Enger und enger zog sich in den nächsten Tagen das Netz der Regierungstruppen um München. Doch Clara war entschlossen, selbst die apokalyptischen Reiter mit Missachtung zu strafen. Sie hatte genug davon, in Kriege hineingezogen zu werden. Menschen zu verlieren, nur weil ein paar Mächtige noch immer nicht genug hatten. Macht war eine Illusion, die schon viel zu viele das Leben gekostet hatte. Wenn allenthalben die Trommeln zur Schlacht riefen, würde sie den Krach eben mit dem Blubbern ihres Experiments übertönen.
Mit Angelikas Hilfe setzte sie nachmittags um, was Peter ihr vormittags beibrachte. Widerwillige Knechte konnte sie nicht brauchen, und die Kellnerin würde wenigstens Melchior nichts verraten. Sie zweigte etwas Stammwürze ab und erhitzte sie mit Hopfen. Den Heißtrub, der oben als Schaum schwamm, würde sie später abfiltern und die Ausschlagwürze dann einfach direkt abfüllen: keine Hefe, keine Gärung, kein Alkohol. Stolz überkam Clara, als sie den winzigen Probekessel betrachtete. Das Hinterzimmer im Gasthaus war kaum mehr als ein Verschlag, in dem man sich ständig den Kopf an den niedrigen Balken stieß. Durch das winzige Fenster zog es, und die einzige schiefe Glühbirne an der Decke gab abends nur wenig Licht. Hin und wieder hörte sie Rotgardisten auf der Straße oder einen Betrunkenen. Aber das störte sie nicht. Sie hatte ihren Kessel und eine Möglichkeit, ihn zu erhitzen. Sehr viel mehr brauchte sie im Moment nicht. Ihre Hand schloss sich um Thomas’ Münze in ihrer Tasche.
«Fräulein Bruckner!», hörte sie Angelika. Die Tür flog auf, und die blonde Kellnerin stand im Eingang. «Fräulein, Sie müssen kommen!»
Als Clara herüberkam, standen einige Männer auf dem Hof des Sudhauses, die offenbar in Streit geraten waren. Der eine oder andere kam Clara bekannt vor, sie meinte sich zu erinnern, dass sie als Brauknechte arbeiteten. Jetzt hatten einige von ihnen rote Binden am Arm. Manche trugen eine Uniform, andere nur Arbeiterkleider. In ihren fleckigen, von eingerissenen Trägern gehaltenen Hosen und mit den hochgekrempelten Ärmeln sahen sie sich sämtlich ähnlich, und Clara kannte auch noch längst nicht alle Namen. Schon gar nicht jetzt, da zwei sich gerade schubsten und alle durcheinanderredeten. Clara atmete durch und rief dann, so kräftig sie konnte: «Was ist hier los?»
Die Brauknechte blickten auf. Ein paar verdrehten abfällig die Augen, als sie sie erkannten. Aber immerhin traten sie beiseite.
«Der Hans ist zur Roten Armee!», rief Xaver. «Ich wollt ihm den Hintern verhauen. Der spinnt doch.»
Clara kannte keinen Hans, aber vermutlich war es der etwa siebzehnjährige Bengel in Uniform, mit der roten Binde am Arm. «Ich bin der, der spinnt?», erwiderte er heftig. «Gib’s doch zu, du kannst es gar nicht erwarten, bis die Weißen angreifen! Aber die holen sich wieder eine blutige Nase, wie am Palmsonntag in Dachau.» Er schob sich die Mütze aus dem noch kindlich runden Gesicht. Auch der Bartwuchs um die vollen Lippen war spärlich, er war auf keinen Fall älter als sie. «Wir müssen was kon… kon…»
«…fisziern», half ihm ein anderer. Mit einer gewissen Genugtuung grinste er Clara an. Offenbar gefiel es ihm, dass es ausgerechnet die verhasste Erbin war, der er in die Suppe spucken konnte. Warum nur können sie mich nicht leiden?, fragte sich Clara erneut.
«Der ist einer von unseren Arbeitern!», rief Xaver wütend. «Und jetzt kommt er daher und mandelt sich auf!»
Clara winkte ab. «Worum geht es denn?»
Hans stand stramm wie vor einem Schullehrer und räusperte sich. «Da wären Ihre Arbeiterwohnungen. Eine steht leer. Die enteignen wir, wir werden Genossen einquartieren, wegen der Wohnungsnot. Und außerdem hab ich meinen Lohn nicht bekommen. Es gab Anweisung, dass der trotz Streik weitergezahlt werden muss. Bargeld ist knapp, wir werden auch Bargeld beschlagnahmen.»
