«Um Himmels willen, ist das Zeug scharf!», ächzte Clara.

Sie stand neben einem Destillierkolben im Sudhaus, aus dem Peter soeben etwas frisch angesetzten Bierschnaps in ein Reagenzglas abgefüllt und ihr zum Probieren gereicht hatte. Die Tür des Versuchsraums stand offen, und in der Tür hatten sich einige neugierige Brauknechte eingefunden. Andächtig beobachteten sie, was geschah, und stießen sich heimlich an. Sogar ein paar zerknitterte Geldscheine wechselten den Besitzer. Hatten sie etwa gewettet, ob sie trinken würde oder nicht?

«Damit kann man ja Löcher in Metall ätzen! Was zur Hölle ist da drin?»

Xaver und Peter blickten sich grinsend an, und der eine oder andere Brauknecht kicherte verstohlen.

«Schnaps, Malzbier und Gewürze. Wie Sie gesagt haben», erklärte Peter.

Clara japste nach Luft und wedelte sich Luft ins gerötete Gesicht. Das Brennen auf ihrer Zunge ließ nach, und allmählich verschwanden die Tränen, die ihr in die Augen getreten waren. Jetzt schmeckte sie das Malz. «Und ihr denkt, dass das jemand trinken will? Ist das nicht zu stark?»

«Fräulein Clara», meinte Peter mitleidig. «Ein Enzian hat auch vierzig Prozent. Natürlich.»

«Vierzig Prozent!», seufzte Clara. «Und alles geht ungefiltert durch die Blut-Hirn-Schranke.» Aber wenn es Alfred und seine Nazifreunde fernhält, meinetwegen. Sie wusste, dass es auch

Die Brauknechte blickten sie an, als hätte sie chinesisch gesprochen. Sollte sie ihnen erklären, dass nur wenige Stoffe direkt aus dem Blut ins Gehirn wandern konnten, und dass Alkohol einer dieser wenigen Stoffe war? Mit positiven wie negativen Folgen: Die anregende Wirkung war schnell zu spüren, aber eben auch bei zu viel davon die zerstörerische. Clara wurde einer Antwort enthoben, denn jemand drängte sich von hinten in den Versuchsraum. Katharina.

«Was ist denn?», fragte Clara ungehalten. Ihr war noch immer ein wenig unwohl bei dem Gedanken, einen Rachenputzer, mit dem man Rohre hätte reinigen können, auf den Markt zu bringen, nur weil ihr der Moralismus mancher Leute auf die Nerven ging. Außerdem wollte sie hinüber ins Brucknerschlössl und sich endlich umziehen. René hatte vorgeschlagen, heute in Schwabing auszugehen. «Wir können später über den Einkaufsplan für die Woche sprechen.»

«Darum geht es nicht.» Katharina blickte sich um, schien eingeschüchtert durch die Gegenwart der Knechte. Nervös fuhren ihre Hände über den grau melierten braunen Haarknoten und dann über die weiße Schürze ihrer Dienstbotentracht. «Die Sache mit dem Herrn Bauer. Diese Waffen. Wir müssen zur Polizei.»

Clara blickte zu Peter und dann zur Tür. Sie hatte nicht die geringste Lust, das hier und jetzt zu besprechen, schon gar nicht vor den Knechten. Xavers grobes Gesicht hatte kurz gezuckt, und jetzt schaute er sogar aufmerksam nach der Köchin. Das fehlte gerade noch, dass Alfred durch Gerüchte gewarnt wurde. Sie meinte sich zu erinnern, dass Xaver auch eine Zeitlang in

«Ich sagte Ihnen doch, ohne handfeste Beweise können wir uns den Weg sparen. Wir reden später darüber, gut? Wie wäre es morgen früh?»

Katharina schüttelte den Kopf. «Wenn Sie nichts tun, gehe ich. Gleich heute nach der Arbeit.»

Clara starrte ihr nach.

***

Katharina war es ernst. Sie wartete ab, bis ihre Arbeitszeit endete, dann holte sie ihre groben Schuhe und legte den Mantel um. Es war kaum mehr als ein dünner Umhang, und sie fror darin. Aber Fräulein Clara wollte offenbar nichts unternehmen, und das konnte sie nicht zulassen. Das war nicht recht. Entschlossen schlug sie die Tür hinter sich zu.

