Zur selben Zeit saß Magdalena lesend im Salon des Brucknerschlössl. Das Haus war ihr beinahe genauso vertraut wie ihr eigenes. Als Kinder hatten Clara und sie hier manchmal heimlich gespielt, bis Marei sie gefunden und in den Garten hinausgeworfen hatte. Auf ihren Knien lag weich und schwer Dorian Gray, und sein zufriedenes Schnurren ging immer wieder in Schnarchen über. Sonderbar, dass man Katzen als so friedvoll wahrnahm, obwohl man sie doch zum Töten von Mäusen hielt.
Sie hatte sich eines der Bücher aus der Bibliothek geholt, Der Untertan von Heinrich Mann. Der Autor lebte in München und war gerade in Mode. Sie genoss das Lesen, obwohl sie das Buch ein wenig verwirrte. Sie war sich nicht sicher, ob der Autor den Helden nicht die ganze Zeit lächerlich machte. Als es klingelte, blickte sie kaum auf.
«Frau Bauer? Ihr Mann.»
Katharina stand in der Tür. Hinter ihr traten Alfred und ihr Bruder Ludwig ein. Magdalena ließ das Buch sinken.
Alfred wirkte weder freundlich noch aufgebracht. Er betrachtete sie kühl. «Hier versteckst du dich also», sagte er ohne Einleitung. Es war der Tonfall eines Vaters, der ein ungehorsames Kind gesucht hat. «Ist dir eigentlich klar, in welche Lage du mich bringst?»
Sie blickte sich um. Clara war hinüber ins Sudhaus gegangen, und Magdalena wünschte, sie wäre schon zurück. Sie bemühte sich, Haltung zu bewahren. «Es tut mir leid. Aber ich möchte mich scheiden lassen.»
«Was?» Mit einem Schlag fiel die kühle Beherrschung von Alfred ab. «Du bist ja verrückt! Ich werde Doktor Erl rufen lassen, er soll dich in ein Sanatorium einweisen!»
Magdalena war verwirrt. Als sie mit Clara gesprochen hatte, hatte alles einen Sinn ergeben, aber jetzt war sie verunsichert. Sie war es nicht mehr gewohnt, ihre Entscheidungen selbst zu treffen. Leise sagte sie: «Ich bin nicht krank.»
«Doch, das bist du!», schrie Alfred sie an. Seine Haut rötete sich. Es war, als würde er von einem Moment auf den anderen zu einem anderen Menschen werden. Genau wie damals, als er auf der Straße einen Wildfremden angegriffen hatte. «Ludwig denkt das auch, nicht wahr, Ludwig? Sie wollte sich nie scheiden lassen, und dass sie jetzt damit kommt, ist ein Zeichen von Wahnsinn. Wer hat dir das in den Kopf gesetzt? Clara, diese Bolschewikenfreundin?»
«Sie ist keine Bolschewikenfreundin», wandte Magdalena ein, aber Alfred schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
Entsetzt starrte sie ihn an. Ihr Gesicht brannte, und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie sah nach Ludwig, der nur stumm von einem Bein aufs andere trat und zur Seite blickte. Es war ihm peinlich, aber er tat auch nichts, um seine Schwester in Schutz zu nehmen.
«Du bist ja schon völlig verwahrlost», sagte Alfred hart. «Hast du dich womöglich besoffen?» Er stellte sich dicht vor ihr auf und beugte sich herunter, als wollte er riechen, ob sie getrunken hatte. «Du wirst in der Gosse landen ohne mich, und genau da gehörst du dann auch hin!»
Magdalena hätte ihn am liebsten angeschrien, den Mund zu halten. Aber sie hatte auch Angst. Alfred besaß mächtige Freunde, und wenn Clara mit den Waffengeschäften recht hatte, waren es Leute, mit denen man sich nicht anlegen sollte. «Ich habe das Geld in die Ehe gebracht», versuchte sie einzuwenden.
Alfred lachte hart. «Du hast eine marode Firma in die Ehe gebracht. Ohne mich würdest du längst gegen Geld Deckchen besticken. Du kennst niemanden außer meinen Freunden. Du hast niemanden. Du bist ein Nichts ohne mich.» Er beugte sich zu ihr. «Wenn wir beide uns trennen, wem, denkst du, werden die Leute dann glauben?»
