Das Karfreitagstreffen des Vereins fand – wie hätte es auch anders sein können – in einer Brauereigaststätte statt. Man traf sich in einem ehemaligen Sudhaus mit hohen Decken und Metallstreben. In den guten Jahren vor dem Krieg hatten viele Brauereien modernisiert, und die alten Gebäude waren entweder abgerissen oder umfunktioniert worden. Holzkessel standen noch zur Dekoration zwischen den Tischen – stolze Zeichen, dass sie längst durch modernere aus Metall ersetzt worden waren. Als Clara der Geruch von Bier, gekochtem Kraut und Dampfnudeln entgegenschlug, war er ihr seltsam vertraut. Marei hatte oft so gerochen. Damals war es ihr kaum aufgefallen, aber jetzt erinnerte sie sich daran. Dampfnudeln waren eine beliebte Fastenspeise. Fett und süß, aber immerhin fleischlos. Und Fastenzeit war Starkbierzeit. In Bayern wurde man nicht gerade zur Askese erzogen.
Einige Gäste trugen Tracht, wie es unter modernen Städtern immer mehr in Mode kam. Dagegen fiel Melchior in seinem wie üblich viel zu eleganten Anzug auf. Clara trug ein einfaches helles Kleid und ein Schultertuch, das neben ihrem Vater schlicht und neben allen anderen erst recht unpassend wirkte. Sie war beinahe die einzige Frau, und alle beäugten sie verwundert und ein wenig misstrauisch. Clara erinnerte sich, dass ihre Großmutter die Brauerei einige Jahre allein geführt hatte. Hatte sie auch diese unbehaglichen Blicke geerntet?
Melchior begrüßte einen Mann mittleren Alters mit einem würdevollen gezwirbelten Schnauzbart und einer waghalsig über dem Bauch gespannten Uhrenkette. «Meine Tochter Clara», stellte er sie vor. «Sie wird demnächst anfangen, sich in die Firma einzuarbeiten, Herr Hacker.»
Da war sich Clara alles andere als sicher. Sie wollte ihrem Vater nicht vor seinen Kollegen widersprechen, aber sie fühlte sich noch unwohler als vorher.
Der Brauer deutete einen Handkuss an, aber es wirkte desinteressiert. «Habe die Ehre. Mein Beileid zum Tod vom Thomas. Ein Prachtbub. Suchen S’ Eana so oan als Mann, des ist das Beste, was Sie für die Firma tun können.» Und ehe Clara noch nach Luft schnappen und etwas erwidern konnte, wandte er sich auch schon wieder an Melchior: «Der Schwabinger soll da sein, stelln S’ Eana vor!»
Clara warf ihrem Vater einen Blick zu. Melchior überging die Empfehlung, seinen verstorbenen Sohn mir nichts, dir nichts durch einen Schwiegersohn zu ersetzen, mit einem Räuspern und erklärte: «Ferdinand Schwabinger ist seit kurzem einer der reichsten Männer der Stadt. Allerdings weiß niemand so genau, woher der Reichtum stammt. Viele vermuten, dass er am Krieg verdient hat – was interessant ist, wenn man bedenkt, dass wir gerade kapituliert haben.»
«Es wird g’redt, er hat mit Waffen gehandelt. Aber ned an die unsern hat er verkauft, sondern an die Amerikaner!», schnaubte der Brauer empört. «Aber sicher für mehra als bloß dreißig Silberlinge!»
Melchior gönnte sich ein schmales Lächeln. «Ich habe auch Gerüchte gehört, danach hat er den Alliierten nicht nur Waffen verkauft, sondern vor allem auch Informationen.»
«Wurscht! Des geht ned mit rechten Dingen zu. Kriegsgewinnler san nie ganz sauber. Saukerl, dafeiter!»
Melchior verschränkte die Arme, und aus seinen hellen Augen kam ein undurchschaubares Funkeln. «Was mich vor allem interessiert, ist, wieso er hier auftaucht. Er hat mit dem Brauereiwesen nichts zu tun. Wo steht er denn politisch?»
«Woaß i ned», schnaubte Hacker. «Ist mir auch gleich. Mit dem mag i nix zum tun haben.» Er fegte sich über den Schnauzer, wie um seine Verachtung zu demonstrieren, und steuerte auf einen der Kellner zu, die mit ihren Bierkrügen vorbeiliefen. Obwohl man die Tische mit den rot karierten Decken zusammengerückt hatte, war das gar nicht so einfach, da noch kaum jemand saß. Die meisten hatten sich einfach einen Teller mit Brezen, Essiggurken und Radi geholt und aßen im Stehen.