Bis zur Polizeistation war es ein gutes Stück, und sie musste den Berg hinauf. Das war eine unheimliche Strecke. Bäume rückten dicht an den schmalen Weg, und gerade abends war er oft verlassen. Das Rauschen der Zweige übertönte alles außer ihrem Atem und ihren Schritten. Langsam stapfte sie bergauf. Ab und zu blieb sie stehen, um Luft zu holen. Sie war so anstrengende Wege nicht gewohnt. Unten sah sie das silberne Band der Isar, dahinter die Lichter der Stadt. Die Türme verschwanden allmählich im Dunkel, es dämmerte. Langsam wurden die Farben bleicher und grauer, schienen sich wegzustehlen. Mit dem Licht schien sich auch die Wirklichkeit zurückzuziehen, weiter und weiter. Als ob sie selber unwirklich würde. Ein Schemen in der Dunkelheit. Wie wenn der Tod die Kinder holte.

Irgendwo im Gebüsch knackte es. Sie blickte sich um. Aber niemand war zu sehen.

Und im selben Augenblick, als sie einen kurzen, scharfen Knall hörte, durchschlug das Projektil ihre Stirn.

***

Clara bemerkte Katharinas Fehlen erst am nächsten Morgen, als das Frühstück nicht auf dem Tisch stand. Da René sie gestern schon um sieben abgeholt hatte, hatte sie der Köchin den Abend freigegeben. René hatte Clara nach Hause gebracht, war aber noch in der Nacht zurück nach Schwabing gefahren, weil er frühmorgens in der Redaktion sein musste. Es sah Katharina nicht ähnlich zu verschlafen. Nicht nur der Tisch im Salon war ungedeckt, auch der in der Küche, wo sie für gewöhnlich aß. Der Ofen war kalt, offenbar hatte ihn in den letzten Stunden niemand benutzt. Auf Claras Rufen meldete sie sich nicht.

Clara ging die schmale Stiege hinauf zu den Dienstbotenzimmern ganz oben unter dem Dach. Der enge Gang, der zu den beiden geräumigen Dachstuben führte, war dunkel, und als sie Katharinas Zimmertür öffnete, fand sie das Bett unberührt. Das kleine Fenster über dem Türmchen war geschlossen. Sonnenlicht fiel schräg auf die Kommode und den sauber abgeräumten Toilettentisch, die Stützbalken warfen lange Schatten wie Bäume in einem verwunschenen Wald. Auch die Handtücher bei der Waschschüssel waren unbenutzt und trocken.

Clara lief ins Kontor und rief auf der Polizeiwache an. Aber dort war sie auch nie aufgetaucht. War sie doch woanders

Im Ofenrohr fand sie noch ein paar Schmalznudeln von gestern, die Katharina dort vor Dorian Gray in Sicherheit gebracht hatte. Das süße, mit Zimtzucker bestreute Hefegebäck gab es immer um Pfingsten und Kirchweih herum bis Fronleichnam. Die knusprigen Teile schmeckten sogar noch ganz gut. Sie stellte Dorian Gray Wasser und ein paar Fleischreste hin, damit er sie in Ruhe essen ließ. Allmählich machte sie sich ernste Sorgen. Hoffentlich war Katharina nichts zugestoßen.

Clara saß wie auf Kohlen. Wie ein Tiger lief sie in der Halle auf und ab. Sie wagte es nicht einmal, ins Sudhaus hinüberzugehen, aus Sorge, dass die Polizei mit einer wichtigen Nachricht kommen und sie nicht vorfinden würde.

Gegen zehn Uhr kam Wachtmeister Thalhammer. Clara kannte den alten Mann gut. Früher hatte sie Angst vor ihm gehabt. Mit Pickelhaube und Schnauzbart war er streng und eindrucksvoll gewesen, doch das Alter hatte ihn milder gemacht. Er nahm die Pickelhaube ab und fuhr sich durch das kurzgeschnittene graue Haar. Sein Gesichtsausdruck war ernst. Clara ahnte, was er ihr zu sagen hatte.

«Fräulein Bruckner, es tut mir leid. Wir haben Ihre Köchin gefunden. Sie ist tot. Man hat sie erschossen.»

«Erschossen?», wiederholte Clara entsetzt. Sie musste sich

«Aber …» Clara griff nach seinem Arm. «Sind Sie sicher?»

«Wir waren bei ihr zu Hause. Die Kinder wussten nichts.»