Magdalena verstand die Drohung. Auf ihre Mutter konnte sie nicht zählen, Alfred stand der alten Frau näher, als sie es je getan hatte. Er konnte ihren Ruf ruinieren. Er konnte sie zu einer Person machen, mit der niemand mehr reden würde. Die man auf der Straße bespuckte und beschimpfte. Die ohne Geld und ohne Familie allein dastand. Magdalena wusste nicht, ob sie die Kraft hatte, diese Vorstellung auszuhalten.
«Sie ist was?»
Als Clara aus dem Sudhaus kam, hatte sie erwartet, Magdalena mit Heinrich Manns Untertan auf dem Sofa vorzufinden, wo sie sie zurückgelassen hatte. Aus der Küche duftete es schon nach dem Abendessen, Krautschupfnudeln, und Dorian Gray strich zur Begrüßung um ihre Beine. Stattdessen war Katharina ihr noch in der Halle entgegengelaufen.
«Wieder mit ihrem Mann nach Hause.» Katharina knetete die Hände vor ihrer Schürze und schien sich zu fragen, ob sie etwas falsch gemacht hatte. «Als er ankam, war er ziemlich aufgebracht. Ich habe ihn sogar schreien gehört. Aber als sie dann gegangen sind, hat er ihr die Hand geküsst.»
Clara schnaubte wütend. Es war leicht, Frauen die Hände zu küssen, wenn man dafür Unterwerfung bekam. Tanzgigolo!
Ohne ein weiteres Wort lief sie hinauf ins Kontor und rief Magdalena an. Das Essen konnte warten.
«Ich habe es mir überlegt», antwortete Magdalena am anderen Ende der Leitung. «Ich habe vielleicht etwas übertrieben. Alfred und ich haben uns ausgesprochen. Es tut mir leid, dass ich dir Umstände gemacht habe.»
«Hat er versprochen, dass er dich nicht mehr mit diesem Schwarz belästigen wird?»
«Clara, überlass meine Ehe mir», erwiderte Magdalena scharf.
Clara stutzte. «Ist er im Zimmer? Hört er mit?»
Zögern.
«Wenn du willst, dass ich dich da raushole, sag jetzt genau diese Worte: Nein danke.»
Magdalena schwieg. Sekunden verrannen. Eine nach der anderen, schmerzhaft. Schwer. Endlich erwiderte sie: «Es geht mir gut. Ich werde ein paar Tage … verreisen. Danach wird es mir bessergehen. Alfred ist sehr fürsorglich.»
«Und seine Waffenschiebereien? Interessiert dich das jetzt auch nicht mehr? Alfred verkauft Waffen, ich weiß nur nicht, an wen.»
«Später, Clara. Ein andermal.» Es klickte. Sie hatte aufgelegt.
Clara legte langsam den Hörer ab und sah sich um. In der Tür stand Katharina.
«Waffengeschäfte? Der Herr Bauer?»
Es war gar nicht so einfach, Katharina zu beruhigen. Die Vorstellung, dass jemand in illegale Geschäfte verstrickt war, erschreckte sie, und sie wollte zur Polizei. Erst als Clara ihr versprach, etwas zu unternehmen, ließ sie sich beschwichtigen.
Clara beschloss, Magdalena erst einmal ein paar Tage Zeit zu geben. Wenn sie verreiste, konnte sie ohnehin nichts tun. Vielleicht sah Magdalena ja nach ein paar Tagen mit dem Tanzgigolo von selbst, dass die Idee mit der Scheidung nicht so schlecht gewesen war. Sie musste sich ganz sicher sein, sonst würde sie das nicht durchstehen.