«Denkst du, er will investieren, um politische Ziele zu verfolgen?», fragte Clara, während Melchior nachdenklich beobachtete, wie Hacker zwischen den anderen Brauern verschwand. «Dass er für uns das Oktoberfest durchsetzt, und dafür schulden wir ihm etwas?»
Der Mundwinkel ihres Vaters zuckte. «Das ist mein Mädchen. Möglich wäre es. Vermutlich veranstaltet er aus demselben Grund auch große Abendgesellschaften, während alle anderen keinen Pfennig haben. Ich werde mich mal umsehen. Wenn der Mann tatsächlich kommt, will ich mir anhören, was er zu sagen hat.»
«Wie sieht er denn aus?»
Melchior zuckte die Achseln. «Ich habe keine Ahnung. Amüsiere dich, sieh dich um, aber sei so gut und halt bei den Themen Abstinenz und Nacktheit den Mund, ja?» Und damit ließ er sie stehen.
Clara stand ein wenig verloren unter den Männern, die sich alle untereinander kannten und in angeregte Debatten vertieft waren. Sie knabberte lustlos an Radieserl und einer Breze, die sie hin und wieder in ein Schälchen Obazdn tunkte. Eine andere junge Frau fiel ihr auf, die auch mit ihren Eltern hier war. Doch gerade, als sie ihre Breze weglegte und sie ansprechen wollte, drehte sie sich weg.
«Was macht eine so reizende junge Dame allein hier?»
Clara drehte sich um und wollte zu einer Antwort ansetzen, doch die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Es war ein auffallend ansehnlicher junger Mann, vielleicht dreißig Jahre alt. Groß, schlank, aber kräftig. Das blonde Haar war zu einem eleganten Seitenscheitel frisiert, die Brauen etwas dunkler. Er sah aus, wie man sich den Helden in einer der Rittergeschichten vorstellte, die sie als Kind gelesen hatte – Ivanhoe oder König Artus. Und neben Melchior Bruckner war er ganz sicher der Einzige hier, der einen Cutaway trug.
«Ich bin …» Clara unterbrach sich. Wenn sie hier herumstammelte wie ein kleines Mädchen, war es kein Wunder, dass jeder nur wissen wollte, wann sie heiratete. «Clara Bruckner. Mein Vater leitet das Brucknerbräu, ich werde es einmal übernehmen.»
Er küsste die dargebotene Hand. «Hocherfreut. Das heißt, Sie werden bald einen Generaldirektor suchen?»
Clara runzelte die Stirn. «Warum?»
«Nun, mit diesen zarten Händen werden Sie das nicht allein stemmen wollen.»
Clara blickte demonstrativ einer Kellnerin nach, die sich gerade, mehrere Bierkrüge gleichzeitig stemmend, schwitzend durch die Gäste drängte und meinte: «Hände, die zum Servieren und Schleppen kräftig genug sind, sollten wohl auch eine Füllfeder halten können. Die zarten Hände von Marie Curie konnten immerhin zwei Nobelpreise entgegennehmen.»
«Beeindruckend. Eine Frau, die etwas über Nobelpreise weiß. Sie lieben die Wissenschaft?» Aber er wirkte deutlich interessierter und auf einmal gar nicht mehr so gönnerhaft. Vielleicht hatte er nur versucht, eine Konversation zu eröffnen.
«Eduard Buchner bekam den Nobelpreis für Chemie 1907 für seine Arbeit über die Gärung von Hefeextrakt», erwiderte Clara und dachte: Warum zur Hölle weiß ich das? «Mein Vater verwendet diese Technologie seit der Publikation der Arbeit im Jahr 1897. Nur deswegen konnten wir den Krieg gut überstehen. Ich wäre eine miserable Erbin, wenn ich die Bedeutung der Wissenschaft für unsere Arbeit ignorieren würde. Und Madame Curie ist ein Vorbild für jede junge Frau.»
«Zweifellos, obwohl sie für Frankreich arbeitet. Ich habe eine der neuartigen Radiumuhren zu Hause. Das feenhafte Leuchten nachts ist märchenhaft. Radioaktivität ist ein charmanter Zeitvertreib für eine Dame, und man hört, Radium sei äußerst gesund. Es soll gegen Gicht und Rheuma helfen, möglicherweise sogar gegen Krebs.»