Entsetzt sah Clara zu ihm auf. «Kinder?»

Thalhammer ließ sich ihr gegenüber nieder. «Kommt hin und wieder vor, dass Frauen ihre Familien verheimlichen, wenn sie Arbeit brauchen. Ungebunden ist es leichter, eine Stellung zu finden.»

«Ich wusste, dass sie noch ein Arbeiterhäuschen in Obergiesing hat», sagte Clara leise. «Aber dass sie dort Kinder hat, davon hat sie nie etwas gesagt.» Sie stützte den Kopf in die Hände und wünschte, ihre Eltern wären hier. Melchior mit seinen kühlen, überlegenen Augen hätte ihr allein durch seine Arroganz ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Und Antonia hatte schon so viel durchgestanden, dass sie mit allem zurechtkam. Sie selbst war zu jung. Zu unerfahren.

«Was wollte sie denn bei uns?», fragte Thalhammer.

Clara konnte nicht sofort antworten. Langsam und tief atmete sie durch, versuchte, sich zu beruhigen. Sie fühlte sich entsetzlich schuldig. Hätte sie Alfred früher angezeigt, wäre sie gestern nicht mit René ausgegangen, könnte Katharina vielleicht noch leben.

«Ich habe einen Waffenhändler beobachtet», sagte sie endlich und blickte auf. «Sie hat es mitbekommen und wollte ihn anzeigen. Ich hätte es selbst getan, aber ich habe keine Beweise. Er ist ein angesehener Patriot. Alfred Bauer, der Besitzer der Malzfabrik Moser.»

Thalhammer räusperte sich, als sei ihm diese Enthüllung unangenehm.

«Genau deshalb», sagte Clara. «Ich weiß, wenn man so jemanden anzeigt, muss man sehr viel in der Hand haben.» Sie schlug

Thalhammer erhob sich und rückte seine Uniform zurecht. «Kann ich Ihnen nicht sagen. Aber vermutlich das Waisenhaus halt.»

Clara sah ihn erschrocken an. Die Kinder hatten die Mutter verloren, und jetzt sollten sie auch noch ihr Zuhause verlieren. Sie fühlte sich verantwortlich. «Auf keinen Fall. Ich werde mich um sie kümmern. Notfalls können sie erst einmal hier wohnen. Es ist genug Platz.»

Der alte Gendarm zuckte die Achseln. «Mei, das müssen Sie wissen, ob Sie ein Mädel von vierzehn oder fünfzehn als Köchin einstellen wollen. Ich werd das so auf der Wache weitergeben. Man wird sehen, ob wir den Mörder finden. Aber ganz ehrlich, machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen. Ist schlimm zurzeit. So viele Morde bleiben unaufgeklärt.»

Das konnte Clara oft genug in der Zeitung lesen, und das, obwohl es nur die spektakulärsten Fälle überhaupt dorthin schafften. Sie verwünschte ihre Ahnungslosigkeit. Katharina hatte unter Druck gestanden wie eine Dampfturbine, aber sie hatte nicht einmal ansatzweise begriffen, wie dringend es für sie gewesen war und in welche Gefahr sie sich gebracht hatte. Sie hatte nicht erwartet, dass Alfred davon Wind bekommen würde. Oder hätte sie es ahnen müssen? Thalhammer nickte ihr zu und wollte zur Tür. Clara hielt ihn zurück. «Warten Sie … wollen Sie nicht fragen, wer von ihrem Vorhaben wusste?»

Thalhammer zuckte die Achseln. Er setzte sich nicht, aber er blieb in der Tür stehen. «Also gut. Aber vermutlich ist sie unterwegs irgendjemand in die Quere gekommen, oder sie hat sich auf etwas eingelassen, das nicht gut für sie war.» Besondere Begeisterung zeigte er allerdings nicht gerade.

«Xaver und Peter standen direkt bei mir», überlegte Clara.

Thalhammer zupfte schon wieder an seiner Uniform, als würde ihm das helfen, wenn er sich unbehaglich fühlte. «Ich weiß, was Sie denken: dass da jemand Selbstjustiz ausgeübt hat. Ein Fememord, wie es in den letzten Jahren einige gab, wenn jemand die Einwohnerwehren verraten hat oder so. Aber die Einwohnerwehren wurden aufgelöst. Keine Wehren mehr, keine Fememorde. Ich melde mich, sollte sich doch etwas ergeben.»

