Der September 1925 begann stürmisch, doch gegen Monatsmitte kehrten plötzlich die goldenen Tage zurück. Das Oktoberfest wurde mit strahlendem Sonnenschein eröffnet.
Clara lief atemlos über die Festwiese und sog den Duft nach Feuer und Steckerlfisch, nach Brathendl und frischen Brezen ein. Das war der Geruch, den sie seit ihrer Kindheit mit dem Oktoberfest verband. Sie schenkte den Brezenverkäuferinnen, die mit ihren riesigen Körben am Wegrand standen, ein strahlendes Lächeln.
Magdalena neben ihr sah mit der neuen Kurzhaarfrisur fünf Jahre jünger aus. Zur Feier des Tages hatte Clara sie sogar ein wenig schminken dürfen. Der eine oder andere junge Mann bemerkte das auch, aber vergeblich. Magdalena hatte kein Interesse daran, die Kontrolle über ihr Leben je wieder aus der Hand zu geben. Ein paar Kinder mit Zuckerwatte kamen ihnen entgegen, und lachend machten sie ihnen Platz.
Die Buden waren viel größer als früher. Es schien, als hätten die Menschen dieses Jahr Lust gehabt, es allen zu zeigen, die nicht mehr an die Fortführung des Fests geglaubt hatten. Inzwischen ragten die Sperrholzfassaden mehrere Stockwerke hoch. Auf manchen waren riesenhafte Figuren aufgemalt, mit denen sie marktschreierisch um Kundschaft wetteiferten. Abnormitätenschauen, Zwillingsschauen – sie alle versprachen Dinge, die man im Alltag nicht zu sehen bekam. Ein Riesenrad zog seine langsamen Kreise, Männer in Lederhosen oder in Knickerbockern und Schiebermütze versuchten ihr Glück beim Hau den Lukas. Seit ein paar Jahren sah man an Festtagen immer öfter die Tracht. Aber das lag vielleicht auch an den Sommerfrischlern, die es neuerdings nach Bayern zog und die diese Kleidung für sich entdeckt hatten. Ein paar junge Frauen in fast kniekurzen Röcken beobachtete die Männer kichernd, misstrauisch beäugt von einem Pfarrer in schwarzer Soutane. Heute Morgen hatte in der Zeitung gestanden, dass der Kirchenvorstand der Christuskirche gegen das Oktoberfest protestiert habe, es arte so aus, dass es Menschen an Leib und Seele zugrunde richte.
Vermutlich meinten sie damit das Bier.
Überrascht merkte Clara, dass es ihr gleich war. Es gab schlimmere Bedrohungen für Leib und Leben von Menschen. Ihre beste Freundin war in den Sog einer unheimlichen Bewegung geraten, die beinahe alles zerstört hätte, was ihr wichtig war. Wer Entscheidungen anderen überließ, überließ ihnen auch die Verantwortung. Sie atmete auf und sog das Fest in sich auf. Niemand konnte in die Zukunft sehen. Ob die nächsten Jahre mehr Freiheit oder Rückschläge bringen würden, ob sie friedlich sein und endlich aufhören würden, Keile zwischen Menschen zu treiben, Religion, Geschlecht, Klasse, das konnte niemand wissen. Doch es kam ihr so vor, als wären mit dem Sommer auch die düsteren Vorzeichen wieder verblasst. Die Nationalsozialisten schienen gemeinsam mit der Inflation an Macht verloren zu haben. Vermutlich, so wurde an den Stammtischen gefachsimpelt, würden sie bei der nächsten Wahl auf keine drei Prozent kommen. Vielleicht waren sie bald ebenso vorbei wie die Wirtschaftskrise – ein böser Traum, der verflog, sobald die Sonne schien. Die Hyperinflation war abgeflaut, der Krieg war so weit weg, als hätte es ihn nie gegeben. Ganz gleich, was die Zukunft brachte, diese Augenblicke gehörten ihr. Und wenn es die letzten glücklichen Momente ihres Daseins wären. Es war Zeit zu leben.
«Unser Isar-Gatsby hat sich herausgeputzt!», stellte Clara fest, als sie eine Stunde später mit ihren Eltern und Magdalena im Bierzelt des Oktoberfestvereins saß und Ferdinand Schwabinger auf die Bühne trat. Er trug tatsächlich Tracht! Lederhose und Wadlstrümpfe, ein Trachtenhemd und – das Allerschlimmste – einen Gamsbarthut! Es passte so gar nicht zu der Welt, in der er lebte. «Er sieht aus, als wollte er auf einen Kostümball!», lachte sie, während alle applaudierten und die Blaskapelle einen Tusch spielte.
Aber Ferdinand Schwabinger würde selbst noch im Nachthemd und mit Schlafmütze hinreißend aussehen. Er sonnte sich sichtlich im Applaus.
«Meine sehr verehrten Damen und Herren», begann er. «Das Oktoberfest 1925 steht im Zeichen eines erfreulichen wirtschaftlichen Aufschwungs. Wie es scheint, haben wir die schweren Jahre hinter uns gelassen. Wir alle sind erleichtert, dass die Inflation zu einem Ende gekommen ist und wir alle wieder Geld in den Taschen haben, das wir hier ausgeben können!»
