Clara ließ sich mit weichen Knien auf einen Sessel sinken. Noch immer drückte sie das Tuch auf die blutende Schulter. Magdalena hatte den Arzt gerufen, aber bis er hier war, würde es dauern. Sie fror, ihr war übel, und obwohl sie nicht einmal wusste, wie sich eine Ohnmacht anfühlte, hatte sie das Gefühl, sie würde es gleich erfahren.
Sie hörte die Türklingel, erregte Worte, die zwischen Magdalena und einer anderen Person hin- und hergingen. Dann stürzte René herein.
«Geht es dir gut?», rief er. «Du bist ja totenblass!» Vorsichtig nahm er das Tuch von ihrer Schulter, um die Verletzung anzusehen.
«Es ist nicht schlimm», sagte Clara tonlos. Sie fühlte sich so taub und leer, und ihr war so kalt, dass sie kaum irgendeine Empfindung hatte. Selbst ihre eigene Stimme hörte sich fremd an.
René fühlte ihre Stirn und ihren Puls. «Sie muss sich hinlegen!», fuhr er Magdalena an, als hätte er seine ganze gute Erziehung vergessen. «Warum haben Sie sie nicht auf das Kanapee gelegt?»
Magdalena half ihm, Clara hinüberzubringen, und René legte ihre Füße auf die Armlehnen. «Ich wollte Sie nicht anschreien», entschuldigte er sich bei Magdalena. «Haben Sie eine Decke?»
«Schon gut.» Magdalena klang müde. Sie brachte eine Kamelhaardecke, und er breitete sie über Clara.
«Das ist meine Schuld!», sagte er mehr zu sich selbst als zu ihnen. Immer wieder wiederholte er es, während er sich langsam aufrichtete. «Ich habe ihr eingeredet, jedes Risiko sei nichts als ein Scherz. Was habe ich nur angerichtet!»
Clara hätte ihm gern gesagt, dass das nicht stimmte. Aber sie war zu erschöpft und zu taub. Ihr war kalt, und sie zog die Decke höher. Sie hörte die Stimmen sich entfernen. Alles, was sie im Moment fertigbrachte, war zu atmen und ihren schnellen, flachen Puls allmählich wieder zu kontrollieren. Das ist nur ein Schock, sagte sie sich.
Nur ein Schock.
Eine Stunde später lag Clara in ihrem Bett im Brucknerschlössl. Sie erinnerte sich nur noch, dass ein entsetzter Peter sie empfangen hatte und dass sie ihm immer wieder gesagt hatte, er müsse Xaver hinauswerfen. Alfred lag inzwischen vermutlich längst in der Klinik, mit mehr Barbituraten vollgepumpt als der mörderische Schlafwandler Cesare in Das Cabinet des Dr. Caligari. Sie hatte kein Mitleid mit ihm. Mit ziemlicher Sicherheit hatte er Katharina erschossen. Er hatte immer nur auf andere Menschen herabgesehen und geglaubt, einer überlegenen Art anzugehören. Es war eine Form von Gerechtigkeit, dass er nun die Folgen seiner Ideologie am eigenen Leib zu spüren bekam. Als Kokainist war er für seine Freunde nicht besser als ein Alkoholiker. Und ein gemeingefährlicher Kriegszitterer, der vielleicht den Rest seines Lebens in der Psychiatrie verbringen würde, entsprach auch nicht gerade deren Jung-Siegfried-Männlichkeitsideal.
Magdalena kam in ihr Schlafzimmer und setzte sich ans Bett. Clara richtete sich auf und stopfte sich ein Kissen in den Rücken. Dorian Gray, der es sich auf ihren Füßen bequem gemacht hatte, beschwerte sich mit einem langgezogenen Maunzen und sprang vom Bett. Sie fühlte sich etwas besser. Immerhin hatte sie das Gefühl, das Blut zirkuliere wieder in ihren Adern. Die unheimliche Kälte wich langsam aus ihren Gliedern.
«Wo ist René?», fragte sie. Er fehlte ihr, und sie hätte jetzt gern seine Hand gehalten.
«Der Arzt hat ihn weggeschickt. Er ist nicht verwandt, und offiziell seid ihr nicht verlobt. Er war sehr aufgebracht», erwiderte Magdalena. «Er glaubt, es wäre seine Schuld. Dass er dich in Gefahr bringt und es besser für dich wäre, wenn du ihm niemals begegnet wärst.»
Clara schüttelte den Kopf. «Das ist doch Unsinn.»
Magdalena nahm ihre Hand. «Es wäre gut, ihm das zu sagen. Er war drauf und dran, einfach alles hinzuwerfen und abzureisen.»