Clara hatte keine Ahnung, ob die Forderungen rechtens waren. Aber die Männer sahen nicht aus, als wäre es eine gute Idee, darüber zu diskutieren. Ihr fiel ein, wie sich die Rotgardisten bei der Ausweiskontrolle mit Zigaretten hatten bewegen lassen. Aber was konnte sie denen hier anbieten?
«Du dreckerter Saukerl!», schrie Xaver. «Beschlagnahmen sagt er und meint stehlen!»
Die Männer machten Anstalten, aufeinander loszugehen, und die Rotgardisten hoben die Gewehre.
«Ganz ruhig!», rief Clara. Ihr war eine Idee gekommen. «Bitte nehmen Sie die Waffen runter. Das wird nicht nötig sein. Sie möchten Ihr Geld – nun gut. Das verstehe ich. Ich werde Sie auszahlen.»
«Echt?» Hans starrte sie mit großen Kinderaugen an. Die Rotgardisten ließen die Gewehre langsam sinken. Aber sie ließen die Finger am Abzug.
«Wie viel fehlt denn von Ihrem Lohn?»
«Seit Ostern hab ich nichts bekommen.»
«Das sind ja erst ein paar Tage. Schauen Sie, ich muss auch noch andere Arbeiter bezahlen, daher weiß ich nicht, wie viel ich Ihnen geben kann, ohne die zu bestehlen. Was halten Sie davon: Ich zahle Sie jetzt erst einmal bis Mai aus, und dann sehen wir weiter. Wie wäre es, wenn ich Ihnen so lange ein paar Flaschen Schnaps mitgebe?» Sie lächelte. «Macht das Warten leichter.»
Das wirkte. Die Rotgardisten sahen sich an, dann nickte der erste. Clara atmete auf.
Sie stellte Angelika ab, auf die Männer aufzupassen. Sollten sie sich wieder in die Haare geraten, würde der dünne Drachen dazwischengehen und besser als jeder Truppenkommandant für Ruhe sorgen.
Das Erdgeschoss des Brucknerschlössl war warm und roch schon wieder nach Ostergebäck. Clara ließ Hans unten in der Halle warten und lief hinauf ins Kontor.
Ihre Mutter blickte von den Rechnungen auf und legte die goldgerahmte Lorgnette zur Seite, als Clara hereinstürmte. «Was ist denn los?»
Clara erzählte ihr, was passiert war. Antonia wurde leichenblass. «Das war gefährlich! Du weißt nie, was das für Männer sind.»
Clara öffnete den schweren Eichenschrank mit den Schnitzereien. «Es ist ja nichts passiert. Ich zahle Hans aus. Und ein paar Flaschen Schnaps habe ich ihnen versprochen. Ist die Geldkassette hier drin?»
Antonia schob sie zur Seite und holte den schweren Metallkasten heraus. Sie stellte ihn auf den Tisch, zählte das Geld ab und faltete es zu einem Bündel. Als sie die Ausgabe in das Buch eintragen wollte, stutzte sie. «Was ist das denn?»
Clara sah zum ersten Mal überhaupt in das Buch, in dem Antonia jede Ausgabe notierte. Die Summe war am 18. April 1919 eingetragen. Anders als bei allen anderen stand kein Verwendungszweck daneben, nur MB.
«Melchior?», fragte Antonia überrascht. «Der Achtzehnte war doch Karfreitag. Wofür gibt er denn am Feiertag tausend Mark aus?»
Sie bemerkte Claras Ungeduld, reichte ihr das Geld und verschloss die Kassette sorgsam. Aber sie wirkte nachdenklich. «Und damit sind die Rotgardisten zufrieden?», fragte sie, während sie den Kasten wieder in den Schrank stellte.
Clara zuckte die Achseln. «Ich weiß nicht einmal, ob sie einen genauen Befehl haben. Es ist gut, dass Hans bei ihnen ist. Er hat hier gearbeitet, und ihr habt eure Arbeiter nie schlecht behandelt.»
Antonia begleitete ihre Tochter. Hans wartete in der Halle und trat von einem Fuß auf den anderen. Antonia bat ihn um eine Minute Geduld. Marei war nicht da, aber sie kannte sich in der Küche aus. Der Hefezopf, der so geduftet hatte, war noch nicht abgekühlt. Doch es fanden sich zwei Flaschen Obstler, und Clara entdeckte ein Osterlamm aus Kuchenteig, das sie auch noch mit in den Korb packte.