***

Clara war sich sicher, dass Katharinas Tod mit den Waffengeschäften zusammenhing. Sie würde nicht zulassen, dass man die Kinder ins Waisenhaus steckte. Es waren drei, wie sie erfuhr, das älteste etwa fünfzehn, also fast erwachsen.

Drei verwaiste Kinder auf einen Schlag zu erhalten, wäre auch für eine erfahrenere Frau nicht einfach gewesen. Aber Clara hätte sich geschämt, wenn sie die Sorge für die Kleineren einer Fünfzehnjährigen überlassen hätte, während sie selbst einfach so weitergemacht hätte, als wäre nichts geschehen. Als sie ihren Eltern eine neue Drahtnachricht schickte, fiel ihr die Stadträtin Luise Kiesselbach ein. Hatte die ihrer Mutter nicht damals geholfen, als sie Katharina eingestellt hatten? Clara kontaktierte sie, und tatsächlich hatte Frau Kiesselbach ein paar Ratschläge. Das Wichtigste war, dass jemand von der Armenfürsorge ab und zu vorbeikam.

Die Älteste, Anna, nahm die Nachricht vom Tod ihrer Mutter erschreckend gefasst auf. Sie nickte nur, als Clara ihr sagte, sie könne mit ihren Geschwistern erst einmal im Brucknerschlössl

Als am Abend das Telefon im Kontor klingelte, war sie so müde, dass sie am liebsten gar nicht mehr abgehoben hätte. Aber vielleicht war es ja Magdalena. Die letzten Tage hatte sie gar keine Zeit gehabt, an sie zu denken.

«Herr Brandl», sagte sie überrascht. Der Gastwirt am Mariahilfplatz war seit Jahren einer ihrer Abnehmer. Normalerweise telefonierte er nicht, weil er dazu zur nächsten Poststelle musste. Tatsächlich hörte sie im Hintergrund Fahrradklingeln und Pferdehufe. Es musste wichtig sein. «Was gibt es denn?»

«I werd koa Bier mehr bei Eana kaufen!», tönte es am anderen Ende der Leitung. «Des gibt’s!»

Clara fuhr zusammen und warf das Telefon um.

«Was?» Hastig stellte sie es wieder auf und zog die Sprechmuschel zu sich heran. «Herr Brandl, sagen Sie mir, was los ist. Warum möchten Sie denn auf einmal nicht mehr von uns beziehen?»

«Des kann i Eana sagen!», schnaubte der Wirt. «Weil Eana Gasthaus a Treffpunkt von Kommunisten is! Und weil Sie des Gspusi von am jüdischen Bolschewisten san, Sie Luder, Sie!»

Clara schnappte nach Luft, als die Beleidigungen aus heiterem Himmel auf sie einprasselten. «Wie bitte?!»

«In der Zeitung hat das g’standen», trumpfte er auf. Wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts schmetterte er ihr sein Urteil entgegen: «Des war des letzte Bier, was i vo Eana kauft hab! I bin a anständiger Patriot, und mit dene Sprattakisten will i nix zum tun haben!»

Clara wusste, dass jeder ihr gesagt hätte, sie solle den Wirt beruhigen. Ihm versichern, dass sie eine gute Katholikin und keine Kommunistin sei, und ihn bitten, die Zusammenarbeit

Nachdenklich betrachtete sie den Hörer. Wie kam eine Zeitung dazu, sie eine Kommunistin zu nennen? Sie hatte mit Extremisten nichts am Hut, egal, wo sie standen. Und dass Renés jüdische Herkunft nun schon wieder gegen ihn verwendet wurde, machte ihr Sorgen. Sie sprang auf und holte ihren Mantel.

 

«Münchner Neueste Nachrichten! Presse Deutschlands! Das Neueste aus aller Welt!», rief der Zeitungsbursche an der Straßenecke.

Clara drückte den Topfhut auf ihren Bubikopf und schlang den Gürtel ihres leichten Mantels fester um die Taille. Eine Weile beobachtete sie den kleinen Handkarren und den Jungen, traute sich aber nicht hinüberzugehen. Immer mehr junge Frauen waren jetzt so gekleidet wie sie, sie fiel nicht auf. Allein während sie hier stand, passierten fünf oder sechs den Stand. Ein paar Arbeiterkinder rannten an ihr vorbei, und während der Zeitungsjunge ihnen nachsah, wagte sie sich über die Straße.

