Unbekümmert, spöttisch, gewalttätig – so will uns die Weisheit: sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann.
Also sprach Zarathustra
Was bedeuten asketische Ideale? – Bei Künstlern nichts oder zu vielerlei; bei Philosophen und Gelehrten etwas wie Witterung und Instinkt für die günstigsten Vorbedingungen hoher Geistigkeit; bei Frauen, bestenfalls, eine Liebenswürdigkeit der Verführung mehr, ein wenig morbidezza auf schönem Fleische, die Engelhaftigkeit eines hübschen fetten Tiers; bei physiologisch Verunglückten und Verstimmten (bei der Mehrzahl der Sterblichen) einen Versuch, sich »zu gut« für diese Welt vorzukommen, eine heilige Form der Ausschweifung, ihr Hauptmittel im Kampf mit dem langsamen Schmerz und der Langeweile; bei Priestern den eigentlichen Priesterglauben, ihr bestes Werkzeug der Macht, auch die »allerhöchste« Erlaubnis zur Macht; bei Heiligen endlich einen Vorwand zum Winterschlaf, ihre novissima gloriae cupido, ihre Ruhe im Nichts (»Gott«), ihre Form des Irrsinns. Daß aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundtatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel – und eher will er noch das Nichts wollen als nicht wollen. – Versteht man mich?... Hat man mich verstanden?... »Schlechterdings nicht! mein Herr!« – Fangen wir also von vorne an.
Was bedeuten asketische Ideale? – Oder, daß ich einen einzelnen Fall nehme, in betreff dessen ich oft genug um Rat gefragt worden bin, was bedeutet es zum Beispiel, wenn ein Künstler wie Richard Wagner in seinen alten Tagen der Keuschheit eine Huldigung darbringt? In einem gewissen Sinne freilich hat er dies immer getan; aber erst zuallerletzt[839] in einem asketischen Sinne. Was bedeutet diese »Sinnes«-Änderung, dieser radikale Sinnes-Umschlag? – denn ein solcher war es, Wagner sprang damit geradewegs in seinen Gegensatz um. Was bedeutet es, wenn ein Künstler in seinen Gegensatz umspringt?... Hier kommt uns, gesetzt daß wir bei dieser Frage ein wenig haltmachen wollen, alsbald die Erinnerung an die beste, stärkste, frohmütigste, mutigste Zeit, welche es vielleicht im Leben Wagners gegeben hat: das war damals, als ihn innerlich und tief der Gedanke der Hochzeit Luthers beschäftigte. Wer weiß, an welchen Zufällen es eigentlich gehangen hat, daß wir heute an Stelle dieser Hochzeits-Musik die Meistersinger besitzen? Und wieviel in diesen vielleicht noch von jener fortklingt? Aber keinem Zweifel unterliegt es, daß es sich auch bei dieser »Hochzeit Luthers« um ein Lob der Keuschheit gehandelt haben würde. Allerdings auch um ein Lob der Sinnlichkeit – und gerade so schiene es mir in Ordnung, gerade so wäre es auch »Wagnerisch« gewesen. Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit gibt es keinen notwendigen Gegensatz; jede gute Ehe, jede eigentliche Herzensliebschaft ist über diesen Gegensatz hinaus. Wagner hätte, wie mir scheint, wohlgetan, diese angenehme Tatsächlichkeit seinen Deutschen mit Hilfe einer holden und tapferen Luther-Komödie wieder einmal zu Gemüte zu führen, denn es gibt und gab unter den Deutschen immer viele Verleumder der Sinnlichkeit; und Luthers Verdienst ist vielleicht in nichts größer als gerade darin, den Mut zu seiner Sinnlichkeit gehabt zu haben (– man hieß sie damals, zart genug, die »evangelische Freiheit«...) Selbst aber in jenem Falle, wo es wirklich jenen Gegensatz zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit gibt, braucht es glücklicherweise noch lange kein tragischer Gegensatz zu sein. Dies dürfte wenigstens für alle wohlgerateneren, wohlgemuteren Sterblichen gelten, welche ferne davon sind, ihr labiles Gleichgewicht zwischen »Tier und Engel« ohne weiteres zu den Gegengründen