Clara hätte ihm sagen können, dass es neuerdings auch Leute gab, die die Harmlosigkeit radioaktiver Strahlung bezweifelten. Aber die meisten Männer mochten keine belesenen Frauen, und es wäre doch schade gewesen, wenn er das Weite gesucht hätte.
Der junge Mann schenkte ihr erneut ein blendendes Lächeln und warf dann einen Blick durch den Raum. «Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen. Ihr Vater ist sicher auch hier, nicht wahr? Wollen Sie uns nicht vorstellen?»
Melchior Bruckner war nirgends zu sehen, obwohl er schon aufgrund seiner Kleidung durchaus auffiel. Allerdings bedauerte sie das im Moment nicht besonders. «Er sucht diesen Schwabinger. Alle sagen, er sei hier, und ich habe eine Menge Gerüchte gehört. Vermutlich ist es Unsinn. Über meinen Vater wird auch geredet, und wenn das alles stimmen würde, hätte er einen Pakt mit dem Teufel, oder noch schlimmer, mit den Evangelischen.»
«Ja, das ist so bei Gerüchten.» Er stellte sich zu ihr und beobachtete die Menschen. «Vermutlich haben Sie das mit den Waffenverkäufen an die Alliierten gehört. Oder war es die Spionage-Geschichte?»
«Sie kennen sie?», fragte Clara überrascht.
«Natürlich. Habe ich mich noch gar nicht vorgestellt? Wie unhöflich. Ich bin Ferdinand Schwabinger.»
Clara riss die Augen auf. Der Mann war bei weitem zu jung und zu attraktiv, um der reichste Mann der Stadt zu sein.
Schwabinger schenkte ihr ein jungenhaftes Grinsen, das ihr das Gefühl gab, an einer charmanten Verschwörung beteiligt zu sein. Hatte sie das laut gesagt?
«Wenn man wohlhabend ist, reden die Leute immer. Es fällt ihnen schwer zu glauben, dass man einfach durch Geschick und ein gutes Gespür reich werden kann. Sie wollen mindestens eine Verschwörung, und man kann noch von Glück sagen, wenn man in ihren Augen wenigstens kein Freimaurer ist.»
Ein Freimaurer unter Bierbrauern. Clara musste lachen. «Es wird überall gemunkelt, warum Sie wohl hier sind», meinte sie. «Die Brauer hier wollen das Oktoberfest wieder abhalten und suchen Wege. Aber es gibt genug Leute, die meinen, man sollte das Geld besser in den Wiederaufbau des Landes stecken als in ein Relikt aus der Monarchie. Was interessiert Sie daran?»
Schwabinger schien eine Gruppe von Männern in Tracht zu beobachten, die gerade lachend mit ihren Krügen anstießen. «Nun, vielleicht wird es eine lohnende Investition, und man sagt mir nach, dass ich für so etwas einen Sinn habe. Der Biermarkt ist einer der wenigen, die halbwegs stabil sind. Ich will wissen, ob das Fest eine Zukunft hat.» Er winkte einem der Kellner und fragte: «Möchten Sie etwas trinken?»
Clara verneinte. «Ich trinke nicht.»
«Provokant für die Tochter eines Brauereidirektors.»
«Sie machen sich keine Vorstellung. Ich musste feststellen, dass über Ehekandidaten für mich mehr geredet wird als über Ihre Waffengeschäfte.»
Schwabinger lachte. «Alle Achtung. Aber wie dem auch sei, ich bezweifle, dass das Oktoberfest eine Zukunft hat. Vermutlich werden in wenigen Jahren nur noch Lokalhistoriker in Geschichtsbüchern darüber lesen.»
«Wer weiß. Vielleicht gibt es das Oktoberfest sogar noch in hundert Jahren», scherzte Clara. «Dann würden Sie sich ärgern, wenn Sie nicht investiert hätten.»
Schwabinger lachte erneut. «Sie sind amüsant! Nein, ich fürchte, das ist vorbei. Ohne König kein Fest.»
«Ach, man kann alles demokratisieren: Staaten, Unternehmen, vermutlich sogar Toiletten, und eines Tages, natürlich lange nach den Toiletten, vielleicht sogar das Verhältnis zwischen Männern und Frauen. Warum nicht auch das Oktoberfest?»
«Du lieber Gott, sind Sie Kommunistin?»
Clara runzelte die Stirn. «Ist es kommunistisch, die Demokratie zu unterstützen?»