Diese Woche gehörte nur Clara und René. Vielleicht stimmte es, was in den modernen Liedern gesungen wurde, und die Ehe war der sicherste Weg, die Liebe zu zerstören. So oder so, Clara wollte es nicht riskieren. René machte sie auf eine Weise glücklich, die sie noch nie erlebt hatte. Sie bekamen nicht genug voneinander. Anfangs trafen sie sich im Schutz der Dunkelheit, bei ihm oder im Automobil, sodass es weniger auffiel. Giesing war nun mal nicht Berlin, wo wilde Ehen nichts Ungewöhnliches mehr waren. Hier sahen die Leute genau hin, und samstags gingen sie in die Kirche, wo sie zuerst dem Pfarrer die eigenen Sünden beichteten und danach ihren Saufkumpanen im Wirtshaus die der anderen. Vielleicht lag es an diesen Nächten, dass Clara allmählich zu hoffen begann, dass es nun wieder aufwärtsgehen würde. Schlimmer als die Jahre des Krieges, der Seuche und danach der Hyperinflation konnte es ohnehin nicht mehr werden. Sie war entschlossen, das Leben zu genießen. Und begann, sich mit René auch in der Öffentlichkeit zu zeigen.
Sie tanzten in Schwabinger Gaststätten, sprangen in den Giesinger Auen nackt in die Isar. René nahm sie mit zu seinen Schwabinger Freunden, wo sich niemand um das Liebesleben anderer scherte. Clara bekam über ihren Onkel Benedikt und Franz von Stuck Einladungen zu Künstlergesellschaften. Zu Pfingsten gab es ein Fest im Künstlerhaus, das ihnen Benedikt enthusiastisch empfohlen hatte. Es lag am Lenbachplatz, direkt bei der Hauptsynagoge, und als sie gegen zehn Uhr abends aus dem Automobil stiegen, zog René sie an der Hand noch in das mächtige neuromanische Gebäude des Gotteshauses.
«Ich dachte, du bist nicht religiös», meinte Clara. Sie wickelte ihr Cape fester um die Schultern, es war kühl hier drin. Neugierig sah sie sich in dem eleganten dreischiffigen Bau mit den großen Kronleuchtern um. Sie war noch nie zuvor in einer Synagoge gewesen. So anders als eine Kirche sah es gar nicht aus, abgesehen davon, dass es keine Bilder gab und sich an den Seitenschiffen Emporen befanden.
«Bin ich auch nicht», erwiderte René. «Religionen trennen Menschen nur voneinander. Männer und Frauen. Gläubige und Ungläubige. Christen und Juden. Aber die Musik auf meiner Bar-Mitzwa-Feier war ziemlich gut», meinte er mit einem Augenzwinkern. Er küsste sie, und Clara genoss es, sein Haar in den Fingern zu spüren. «Es ist ein Teil meiner Geschichte, so oder so», sagte er. «Ich wollte, dass du sie kennst.»
Sie befreite sich und blickte sich um. Sonderbar, obwohl hier in der Stadt immer Juden gelebt hatten, wusste sie kaum etwas über sie. Es war spät, und vermutlich war niemand mehr hier. Dennoch wäre es ihr peinlich gewesen, sich bei ihrem ersten Besuch in einer Synagoge danebenzubenehmen. «Ist Küssen überhaupt erlaubt, hier drinnen? Ich will nicht respektlos sein.»
René zog sie wieder an sich. «Unsere Synagogen sind keine geweihten Orte wie bei euch. Außerdem sind für die liberalen Juden nach Abraham Geiger äußere Gebote nicht alles. Jedenfalls hat meine Mutter das immer gesagt. Aber vielleicht war es auch nur eine Ausrede, um Bratwurst essen zu können.»
Clara bezweifelte, dass jeder Rabbiner diese Theologie teilte. Wenn sie zu ihrem Pfarrer so etwas gesagt hätte, hätte er sie jedenfalls wegen Blasphemie angezeigt. Aber der Moment war zu schön, um zu diskutieren.
Als René und Clara zum Künstlerhaus hinüberkamen, sah man schon die unterschiedlichsten Menschen in dem kleinen Innenhof stehen. Clara begrüßte Benedikt und Vevi, und auch Franz von Stuck war da. René stellte sie als einen guten Freund vor. In diesen Kreisen wusste jeder, was das bedeutete, und Künstler nahmen es mit dem kirchlichen Ehesegen nicht so genau.
«Gabriel von Seidl hat das Gebäude errichtet, im Stil der Neorenaissance», sagte Clara, als sie die Stufen zum Eingang emporstiegen und ihre Einladungskarten abgaben. Aber eine Sekunde später dachte sie über so etwas nicht mehr nach.