des Daseins zu rechnen – die Feinsten und Hellsten, gleich Goethe, gleich Hafis, haben darin sogar einen Lebensreiz mehr gesehn. Solche »Widersprüche« gerade verführen zum Dasein... Andrerseits versteht es sich nur zu gut, daß wenn einmal die verunglückten Schweine dazu gebracht werden, die Keuschheit anzubeten – und es gibt solche Schweine! –, sie in ihr nur ihren Gegensatz, den Gegensatz zum verunglückten[840] Schweine sehn und anbeten werden – o mit was für einem tragischen Gegrunz und Eifer! man kann es sich denken – jenen peinlichen und überfüssigen Gegensatz, den Richard Wagner unbestreitbar am Ende seines Lebens noch hat in Musik setzen und auf die Bühne stellen wollen. Wozu doch? wie man billig fragen darf. Denn was gingen ihn, was gehen uns die Schweine an? –
Dabei ist freilich jene andre Frage nicht zu umgehn, was ihn eigentlich jene männliche (ach, so unmännliche) »Einfalt vom Lande« anging, jener arme Teufel und Naturbursch Parsifal, der von ihm mit so verfänglichen Mitteln schließlich katholisch gemacht wird – wie? war dieser Parsifal überhaupt ernst gemeint? Man könnte nämlich versucht sein, das Umgekehrte zu mutmaßen, selbst zu wünschen – daß der Wagnersche Parsifal heiter gemeint sei, gleichsam als Schlußstück und Satyrdrama, mit dem der Tragiker Wagner auf eine gerade ihm gebührende und würdige Weise von uns, auch von sich, vor allem von der Tragödie habe Abschied nehmen wollen, nämlich mit einem Exzeß höchster und mutwilligster Parodie auf das Tragische selbst, auf den ganzen schauerlichen Erden-Ernst und Erden-Jammer von ehedem, auf die endlich überwundene gröbste Form in der Widernatur des asketischen Ideals. So wäre es, wie gesagt, eines großen Tragikers gerade würdig gewesen: als welcher, wie jeder Künstler, erst dann auf den letzten Gipfel seiner Größe kommt, wenn er sich und seine Kunst unter sich zu sehen weiß – wenn er über sich zu lachen weiß. Ist der »Parsifal« Wagners sein heimliches Überlegenheits-Lachen über sich selbst, der Triumph seiner errungenen letzten höchsten Künstler-Freiheit, Künstler-Jenseitigkeit? Man möchte es, wie gesagt, wünschen; denn was würde der ernstgemeinte Parsifal sein? Hat man wirklich nötig, in ihm (wie man sich gegen mich ausgedrückt hat) »die Ausgeburt eines tollgewordnen Hasses auf Erkenntnis, Geist und Sinnlichkeit« zu sehn? Einen Fluch auf Sinne und Geist in einem Haß und Atem? Eine Apostasie und Umkehr zu christlich-krankhaften und obskurantistischen Idealen? Und zuletzt gar ein Sich-selbst-Verneinen, Sich-selbst-Durchstreichen von seiten eines Künstlers, der bis dahin mit aller Macht[841] seines Willens auf das Umgekehrte, nämlich auf höchste Vergeistigung und Versinnlichung seiner Kunst ausgewesen war? Und nicht nur seiner Kunst: auch seines Lebens. Man erinnere sich, wie begeistert seinerzeit Wagner in den Fußtapfen des Philosophen Feuerbach gegangen ist: Feuerbachs Wort von der »gesunden Sinnlichkeit« – das klang in den dreißiger und vierziger Jahren Wagner gleich vielen Deutschen (– sie nannten sich die »jungen Deutschen«) wie das Wort der Erlösung. Hat er schließlich darüber umgelernt? Da es zum mindesten scheint, daß er zuletzt den Willen hatte, darüber umzulehren... Und nicht nur mit den Parsifal-Posaunen von der Bühne herab – in der trüben, ebenso unfreien als ratlosen Schriftstellerei seiner letzten Jahre gibt es hundert Stellen, in denen sich ein heimlicher Wunsch und Wille, ein verzagter, unsicherer, uneingeständlicher Wille verrät, ganz eigentlich Umkehr, Bekehrung, Verneinung, Christentum, Mittelalter zu predigen und seinen Jüngern zu sagen »es ist nichts! sucht das Heil woanders!« sogar das »Blut des Erlösers« wird einmal angerufen...