«Ich fasse es nicht, dass ihr ihn die Eröffnungsrede für den Verein halten lasst», flüsterte Clara ihrem Vater zu.
Er gönnte sich ein verschlagenes Lächeln. «Ach, sei’s drum. Er hat viel Geld hineingesteckt, und wenn es schiefgeht, war es keiner von uns.»
Diese einfühlsame Idee war ganz sicher von ihm gekommen. Natürlich fiel er auch hier wieder auf: Die Brauer trugen teils Tracht, teils schlichte Anzüge, doch Melchior Bruckner wäre nicht er selbst gewesen, wenn er sich für diesen Anlass nicht in seinen üblichen Cut geworfen hätte.
«Sie konnten Schwabinger wieder einmal nichts nachweisen», sagte Antonia und beugte sich über den langen Biertisch zu ihrer Tochter. «Er behauptet, sein Interesse an der Monarchie sei rein folkloristischer Natur und mit keinerlei politischen Ideen verbunden. Wer’s glaubt!»
Clara kicherte. «Ja, er wird sich nie eine Blöße geben. Immer und überall hat er seine hübschen Finger drin, aber nie so tief, dass man ihm ans Leder könnte!»
Aber das war ihr jetzt auch gleichgültig.
Schwabinger verlas nun die Namen der Brauereibesitzer, die auf dem Oktoberfest vertreten waren.
«… Clara Bruckner …»
Clara lächelte ihren Eltern zu, und ein warmes Gefühl durchströmte sie, als sie sich dabei ansahen. Es war das erste Mal, dass ihr Name allein genannt wurde. Es bedeutete auch, Thomas endlich loszulassen. Aber jetzt fühlte sie sich bereit dazu. Frühmorgens, ehe sie losgefahren waren, war sie noch einmal zum Ostfriedhof gegangen. Es war ganz still gewesen. Auf seinem Grab blühten die Dahlien. Sie hatte eine gelbe Rose auf den Steinsockel gelegt und ihm versprochen, seine Aufgabe gut zu machen. Danach hatte sie langsam seine Münze aus der Tasche gezogen und in die lockere, feuchte Erde gelegt. Aber irgendwie hatte sie seitdem das Gefühl, als wäre er ihr wieder näher als in den Jahren davor.
Jemand trat zu Schwabinger und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er verschaffte sich mit einer Geste Ruhe. «Gut, meine Damen und Herren. Soeben höre ich, dass der Überflug über die Theresienwiese in Kürze zu sehen sein wird. Ich bitte Sie alle hinaus, um das Schauspiel zu genießen.»
Die Leute drängten ins Freie. Aufgeregt redeten sie durcheinander, dicht nebeneinander blickten alle erwartungsvoll nach oben. Der Himmel war strahlend blau. Kaum ein Hauch war zu spüren.
«Er kommt!», rief endlich einer.
Motorengeräusch – wusste der Teufel, wen Schwabinger bestochen hatte, um den Motorflug genehmigt zu bekommen. Ein kleiner Punkt wurde am blauen Himmel sichtbar, erst verschwommen, dann größer, bis die Umrisse eines Doppeldeckers erkennbar waren. Wie aus einer anderen Welt kommend, schwebte er in weitem Bogen heran und legte sich in den leichten, kaum spürbaren Wind. Schwerelos. Frei.
Clara erinnerte sich an ihren Flug. Das überschäumende Glücksgefühl, als sie wieder Boden unter den Füßen hatte. Als ob sie noch weiter schwebte. Der Doppeldecker kreiste in weitem Bogen über dem Festgelände. Die Männer nahmen ihre Hüte ab und schwenkten sie, die Damen ihre Tücher. Die Maschine ging etwas tiefer, sodass sie den Piloten winken sahen. Auf einmal zog er die Maschine steil nach oben und ließ sie eine Schleife über Kopf fliegen. Überraschte Ausrufe waren zu hören, und Clara hielt einen Moment den Atem an. Der Pilot fing die Maschine sicher ab, und mit einem Surren stieg sie wieder.
Schwabinger sonnte sich erkennbar in dem Spektakel. Er hatte das Podest erklommen, das für mehrere kleinere Schausteller aufgebaut worden war, und winkte dem Flugzeug mit seinem Gamsbarthut nach, als wäre er persönlich der Eigentümer. Er konnte es einfach nicht lassen.
Offenbar schien der Pilot das ebenfalls zu denken. Beim zweiten Überflug ging er über dem Podest so tief, dass Schwabinger unwillkürlich den Kopf einzog. Mit einem scharfen Surren fegte die Maschine über ihn hinweg. Die Leute lachten, und Schwabinger kam, den Hut mit beiden Händen festhaltend, langsam wieder hoch.