Sie zog den Hut noch etwas tiefer, als sie die obersten Zeitungen hochnahm, um die Schlagzeilen zu überfliegen. In Erinnerung an die Zeit der Räterepublik hatte sie vorsorglich einen Apfel eingesteckt, den sie dem Zeitungsjungen jetzt mit einem Lächeln in die Hand drückte. Er schob seine Mütze zurück, strahlte und ließ sie das richtige Blatt suchen. Es funktionierte offenbar bei modernen Zeitungsjungen genauso gut wie bei russischen Söldnern.

Sie blätterte die großen Zeitungen durch, wo sie zum Glück nichts fand. Aber bei einer kleinen wurde sie fündig. Tatsächlich, da stand es, im Patriotenanzeiger:

Clara ließ die Zeitung sinken. Die Sache war lächerlich. René war niemals Kommunist gewesen. Das stank ja geradezu nach Nazis. Der Wirt hatte das Wort «Jude» verwendet, als wäre es ein Schimpfwort, und auch hier war es so. Clara fröstelte. Ihre Lippen begannen zu zittern. Sie warf die Zeitung hin und lief nach Hause.

Die Haustür schlug hinter ihr zu, und Anna sah ihr überrascht nach, als sie grußlos in Hut und Mantel die Treppe hinauf ins Kontor stürmte. Hastig nahm sie das Telefon ab und rief erneut das Telegraphenamt an, um eine Drahtnachricht aufzugeben.

«Das ist in England?», fragte der Mann im Amt überrascht nach.

«Ja, seit wann ist das ein Verbrechen?!», fauchte Clara ihn an. Im selben Moment tat es ihr leid. Vermutlich drahtete nicht jeden Tag jemand nach England. Er hatte es vielleicht gar nicht abfällig gemeint. Diese verfluchten Nationalisten brachten einen dazu, dass man in jedem einen Feind zu sehen begann.

Sie las ihm den Text vor:

Antonia und Melchior Bruckner – Stopp – Bitte dringend melden – Stopp – Clara

Langsam legte sie auf und versuchte, ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen. Katharina war tot, und die Polizei zeigte kein

«Ich schaffe das nicht allein!», flüsterte Clara. Sie kämpfte gegen die Tränen, aber vergeblich.

Noch immer in Hut und Mantel kauerte sie sich auf dem Sessel ihrer Mutter zusammen. Ich bin kein unerschütterlicher Geschäftsmann, dachte sie. Ich bin keine von denen, die so selbstbewusst sind, dass sie immer wieder aufstehen. Ich kann das nicht. Ich kann gegen vieles kämpfen, aber nicht gegen Menschen, die meinen Ruf zerstören, ohne ihr Gesicht zu zeigen. Sie umklammerte die alte Münze von Thomas, die sie noch immer bei sich trug, als könnte er ihr sagen, was zu tun war. Aber das war unmöglich. Es war nur eine Münze, und Thomas lag in einem Grab auf dem Ostfriedhof. Sie war allein. Mitten in dieser großen Stadt völlig allein.

Das Telefon schrillte. Clara hob den Kopf. Ihre Eltern? Waren sie auf dem Heimweg?

«René», seufzte sie, als der Anrufer sich meldete. Im Hintergrund war wieder das vertraute Klappern der Schreibmaschinen zu hören, Männerstimmen und hin und wieder ein Lachen.

«Du hast es gelesen.»

Sie erwiderte nichts. Sie war einfach nur froh, seine Stimme zu hören.

«Ich wünschte, ich könnte dich in die Arme nehmen», sagte er rau.

Clara kämpfte gegen die Tränen. Sie presste die Lippen aufeinander. «Ich habe Angst, René», sagte sie endlich.

«Es tut mir so leid, dass sie dich meinetwegen in den Schmutz

Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand einen Schlag auf den Kopf versetzt. «Du verlässt mich?», flüsterte sie erstickt.

«Nein, natürlich nicht! Ich will nur alles tun, was dir helfen kann. Was immer es ist, sag es mir.» Wenigstens ihm lag etwas an ihr. «Ich wäre zu dir gefahren, aber du hast schon genug Sorgen.»

Clara stieß einen trockenen Laut aus. «Diese Leute tun so, als wäre ich eine Kriminelle.»

«Und du? Hältst du es für falsch, einen Juden zu lieben?»