Schwabinger zuckte die Schultern. «Möglich. Vielleicht auch nicht, wer hat da heutzutage noch den Überblick? Bayern geht nicht gut mit seinen Monarchen um», seufzte er. «Man erklärt sie für wahnsinnig und ermordet sie am Starnberger See.»
Ach du liebe Zeit. Gerade hatte Clara angefangen, die Unterhaltung zu genießen. Was, wenn er nun als Nächstes irgendwelche Geheimbünde oder dergleichen aus dem Hut zog? «Sie gehören zu denen, die glauben, Ludwig II. wurde ermordet?»
«Ich glaube es nicht, ich weiß es», erwiderte Schwabinger.
«Oh. Sind Sie Okkultist und hatten eine Audienz bei seinem Geist?»
«Spotten Sie nicht.» Schwabinger beugte sich zu ihr. «Ich könnte Ihnen schockierende Dinge erzählen», flüsterte er. «Dinge, die Ihren Glauben an die Menschheit erschüttern könnten. Aber ich will Ihr zartes Gemüt nicht belasten.»
«Ach, wissen Sie, mein zartes Gemüt hat einen Krieg und eine Seuche nie gekannten Ausmaßes überstanden. Mein Vater wäre fast bei Verdun von Granaten zerfetzt worden, und mein Bruder ist in einem verdreckten Feldlazarett an der Spanischen Grippe gestorben», erwiderte Clara trocken. «Ein seit vierzig Jahren toter König schreckt mich da nicht allzu sehr.»
Schwabinger bemerkte, dass Herr Pschorr gerade allein stand, und hatte es auf einmal eilig, das Gespräch zu beenden. «Sie müssen mich einmal besuchen. Es ist verzaubernd, mit Ihnen zu plaudern», sprach’s, zückte eine Karte, küsste ihr die Hand und entschwand.
Clara runzelte die Stirn und blickte ihm nach. Nun, die Einladung konnte sie in jedem Fall annehmen. Es würde schon nicht gleich der Geist Ludwigs II. dort auftauchen, um ihr den Treueschwur abzunehmen. Schwabinger war skurril, aber irgendwie amüsant.
Sie mischte sich unter die Gruppe, in der die junge Frau von vorhin stand. Das Mädchen trug Tracht wie ihr Vater, aber mit ihrem dunklen Haar und dem runden Gesicht sah es sogar ein bisschen weniger nach Verkleidung aus als bei so manch anderem. Clara erfuhr, dass sie Lisbeth Geschwendtner hieß und ihre Familie einen kleinen Stand mit Bierausschank auf dem Oktoberfest betrieben hatte.
«Die Schwester vom Thomas? O mei!», rief sie, als Clara ihren Namen nannte. «Beileid. So ein netter Bursch war der Thomas.»
«Das war er», seufzte Clara.
«Werden Sie jetzt die Brauerei übernehmen?», fragte der Vater, der seine Tochter die ganze Zeit bewachte wie ein schnauzbärtiger, glatzköpfiger Schießhund.
Clara bejahte. Sie war sich da zwar noch alles andere als sicher, aber sie wollte ihren Vater nicht in Verlegenheit bringen.
«Die Eltern haben die letzten Jahre ganz gut überstanden. Als der Krieg kam, haben sie den Vertrag mit diesem Engländer kündigen müssen. Wie hat der g’heißen?»
«Shelton. Sir William Shelton.» Ihre Eltern waren damals ziemlich wütend auf Kaiser Wilhelm gewesen – und auf den bayerischen König, der den Krieg mitgetragen hatte. Windigs Lattirl, hatte sich die heimische Mundart unversehens auf Antonias Lippen gestohlen. Unfein hatte sie das königlich bayerische Rückgrat Seiner Majestät mit einer vom Winde hin und her bewegten Lattentür verglichen.
«Ja, genau, der. Die Eltern waren zum Glück nicht auf das russische Getreide angewiesen. Das ist vielen zum Verhängnis geworden, als bei den Russen plötzlich die Kommunisten kamen und nix mehr verkauft worden ist. Pfleg die Kontakte, Madl, so wie der Vater.»
«Genau genommen waren es Freunde meiner Mutter, die uns geholfen haben», berichtigte Clara. Antonia Bruckner hatte unter den Hallertauer Bauern noch einige alte Freunde, die ihre Kontakte bei den Malzfabriken hatten spielen lassen.