Das Flugzeug setzte zur Landung an, und Clara lief mit den anderen Gästen hinüber zu dem freien Feld südlich der Buden. Die Maschine rollte unter dem Jubel der Menschen aus. René nahm Haube und Brille ab, fuhr sich durch das zerdrückte schwarze Haar und sprang zu Boden. Er trug seine sportliche Fliegerkleidung, Reiterhosen, Stiefel und einen pelzbesetzten Ledermantel. Amüsiert fragte sich Clara, wie er wohl in Lederhosen ausgesehen hätte. Die Leute umringten ihn, er schüttelte Hände, lachte und tauschte Höflichkeiten aus. Ein paar Kinder schrien und zerrten so lange an seinem Mantel, bis er sie mit einem kräftigen Schwung ins Flugzeug hob. Es war ein Zweisitzer, eine Fokker, vermutlich eines der Schulflugzeuge aus Oberschleißheim. Womöglich dieselbe, in der er sie damals mitgenommen hatte. Einem anderen Kind zeigte er offenbar, wie der Propeller angetrieben wurde, denn er wies auf den Motor und drehte dann daran. Ein warmes Gefühl durchlief Clara. Es war schön, ihn so zu sehen, und es machte sie stolz.
«Geh schon!», sagte Magdalena.
René ließ die Kinder am Propeller drehen und blickte sich suchend um. Clara winkte, lief auf ihn zu, und er fing sie auf. «Und, wie fandest du es?»
«Großartig!», rief Clara. Es war so schön, ihn in den Armen zu halten, dass sie ihn am liebsten geküsst hätte. Wegen der vielen Menschen verzichtete sie darauf. Es war schon zu viel für die meisten, dass sie nicht einmal ordentlich verlobt waren. Aber in diesen Zeiten konnte einem der Gedanke an die Ehe abhandenkommen. Sie hatten es nicht mehr eilig damit. Es war ein Stück Freiheit, sich einfach lieben zu können, nicht weil es in einem Vertrag stand, sondern einzig und allein, weil sie es wollten. Weil die Liebe zu kostbar und zu zerbrechlich war, um sie in Regeln zu bannen. Sie hakte sich bei ihm ein. «Hattest du Schwierigkeiten?»
Er schüttelte den Kopf. «Wenn es ein Risiko gegeben hätte, wäre ich nicht geflogen. Und du? Wie war Schwabingers Rede?»
«Scheinheilig, ölig und verlogen wie immer», lachte Clara.
René zwinkerte ihr zu, dann bückte er sich unter dem Flügel hindurch und überprüfte, ob alles noch an Ort und Stelle war. Er zog an den Seilen und inspizierte die Flügel, und am Ende stieg er noch hinauf, um den Motor zu begutachten. Endlich sprang er herunter und wischte sich die Hände an einem Tuch ab. Die Väter hoben ihre Kinder wieder auf den Boden, und auch das Mädchen am Propeller lief zurück zu seinen Eltern.
«Ich muss die Maschine nach Oberschleißheim zurückbringen», meinte René und wies mit dem Kinn nach dem Doppeldecker. Er schob das Haar mit dem Arm zurück und warf das Tuch ins Cockpit. «Aber wenn du möchtest, treffen wir uns nachher. Mit dem Automobil bin ich im Handumdrehen wieder hier.» Er wollte ins Flugzeug steigen.
Clara atmete tief durch. Dann hielt sie ihn am Ärmel der Lederjacke fest. «Oder …»
René hob fragend die Augenbrauen.
Ihr Herz schlug wild. Doch Angst änderte nichts. Risiken lauerten überall. Das Schicksal fragte nicht, ob man bereit war. Wie immer man sich auch versteckte oder sich ihm darbot, es kümmerte sich nicht darum. Die Lüfte waren launisch. In einem Moment mild, im nächsten zerstörerisch. Derselbe Sturm, der Blumensamen verteilte und neues Leben sprießen ließ, konnte das Fluggerät zerschmettern, in dem der Mensch saß, der ihr auf der Welt am meisten bedeutete. Es war das Wesen der Elemente: nicht gut, nicht schlecht. Nur unabwägbar.
Sie blickte an der Maschine hinauf. Groß wirkte sie und zugleich unendlich fragil. Als könnte ein Windstoß sie zerbrechen.
Aber war das Leben nicht genau so?
Zerbrechlich. Und doch ließ es sich tragen auf unsichtbaren Strömungen, wie ein Vogel, dessen Schwingen gleichermaßen leicht und stark waren. Man konnte sich nicht gegen den Wind stemmen. Aber man konnte diese unwiderstehliche Kraft nutzen, wenn man ihr vertraute und sich davon treiben ließ.
«… oder», sagte Clara, «du nimmst mich mit, und wir fahren gemeinsam.»
René hatte schon die Hand auf den Rumpf gelegt, um sich hinaufzuziehen. Nun ließ er sie langsam an der Maschine herabgleiten. «Meinst du das ernst?»
Clara lachte. «Nun hilf mir schon hinein!»
René sah sie mit einem unbeschreiblichen Ausdruck an, und sie begriff, was es ihm bedeutete. Er sprang wieder zu Boden, nahm stürmisch ihr Gesicht in beide Hände, und dann küsste er sie doch vor allen Leuten.
«Steig ein!», sagte er und machte eine einladende Bewegung. «Du bekommst eine Aussicht, die kein König jemals hatte: das Oktoberfest von oben.»