Das Vestibül war ein heller Raum, ganz in weißem Marmor gehalten, der sich über eine breite Treppe nach oben öffnete. Mehrere Zimmer zweigten davon ab. Clara wusste, dass es eine kleine Bibliothek gab und ein Musikzimmer. Überall glänzende Flatterkleider, Lackschuhe und Seidenschals, schimmernde Perlen und glitzernde Steine an Stirnbändern. Es roch nach Eau de Cologne, nach den neuesten Pariser Damenparfüms. Schrilles Lachen, Frauen in Röckchen, die spaßeshalber Zylinder auf den kurzen Locken trugen. Clara fühlte sich wie in einem Palast oder einem Bordell, aber vermutlich war es eine ziemlich wilde Kombination von beidem.
Sie stiegen die Marmortreppe hinauf und erreichten einen Festsaal. Unwillkürlich sahen sie beide gleichzeitig nach oben.
Der Raum war zwei Stockwerke hoch. Riesige Glaslüster hingen von der Decke, Kaskaden von funkelnden Stäben, in denen sich das Licht brach. Farbreflexe irrten durch den Raum, warfen rosa und blaue Lichter auf weiße Smokinghemden. Vorn befand sich eine Bühne, die von einem hölzernen Bogen gerahmt war und so wirkte wie ein Plakat der Künstlervereinigung Secession. Über dem Bogen thronte eine vergoldete Figur. Die Decke bestand aus Holzkassetten, auf die Hunderte goldene Sterne gemalt waren, die funkelten wie der Himmel selbst. Im ersten Stock gab es eine schmale Empore, wo man sitzen konnte. Aber die wenigsten hatten Lust, sich niederzulassen. Obwohl der Abend gerade erst angefangen hatte, tanzten schon einige Paare: die Frauen mit blutrot geschminkten Lippen und dick umrandeten Augen, die Männer mit elegant zurückgekämmten Scheiteln und Gamaschen. Andere standen herum, tranken oder schnupften – vermutlich nicht unbedingt Tabak. Manche Nasen waren gerötet vom Kokain. Das Klirren von Sektgläsern, Musik, die es in den Beinen zucken ließ. Unwillkürlich bewegte Clara die Füße im Takt und begann, auf den Absätzen zu wippen. Die Kapelle spielte einen flotten Viervierteltakt.
«Kannst du Charleston tanzen?», fragte René. «In New York gab es kaum noch etwas anderes.»
«Oh ja!», rief Clara.
Er nahm sie bei der Hand und zog sie auf die Tanzfläche.
Der Charleston war erst dieses Jahr in Europa angekommen, aber er hatte sich schneller verbreitet als die skandalösen Gerüchte darüber. Ein paar alte Leute regten sich noch darüber auf, dass hier Frauen und Männer die Hinterbacken schwangen und mit den Armen ruderten, dass die Röcke flogen. Aber hier interessierte das längst niemanden mehr. Clara hatte vom ersten Moment an Spaß an diesem Tanz gehabt, der irgendwo zwischen epileptischem Anfall und Cancan angesiedelt war, je verrückter, desto besser. Es war ein berauschendes Gefühl, ihren Körper so zu spüren, ihn an seine Grenzen zu bringen. Ausgelassen warf Clara die kurzen Haare. Sie fühlte sich so jung und sportlich wie nie. Das Abendkleid flatterte um ihre Beine und zeigte sie bis weit übers Knie, sie hob die Arme und warf den Kopf zurück. Niemand hier hatte noch Lust, an Krieg und Tod und Krankheit zu denken. Sie waren jung, und sie lebten!
Der Charleston endete, und lachend und mit geröteten Gesichtern sahen sich alle an.
Der Abend verging wie im Rausch. Burlesque-Tänzerinnen im Federkostüm traten auf der Bühne auf, und eine zog sich sogar bis auf ein glitzerndes Höschen gänzlich aus. Als sie das Oberteil ins Publikum schleuderte, warf Clara einen forschenden Blick zu René, aber der lachte sie aus, als er es bemerkte. Danach kam ein Tango. Derselbe wie damals.