Daß ich in einem solchen Falle, der vieles Peinliche hat, meine Meinung sage – und es ist ein typischer Fall –: man tut gewiß am besten, einen Künstler insoweit von seinem Werke zu trennen, daß man ihn selbst nicht gleich ernst nimmt wie sein Werk. Er ist zuletzt nur die Vorausbedingung seines Werks, der Mutterschoß, der Boden, unter Umständen der Dünger und Mist, auf dem, aus dem es wächst – und somit, in den meisten Fällen, etwas, das man vergessen muß, wenn man sich des Werks selbst erfreuen will. Die Einsicht in die Herkunft eines Werks geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten! Dem Dichter und Ausgestalter des Parsifal blieb ein tiefes, gründliches, selbst schreckliches Hineinleben und Hinabsteigen in mittelalterliche Seelen-Kontraste, ein feindseliges Abseits von aller Höhe, Strenge und Zucht des Geistes, eine Art intellektueller Perversität (wenn man mir das Wort nachsehn will) ebensowenig erspart als einem schwangeren Weibe die Widerlichkeiten und Wunderlichkeiten der Schwangerschaft: als welche man, wie gesagt, vergessen muß, um sich des Kindes[842] zu erfreuen. Man soll sich vor der Verwechslung hüten, in welche ein Künstler nur zu leicht selbst gerät, aus psychologischer contiguity, mit den Engländern zu reden: wie als ob er selber das wäre, was er darstellen, ausdenken, ausdrücken kann. Tatsächlich steht es so, daß, wenn er eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde; ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn Homer ein Achill und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein vollkommner und ganzer Künstler ist in alle Ewigkeit von dem »Realen«, dem Wirklichen abgetrennt; andrerseits versteht man es, wie er an dieser ewigen »Unrealität« und Falschheit seines innersten Daseins mitunter bis zur Verzweiflung müde werden kann, – und daß er dann wohl den Versuch macht, einmal in das gerade ihm Verbotenste, ins Wirkliche überzugreifen, wirklich zu sein. Mit welchem Erfolge? Man wird es erraten... Es ist das die typische Velleität des Künstlers: dieselbe Velleität, welcher auch der altgewordne Wagner verfiel und die er so teuer, so verhängnisvoll hat büßen müssen (– er verlor durch sie den wertvollen Teil seiner Freunde). Zuletzt aber, noch ganz abgesehn von dieser Velleität, wer möchte nicht überhaupt wünschen, um Wagners selber willen, daß er anders von uns und seiner Kunst Abschied genommen hätte, nicht mit einem Parsifal, sondern siegreicher, selbstgewisser, Wagnerischer – weniger irreführend, weniger zweideutig in bezug auf sein ganzes Wollen, weniger Schopenhauerisch, weniger nihilistisch?...
– Was bedeuten also asketische Ideale? Im Falle eines Künstlers, wir begreifen es nachgerade: gar nichts!... Oder so vielerlei, daß es so gut ist wie gar nichts!... Eliminieren wir zunächst die Künstler: dieselben stehen lange nicht unabhängig genug in der Welt und gegen die Welt, als daß ihre Wertschätzungen und deren Wandel an sich Teilnahme verdiente! Sie waren zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion; ganz abgesehn noch davon, daß sie leider oft genug die allzu geschmeidigen Höflinge ihrer Anhänger- und Gönnerschaft und spürnasige Schmeichler vor alten oder eben neu heraufkommenden Gewalten gewesen sind. Zum mindesten brauchen[843] sie immer eine Schutzwehr, einen Rückhalt, eine bereits begründete Autorität: die Künstler stehen nie für sich, das Alleinstehn geht wider ihre tiefsten Instinkte. So nahm zum Beispiel Richard Wagner den Philosophen Schopenhauer, als »die Zeit gekommen war«, zu seinem Vordermann, zu seiner Schutzwehr – wer möchte es auch nur für denkbar halten, daß er den Mut zu einem asketischen Ideal gehabt hätte, ohne den Rückhalt, den ihm die Philosophie Schopenhauers bot, ohne die in den siebziger Jahren in Europa zum Übergewicht gelangende Autorität Schopenhauers? (dabei noch nicht in Anschlag gebracht, ob im neuen Deutschland ein Künstler ohne die Milch frommer, reichsfrommer Denkungsart überhaupt möglich gewesen wäre). – Und damit sind wir bei der ernsthafteren Frage angelangt: was bedeutet es, wenn ein wirklicher Philosoph dem asketischen Ideale huldigt, ein wirklich auf sich gestellter Geist wie Schopenhauer, ein Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Mut zu sich selber hat, der allein zu stehn weiß und nicht erst auf Vordermänner und