«Das hat Marei in der Kirche weihen lassen», flüsterte Antonia mit einem Blick zur Tür. «Ich weiß, Lebensmittel sind knapp, aber sind die Kommunisten nicht gegen die Kirche?»
«Das haben wir gleich.» Clara öffnete die Schublade, wo Marei ihren Krimskrams aufbewahrte, und durchwühlte sie. Sie fand eine rote Schleife und band sie dem Kuchen um. «So. Das ist so gut wie eine Armbinde. Jetzt ist es ein kommunistisches Osterlamm.»
Ihre Mutter starrte sie an, aber da war Clara schon hinaus.
«Ich hätt nicht gedacht, dass Sie so anständig sind», sagte Hans, als sie ihm die Sachen brachte. Er hatte ganz brav in der Halle gewartet und sogar die Mütze abgenommen. Als er das Lamm mit der roten Schleife sah, strahlte er wie ein kleiner Junge, der ein Honigplätzchen geschenkt bekommt. «Die sagen, alle von der Bourgeoisie sind Verbrecher und Sie ganz besonders.»
Clara reichte ihm den Korb. «Vielleicht würde es weniger Krieg geben, wenn man zur Abwechslung mal nur die als Verbrecher betrachten würde, die sich auch tatsächlich etwas zuschulden kommen lassen.» Sie runzelte die Stirn. «Wieso ich ganz besonders?»
Er trat unbehaglich von einem Bein aufs andere. «Mei, weil Sie mit Ihrem Abstinenzlerbier die Leute arbeitslos machen wollen. Alle haben Angst, dass sie entlassen werden, wenn Sie kein Bier mehr machen. Sie können leicht die Welt verbessern, sagen sie, mit Ihren reichen Eltern, aber was wird aus uns?»
Clara verschlug es die Sprache. Also deshalb konnten die Brauknechte sie nicht leiden?
Hans steckte das Geld in die ausgebeulte Knickerbockerhose. Er setzte die Mütze wieder auf, zog sie in die Stirn und meinte: «Jedenfalls, dank schön, Fräulein Clara. Ich werd das nicht vergessen.»
Ich auch nicht, dachte Clara und blickte ihm nach, wie er mit dem Kommunistenlamm und den Flaschen zurück zum Sudhaus lief. Für meine Brauknechte bin also ich die böse Hexe!
Jemand hämmerte an die Tür, und Magdalena kam, ein Geschirrtuch über dem Arm, aus der Küche. Kopfschüttelnd öffnete sie, bereit, einen Dienstboten zurechtzuweisen.
«Wo sind sie?», schrie sie der Mann mit der roten Armbinde an. Hinter ihm drängten sich gleich mehrere andere herein, alle in schlechtsitzenden, offenbar geerbten Uniformen oder in den schlichten Kleidern der einfachen Arbeiter. Und alle trugen die roten Armbinden. Rotgardisten.
Erschrocken taumelte sie zurück. «Wer?»
«Weiße», erwiderte der Mann. Magdalena fielen seine buschigen Augenbrauen auf, die nicht zu der streng zurückgekämmten blonden Frisur passten. Seine Lippen waren voll für einen Mann, fast kindlich. Er war höchstens Anfang zwanzig. Aber er hatte stechende hellblaue Augen, die alles andere als kindlich wirkten. «Verräter. Es wurden Informationen an die Weißen gegeben. Vielleicht auch Waffen. Wir haben einen Hinweis erhalten.»
Er wies seine Männer an, sich zu verteilen. Magdalena starrte ihnen nach. «Aber … hier gibt es keine Verräter, und auch keine Waffen. Meine Mutter ist eine friedliche Witwe …»
Er schlug sie ins Gesicht, sodass sie mehrere Schritte zurücktaumelte. «Halt’s Maul! In der verfluchten Bourgeoisie deckt einer den anderen, das kennen wir. Sie wissen, was der Genosse Egelhofer proklamiert hat? Alle Waffen sind unverzüglich abzugeben.» Er zog ein Papier aus der Tasche. Fleckig, zerfleddert, als würde es nicht zum ersten Mal benutzt. «‹Wer nicht alle Waffen, abgegeben hat, wird erschossen›», las er. «Also, raus damit.»
Magdalena hielt sich die brennende Wange. Sie brauchte ein paar hastige, panische Atemzüge, um wieder sprechen zu können. «Hier ist niemand außer meiner Mutter und ihren Kindern. Und dem Dienstmädchen.»
«Und Sie sind?»
Magdalena atmete stoßweise, hektisch.
«Wird’s bald, du reiche Schlampe?», schrie er sie an.