René streckte die Hand aus. «Lust auf ein Spiel?»
Sie legte den Arm um seinen Nacken und sah ihm in die Augen.
Als sie die ersten Schritte machten, begann Clara unwillkürlich zu lächeln. Genau wie damals spürte sie die leiseste Spannung in seinem Körper, die ihr verriet, was er als Nächstes tun würde. Alles stürmte auf sie ein, das Klirren der Gläser, das schrille Lachen, die Musik, die Gerüche, das Gluckern, wenn nachgeschenkt wurde. Sie ließ es durch sich hindurchströmen wie das Leben, genoss es, als er sie fester an sich zog und sie das unsichtbare, verlangende Beben seiner Lippen spürte. Die Stirn dicht an seiner glitt sie über die Tanzfläche und dachte nur: Wie schön ist das Leben, wie atemberaubend schön!
Als der Tanz endete, führte René langsam ihre Hand an seine Lippen und flüsterte: «Wollen wir hinausgehen?»
Im Innenhof konnte man frische Luft schnappen, aber sie gingen ein paar Schritte weiter auf den Platz hinaus und zu dem großen Wittelsbacher Brunnen im italienischen Stil – ein halbrundes seichtes Becken, in das sich eine Reihe von Wasserspeiern ergossen. Aus einer stilisierten Felslandschaft oberhalb schienen ein Mann auf einem fischschwänzigen Pferd und eine Amazone auf einem ebensolchen Stier aus dem Wasser zu reiten: Sinnbilder für die zerstörerische und schöpferische Kraft des Elements. Dahinter lag das Hauptbecken mit dem Römischen Brunnen. Die Nacht war mild und sommerlich, und der Wind wehte den Duft des Südens über die Berge. Clara zog Schuhe und Strümpfe aus und warf sie auf den Rand des unteren Beckens. Barfuß watete sie durch das seichte Wasser zum Rand des oberen Beckens. Ihr Kopf wirbelte von der Musik und dem Tanz, als hätte sie getrunken oder Kokain genommen.
«Los, komm!», rief sie.
Das Wasser war kalt, und der leichte Wind fegte ihr ein paar Spritzer von den Wasserspeiern ins Gesicht. Clara lehnte sich an den kühlen, feuchten Marmor. Lächelnd kam René ihr nach. Er stützte einen Arm neben ihr auf und küsste sie lange, auf eine Weise, die alles andere als unschuldig war. Ihre Kleider und ihre Haare waren von feinen Wasserperlen überzogen. Claras Saum und Renés Hosenbeine waren durchnässt, aber keiner von ihnen wollte jetzt wieder hineingehen. Sie strich über seine Brust, um das schnelle Heben und Senken seines Atems zu spüren. Seine andere Hand glitt von ihrer Hüfte langsam hinab auf den Oberschenkel. Claras Körper begann zu pochen. Sie könnten sich jetzt und hier mitten auf dem nächtlichen Platz lieben, dachte sie, und niemand würde es sehen.
«Fräulein Bruckner?»
Clara fuhr aus dem Bett hoch, als es an ihre Schlafzimmertür klopfte und Katharina ihren Namen rief. Sie war nackt. Durch die hohen Fenster fiel Sonnenlicht und wärmte die Eichendielen. Auf der Kommode duftete der Flieder. Ihr Blick fiel auf das Kissen neben ihr. Gestern Abend, fiel es ihr ein. Der Brunnen. René war dasselbe durch den Kopf gegangen wie ihr, und beim Denken war es nicht geblieben. Später hatte er sie nach Hause gebracht, und sie hatte ihn nicht gehen lassen wollen. Geschlafen hatten sie nicht mehr viel. Kein Wunder, dass sie noch im Bett lagen.
«Fräulein?», rief Katharina wieder.
«Ja … einen Moment», rief Clara. René murmelte etwas im Halbschlaf und wollte sie wieder an sich ziehen. Sie beugte sich über ihn und flüsterte: «Das ist die Köchin! Sie darf dich hier nicht sehen!»
Er blinzelte verschlafen. «Verfluchte Vorstadtprüderie!»