Clara gönnte sich ein paar Stunden Ruhe, dann ging sie, noch etwas wackelig auf den Beinen, hinunter ins Kontor. Sie hatte René ohnehin noch schreiben wollen. Bei seinem Temperament war es das Beste, das sofort zu tun, ehe er etwas Unüberlegtes tat. Sie legte den Füllhalter nieder und wollte gerade Hias mit dem Botengang beauftragen, als das Telefon klingelte.
«Mutter!», rief sie überrascht, als sie die Stimme erkannte.
«Entschuldige, dass wir uns so spät melden», klang Antonia verzerrt durch den Hörer. «Wir sind gerade in München am Hauptbahnhof angekommen. Ist denn alles in Ordnung?»
Clara stieß einen verzweifelten Laut aus. «Ob alles in Ordnung ist?»
Sie erzählte ihrer Mutter, was passiert war, immer wieder unterbrochen von Antonias Ausrufen und wenn sie ihrem Mann weitergab, was Clara berichtete. Offenbar stand Melchior neben ihr.
«Liebes, das tut mir furchtbar leid. William hat uns in sein Haus in Schottland mitgenommen, und so weit im Norden gibt es kein Telegraphenamt. Wir haben das nächste Schiff genommen, als wir deine Nachricht erhielten.»
«Ist schon gut.» Das war nicht nur dahingesagt. Sie fühlte sich erschöpft und zerschlagen. Aber auch unglaublich erleichtert. «Es ist alles vorbei.»
«Gib mir bitte die Sprechmuschel», hörte sie Melchiors Stimme. Es knackte, und dann hörte sie die Stimme ihres Vaters. «Clara? Du hast dich gut geschlagen. Ich hätte es nicht besser machen können.»
Clara lächelte, und nun kamen ihr doch die Tränen. So lange hatte sie gehofft, diese Worte von ihm zu hören.
«Ich denke, du kannst die Brauerei probeweise für ein halbes Jahr führen», meinte er. Er zögerte, dann setzte er hinzu: «Solange du keine Leute entlässt, um auf Malzbier umzustellen.»
«Keine Sorge.» Jedenfalls niemanden außer Xaver. Magdalena hatte in den Jahren, in denen ihr Leben von Verboten bestimmt war, verlernt, Verantwortung für ihr Tun zu übernehmen. Vielleicht war es überhaupt nur deshalb so weit gekommen. Zu viele Verbote schwächten und machten Menschen beeinflussbar. «Jeder ist verantwortlich, für das, was er tut, und muss selbst wissen, was für ihn gut ist. Das Produkt ist nicht gut oder schlecht, nur der Umgang damit.»
Einen Moment hörte sie nichts. Dann sagte ihr Vater: «Ich bin stolz auf dich.»
René hatte den messingbeschlagenen Lederkoffer auf sein Bett gelegt und zu packen begonnen. Abzureisen war das Beste, was er tun konnte. Er würde sich nicht ändern. Er brachte Clara in Gefahr, einfach weil er so war, wie er war. Sie hatte etwas Besseres verdient. Doch er wusste auch, ohne sie würde er es in München nicht aushalten. Allein jede Nacht in diesem Zimmer zu schlafen, würde ihn verrückt machen. Die vertrauten Straßen, die Orte, an denen er glücklich gewesen war – überall würde er sie sehen. Vielleicht war es eine Flucht, jedes Mal weit weg zu gehen, wenn etwas in seinem Leben zerbrach. Aber der bloße Gedanke, noch länger zu bleiben, war unerträglich. Er sehnte sich danach, die beruhigende Weite des Ozeans vor sich ausgebreitet zu sehen. Das pulsierende Gefühl eines neuen Horizonts war das Einzige, das stark genug war, die Vergangenheit allmählich verblassen zu lassen. Er würde das nächste Schiff nach New York nehmen, dort würde es irgendwie weitergehen.
Es klingelte. René warf ein paar Hemden in den Koffer und ging zur Tür. Es war ein Kurier, ein junger Bursche in abgewetzten Knickerbockern mit einem Kuvert. René gab ihm ein kleines Trinkgeld und nahm den Brief entgegen.
Clara Bruckner stand auf der Rückseite.
Widerwillig bemerkte er, dass sein Herz schneller schlug. Wusste sie, was er vorhatte?
Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
Er öffnete den Umschlag. Es war ein Ausschnitt aus einer Zeitung.
Oktoberfest 1925. Pilot zum Überflug der Theresienwiese gesucht.
Und darunter, in Claras Handschrift:
Du kannst nicht alles kontrollieren. Das ist das Leben.
René ließ den Brief sinken und lächelte.