Der alte Herr überging den Einwand. «Also, und das Wichtigste für ein junges Madl, das eine Brauerei erbt, ist natürlich der passende Mann. Das wird nicht schwer, es gibt trotz Krieg noch Junggesellen bei uns. Da ist doch der …»
«Verzeihung», fiel ihm Clara ins Wort. «Frauen dürfen jetzt wählen. Da werden sie auch allein eine Brauerei führen können.» Schon wieder einer, der sich berufen fühlte, ihr Privatleben zu regeln. Zwar war sie alles andere als zuversichtlich, ob sie die Brauerei würde leiten können, aber das hieß noch lange nicht, dass diese Wurzelrübe es ihr ins Gesicht sagen durfte. Sie bekam beinahe Lust, es tatsächlich zu tun, nur um es diesen Leuten zu zeigen.
Der alte Herr schaute sie an, als hätte sie sich gerade zum Atheismus bekannt.
«Vater, erzähl doch mal von diesem Journalisten», mischte sich seine Tochter schnell ein. «Das wird die Clara interessieren.»
«Ach, der», schnaubte ihr Vater. «Schaut schneidig aus. Aber a Maul wie a Abortgruben!»
Lisbeth kicherte und meinte: «Der Vater ist bös auf ihn, weil er schreibt, dass die Münchner Brauereien provinziell sind.»
«‹Provinziell, dumpf und fett›», korrigierte ihr Vater finster und rückte die straff gespannte Uhrenkette über dem Bauch zurecht. An seiner Weste war ein Knopf abgesprungen. «Den wann i derwisch!»
Das klang ja, als sei da ein neuer Martin Luther des Brauereiwesens unterwegs. «Wen denn?», fragte Clara belustigt.
«R. Kurowsky steht unter seinen Artikeln. Bestimmt ein Russ!»
«Ah geh, Vater», kicherte Lisbeth. «Der schreibt, dass der Scotch besser ist als a Bier. Das ist kein Russ. Die trinken Wodka.»
Darauf hätte Clara ihren Kopf nicht verwettet, denn sie nahm an, dass die Geschmäcker auch in Schottland und Russland unterschiedlich waren. Aber die Vorstellung, wie dieser Kurowsky mit Zobelpelzmütze oder im Schottenrock seine ketzerischen Thesen übers Bier schrieb und womöglich fünfundneunzig davon am Tor des Löwenbräu anschlug, war zu komisch.
«Ein Russ!», wiederholte der Vater trotzig, und sein Schnauzbart sträubte sich voller Abscheu. «Oder ein russischer Jud! Außer übers Bier schreibt er auch über das neumodische Flugzeug-Zeugs. So ein Schmarrn. Wenn der Herrgott gewollt hätt, dass die Menschen fliegen, nacha hätt ma Flügel. Hoffentlich darennt er sich und bricht sich ’s Gnack!»
«Ein schneidig’s Mannsbild», unterbrach Lisbeth die frommen Wünsche ihres Vaters. «Ich hab ihn mal bei einem Fest gesehen.»
«Da bleiben dir d’ Finger sauber!», fuhr ihr ihr Vater über den Mund. «Man isst ned mit dene Schnapsjünger, man sauft ned mit eana, und scho gar ned heirat’ man oan!»
Clara zwinkerte Lisbeth zu. «Manchmal geht die Liebe sonderbare Wege.»
Der Gschwendtner holte Luft. Er griff in seine Westentasche und beförderte eine kleine, mit einer roten Bauernrose bemalte Dose Schnupftabak heraus. Er griff hinein, stopfte sich zwei Prisen in die behaarten Nasenlöcher und sog tief die Luft ein. «Und welcher Pfarrer», fragte er erbost, «sollt nacha so eine Mischehe segnen? Wie soll man da die Kinder erziehen? Da kannst ja gleich an Lutheraner heiraten! Nix da, meine Tochter heirat’ koan Ketzer ned, weder an Evangelischen noch an Whiskysäufer. Und Sie, Fräulein, Eana rat ich, suchen S’ Eana bald an guten Mann, damit Sie auf solche depperten Ideen gar nicht erst kommen!»
Clara verzog die Lippen. «Warum?»
«Sie wollen den doch nicht verteidigen?»
Clara lächelte lieb. «Oh, ganz und gar nicht. Ich stimme ihm zu, aber in einem Punkt täuscht er sich.»
Des würdigen Braumeisters Augen wollten ihm schier aus dem Kopf treten.
«Die Lösung in diesem Glaubenskrieg ist nicht der Scotch», vollendete Clara. «Sondern die Prohibition.»