Sie wollte ihn schon kurzerhand aus dem Bett schubsen, aber er kam hoch, küsste sie flüchtig und verschwand hinter dem Paravent. Clara warf ihm seine Kleider zu. Er fing sie mit einer Hand auf und machte eine so komische Verbeugung, dass sie lachen musste.
«Verschwinde!», kicherte sie.
Einen Augenblick später hatte sie den Morgenmantel übergeworfen und öffnete die Tür.
Katharina schien es peinlich zu sein, sie geweckt zu haben. Immerhin ließ sie sich nichts anmerken, ob sie den Grund für Claras langen Schlaf gesehen hatte. «Eine Dame ist am Telefon. So ein fremdländischer Name.»
Fremdländisch – Tilda DuCourt?
Das Kontor lag im ersten Stock direkt unter ihrem Schlafzimmer. Clara schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging hinter der Köchin hinab und durch den Flur im ersten Stock, wo auch die Bibliothek – das ehemalige Herrenzimmer – und die Gästeräume lagen. Fröstelnd zog sie den Morgenmantel über der Brust zusammen und trat ein.
Katharina reichte ihr den Hörer und verschwand lautlos. Clara setzte sich auf den Stuhl ihrer Mutter an den Schreibtisch und zog sich gähnend das Telefon heran.
«Guten Morgen?»
Am anderen Ende hörte sie eine Frau lachen. «Guten Morgen? Es ist zwölf Uhr. Selbst ich bin schon wach.»
Es war tatsächlich Tilda. Clara sah nach der messinggerahmten Uhr auf dem Fenstersims. Und es stimmte. Sie würde Peter gegenüber eine Ausrede finden müssen, warum sie schon wieder einen Vormittag verschlafen hatte. «Tilda! Das ist eine Überraschung.»
«Aber ja, Liebes, und es wird noch besser.»
Clara war mit einem Schlag hellwach.
«Ihr Oktoberfest ist beschlossen», verkündete Tilda. «Was sagen Sie nun, Kindchen? Es wird zwar keine Nackttänzerinnen geben, was ich persönlich bedauerlich finde. Aber Sie brauchen keinen Ferdinand Schwabinger, um es auf die Beine zu stellen!»
Als Clara den Hörer auflegte, strahlte sie triumphierend. Jetzt konnte Schwabinger sein Märchenkönigsbier selbst brauen! Den Einstieg ins Brucknerbräu konnte er jedenfalls vergessen. Sie wollte wieder nach oben, um die Nachricht mit René zu teilen.
«Fräulein Bruckner?» Katharina hatte in der Tür gewartet und griff nach ihrem Ärmel.
Clara sah sie an, und sie ließ los.
«’tschuldigung, Fräulein Bruckner, die Sache mit den Waffengeschäften. Wollen Sie zur Polizei?»
Clara seufzte. «Ich bin mir nicht sicher. Die Polizei verfolgt diese Leute nur, wenn es gar nicht anders geht. Dafür reichen die Beweise nicht.»
«Aber wir müssen doch was tun! Das geht doch nicht, dass der damit davonkommt!»
«Ich weiß, aber was wir haben, reicht nicht. Ich brauche mehr. Vielleicht kann ich von Magdalena etwas erfahren, wenn sie zurück ist. Im Moment ist es zu früh.»
«Das heißt, Sie wollen nichts tun?»
Clara überlegte. «Nein, das heißt es nicht. Aber ich muss warten.»
«Alles in Ordnung?», fragte René, als sie wieder zurück in ihr Schlafzimmer kam. Er hatte sich angezogen und bürstete gerade vor dem Standspiegel das dichte schwarze Haar zurück. Jackett und Weste lagen noch auf dem Sessel, nur die Hosenträger hatte er schon über das weiße gefältelte Hemd gezogen. In der Redaktion würden sie sich ihren Teil denken, wenn er im Smoking aufkreuzte.
«Und ob. Ich habe eine Nachricht für den Journalisten René Kurowsky.» Clara strahlte ihn an. «Das war Tilda DuCourt. Ihr Minister hat sich tatsächlich angestrengt. Wir bekommen ein Oktoberfest – mit Schwabinger oder ohne ihn!»