. Ihre Lippen bebten, dass sie nicht antworten konnte.
«Hat er dich festgehalten? Dich geschlagen?»
Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. «Er hatte das Gewehr. Er hat mir befohlen, mich hinzulegen. Ich hatte Angst, wenn ich nicht tue, was er sagt, erschießt er uns alle.»
Alfreds Augen wurden schmal. «Er hat dich also nicht vergewaltigt.»
«Nein … Doch! … Ich weiß nicht …»
Alfred schloss die Augen. Er atmete tief durch, dann schüttelte er den Kopf. «Da ist man so lange mit einer Frau verheiratet und kennt sie doch nicht.» Seine Stimme klang maßlos enttäuscht. «Ich dachte, du wärst anständig. Nicht wie diese Schlampen.»
Das Wort tat so weh, dass Magdalena beinahe zusammengebrochen wäre. Am liebsten hätte sie sich zu Boden sinken lassen, einfach nur noch geweint und die Arme schützend über den Kopf gehalten, als könnte sie dadurch die Worte abhalten, wie Schläge auf sie einzudringen. Aber sie durfte nicht weinen. Niemals weinen. Weinen würde sie schwach und hilflos machen, und wenn selbst er sie nicht beschützte, war niemand mehr da. Weinen machte verwundbar, und verwundbar durfte sie nicht sein. «Ich wollte es nicht», flüsterte sie.
«Du hast es getan.»
Einen Moment standen sie schweigend nebeneinander. Mit einem Mal war ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen ihnen. Magdalena hätte sich gewünscht, dass er ihre Hand genommen und ihr tröstende Worte gesagt hätte. Aber er stand nur da und schwieg. Vielleicht war es doch ihre Schuld gewesen? War sie nicht anständig angezogen gewesen? Magdalena fühlte sich so unendlich verloren. Ihr Leben lang hatte sie sich bemüht, ehrbar zu sein, aber sie hatte das Gefühl, je mehr sie sich bemühte, desto schlimmer machte sie es.
«Ich werde mir später überlegen, was zu tun ist», sagte Alfred endlich. «Aber jetzt wirst du hinübergehen und deine Pflicht als Hausfrau erfüllen. Hast du mich verstanden?»
Auf einmal hatte sie Angst vor ihm. Fast genauso wie damals vor dem Mann in ihrem Wohnzimmer. Sie verlor das Gefühl in ihrem Körper. Genau wie damals wurde sie ein lebloses Werkzeug, das einfach nur funktionierte. Das mit gelähmter Seele willenlos Befehle ausführte. «Ja, Alfred», sagte sie leise. «Natürlich.»