«Magdalena Moser. Die Tochter. Ich schwöre Ihnen, wir haben niemanden hier versteckt.» Ihre Augen irrten durch den Raum, über die schmale Holztreppe nach oben. Die Bilder an der Wand, einfache Aquarelle von Bauern auf dem Feld. War etwas davon verboten? Die Panik lähmte ihre Zunge. Sie würden sie in irgendeine leerstehende Schule oder Kaserne verschleppen. Sie erschießen oder Schlimmeres. Sie wusste nicht, wer dieses halbe Kind war, das sie vor ein paar Monaten vielleicht noch als Rotzbengel bezeichnet hätte. Der Hass, den hemmungslos auszuleben ihm seine Position erlaubte, war überdeutlich und galt ihrer gesamten Klasse. Sie war nur das Ventil, an dem er seine Wut ausließ, die er vielleicht schon ein ganzes Leben lang in sich trug. Die Binde am Arm gab ihm das Gefühl von Macht, ob rot oder weiß war vermutlich nebensächlich. Nie zeigte sich der Charakter eines Menschen mit so grausamer Ehrlichkeit, als wenn er die Gewalt über Leben und Tod anderer besaß. Dann zeigten Menschen, wer sie wirklich waren.
Er wartete und horchte nach oben, mit lauerndem Blick, wie ein Raubtier. Magdalena hörte ihre Mutter hysterisch auf die Rotgardisten einreden. Irgendwo war auch die Stimme Ludwigs zu hören, ihres kleinen Bruders. «Und?», rief der Anführer.
«Nichts.»
«Sucht weiter!» Er ging durch den Flur und öffnete die Tür am Ende. «Was ist hier?»
«Die Stube. Hören Sie, wir würden so etwas nie tun. Bitte …»
Er hielt die Tür auf und wies sie an hereinzukommen. «Ich will wissen, mit wem Sie zu tun haben und ob Weiße bei Ihnen verkehren. Sie reden besser, sonst muss ich Sie verhaften.»
Magdalena zögerte.
Einer der Burschen kam die Treppe herunter. Ein verstohlenes Grinsen lag auf seinem feisten Gesicht. Magdalena stockte der Atem. War das nicht einer ihrer Arbeiter? Sie hatten ein paar entlassen, weil sie sich die Lohnfortzahlung während des Streiks nicht leisten konnten. War das seine Rache? Er genoss seinen Triumph einige Augenblicke lang, dann wandte er sich verächtlich ab. «Wir haben die Alte verhört, und der Bengel sagt, er weiß nichts.»
Die Rotgardisten wechselten einen Blick. «Frag noch mal. Geh schon!», sagte der Anführer. Der andere steckte die Waffe ein und ging nach oben. Der Anführer packte Magdalena am Arm und stieß sie grob in die Stube. «Und jetzt rein da!»
Magdalena stolperte in das Zimmer. Am Kamin stand das Kanapee, und in den beiden schweren Schränken wurde das gute Geschirr aufbewahrt. Es war eine Stube, wie sie die meisten wohlhabenderen Bürger hatten: mit dunklen, fast schwarzen Stühlen, die mit Schnitzereien verziert waren, und einem Regal mit Zinnkrügen an der Wand. Eine kleine Vitrine, in der noch die Meerschaumpfeifen ihres Vaters aufbewahrt wurden, die er hier früher immer geraucht hatte. Ein paar Bücher, in der Mitte die Bibel. Aus ihr hatte er abends oft vorgelesen. Alles Dinge, die dieser Rotgardist vielleicht nie gehabt hatte. Ob ihn das noch wütender machen würde?
Sie ließ sich auf dem roten Polster nieder und verschränkte nervös die Hände. Sie hatte das Gefühl, etwas falsch gemacht, fast schon ein Verbrechen begangen zu haben, ohne zu wissen wie. Und dass sie nicht wusste, was ihr Verbrechen war, machte die Angst vor der Strafe noch schlimmer. Hatten sie mit jemandem Kontakt gehabt, der gegen die Republik war? Das Bedürfnis, ihre bedingungslose Unterwerfung unter den Staat zu zeigen, wurde so stark, dass sie beinahe von sich aus gebeten hätte, ihre Loyalität unter Beweis stellen zu dürfen.
Als sie aufsah, schloss der junge Rotgardist die Tür und kam langsam näher. Er setzte sich nicht, sondern blieb vor ihr stehen. Seine kalten, hellblauen Augen sahen ihr direkt ins Gesicht.
«Und jetzt hören Sie mir gut zu», sagte er.