Das war so absurd, dass Clara sich selbst in ihrer düsteren Stimmung ein wenig leichter fühlte. «Sei nicht albern.»

«Du weißt, du hast nichts Falsches getan. Ich weiß es. Und viele andere wissen es auch.»

Clara blickte durchs Zimmer. Sie versuchte, sich an den von Kindheit an vertrauten Gegenständen festzuhalten. Dem Globus auf dem Tisch, dem Bild ihrer Eltern. Dem Efeu draußen vor dem Fenster. Dem Teppich, auf dem sie als Kind oft gespielt hatte, während ihre Mutter hier arbeitete. Aber sie gaben ihr keine Sicherheit. Sie fragte sich, was noch passieren konnte. Was, wenn die anderen Zeitungen die Vorwürfe aufnahmen? Die Gäste, Käufer und Lieferanten konnten wegbleiben und das Brucknerbräu ruinieren. Vielleicht würde sie auf der Straße beschimpft werden. Würde sie das aushalten?

«René», sagte sie leise. «Bleib bei mir.»

***

Es vergingen zwei Tage, die etwas ruhiger verliefen. Es sah so aus, als ob zumindest die großen Zeitungen das Thema nicht aufgriffen. Ein paar von den Naziblättern echauffierten sich, und einmal rief ein Bengel aus der Nachbarschaft «Judenhur!»

Die Türglocke läutete, und Clara sprang auf. «Ich gehe schon!», rief sie Anna zu, die gerade aus der Küche kommen wollte, und öffnete. «Marei?», rief sie überrascht.

Die frühere Köchin sah fast unverändert aus – blühend und rosig wie eh und je, obwohl sie weiß Gott nicht mehr die Jüngste war. Über dem voluminösen Busen spannte sich ein Tuch, und sie trug Trachtenhut und Dirndl wie eine Bürgersfrau. Aber davon abgesehen, war sie ganz die Alte. Hinter ihr standen, in die Höhe geschossen wie zwei Hopfenstangen, Vroni und Hias. Der vertraute Anblick tat so gut, dass Clara ihr am liebsten um den Hals gefallen wäre.

Anna war hinter ihr an die Tür gekommen, und sofort schickte Hias ihr ein Lächeln, das für sein zartes Alter etwas zu charmant war. Das ernste Gesicht des Mädchens hellte sich ein wenig auf.

Marei grinste verlegen. «Ich suche Arbeit.»

«Aber ich dachte …» Hausangestellte waren nicht verheiratet.

Marei kam herein, ohne zu fragen. Zärtlich ließ sie ihre Blicke über die Truhe und die Treppe nach oben wandern, den schmalen Durchgang nach hinten zum Garten entlang, zu der großen Vase mit den frischen Blumen, die Clara heute Morgen erst geholt hatte. Schaute durch die Halle und in die Küche, als kehrte sie nach einer langen Verbannung zurück.

«Was ist mit deinem Mann?», fragte Clara.

«Scheidung?»

Die Köchin wirkte peinlich berührt. «Mei. Da war so ein schneidiger Bursch, und dann …»

Und dann war das Übliche passiert. «Du hast Alfons betrogen?»

«Betrogen!», schnaubte Marei. «Betrogen ist, wenn er nix weiß. Aber er hat mich ja gleich dawischt. Heirat nie einen Gendarm, sag ich dir. Die spionieren dich aus!»

Clara musste trotz ihrer Sorgen lachen. Zum ersten Mal seit Tagen.

«Ich heirat nie wieder», schwor Marei. «Versprochen! Hoch und heilig! Kannst du mich brauchen?»

Clara seufzte. «Ich weiß nicht, wie lange ich dich noch bezahlen kann. Aber ja, ich kann dich brauchen, sogar sehr gut. Weißt du, was die Leute über mich reden?»

«Freilich. Dene ham s’ doch ins Hirn g’schissen!»

Das tat gut, auch wenn es ein wenig derb war. Es war gut zu sehen, dass es noch Menschen gab, die auf ihrer Seite standen. Die sie mochten und zu ihr hielten.

«Ich schwör’s, ich heirat nie wieder!», versicherte Marei und drückte Clara an ihren voluminösen Busen. «Und das mit dem Geld ist nicht so wichtig. Ich bin dreißig Jahre hier gewesen. Das ist mein Zuhause.»

Und jetzt musste Clara doch endlich weinen.