höhere Winke wartet? – Erwägen wir hier sofort die merkwürdige und für manche Art Mensch selbst faszinierende Stellung Schopenhauers zur Kunst: denn sie ist es ersichtlich gewesen, um derentwillen zunächst Richard Wagner zu Schopenhauer übertrat (überredet dazu durch einen Dichter, wie man weiß, durch Herwegh), und dies bis zu dem Maße, daß sich damit ein vollkommner theoretischer Widerspruch zwischen seinem früheren und seinem späteren ästhetischen Glauben aufriß – ersterer zum Beispiel in »Oper und Drama« ausgedrückt, letzterer in den Schriften, die er von 1870 an herausgab. Insonderheit änderte Wagner, was vielleicht am meisten befremdet, von da an rücksichtslos sein Urteil über Wert und Stellung der Musik selbst: was lag ihm daran, daß er bisher aus ihr ein Mittel, ein Medium, ein »Weib« gemacht hatte, das schlechterdings eines Zweckes, eines Manns bedürfe, um zu gedeihn – nämlich des Dramas! Er begriff mit einem Male, daß mit der Schopenhauerschen Theorie und Neuerung mehr zu machen sei in majorem musicae gloriam – nämlich mit der Souveränität der Musik, so wie sie Schopenhauer begriff: die Musik abseits gestellt gegen alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst an sich, nicht, wie diese, Abbilder der Phänomenalität bietend, vielmehr die Sprache des Willens selbst redend, unmittelbar aus dem »Abgrunde« heraus, als dessen eigenste,[844] ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung. Mit dieser außerordentlichen Wertsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauerschen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit einem Male auch der Musiker selbst unerhört im Preise: er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des »An-sich« der Dinge, ein Telephon des Jenseits – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes – er redete Metaphysik: was Wunder, daß er endlich eines Tages asketische Ideale redete?...
Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des ästhetischen Problems zunutze gemacht – obwohl er es ganz gewiß nicht mit Kantischen Augen angeschaut hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die Ehre der Erkenntnis ausmachen: Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit. Ob dies nicht in der Hauptsache ein Fehlgriff war, ist hier nicht am Orte zu verhandeln; was ich allein unterstreichen will, ist, daß Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visieren, allein vom »Zuschauer« aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den »Zuschauer« selber in den Begriff »schön« hineinbekommen hat. Wäre aber wenigstens nur dieser »Zuschauer« den Philosophen des Schönen ausreichend bekannt gewesen! – nämlich als eine große persönliche Tatsache und Erfahrung, als eine Fülle eigenster starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen! Aber das Gegenteil war, wie ich fürchte, immer der Fall: und so bekommen wir denn von ihnen gleich von Anfang an Definitionen, in denen, wie in jener berühmten Definition, die Kant vom Schönen gibt, der Mangel an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken Wurms von Grundirrtum sitzt. »Schön ist«, hat Kant gesagt, »was ohne Interesse gefällt.« Ohne Interesse! Man vergleiche mit dieser Definition jene andre, die ein wirklicher »Zuschauer« und Artist gemacht hat – Stendhal, der das Schöne einmal une promesse [845] de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade das abgelehnt und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt: le désintéressement. Wer hat recht, Kant oder Stendhal? – Wenn freilich unsre Ästhetiker nicht müde werden, zugunsten Kants in die Waagschale zu werfen, daß man unter dem Zauber der Schönheit sogar gewandlose weibliche Statuen »ohne Interesse« anschauen könne, so darf man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen – die Erfahrungen der Künstler sind in bezug auf diesen heiklen Punkt »interessanter«, und Pygmalion war jedenfalls nicht notwendig ein »unästhetischer Mensch«. Denken wir um so besser von der Unschuld unsrer Ästhetiker, welche sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen wir es zum Beispiel Kant zu Ehren an, was er über das Eigentümliche des Tastsinns mit landpfarrermäßiger Naivität zu lehren weiß! – Und hier kommen wir auf Schopenhauer zurück, der in ganz andrem Maße als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus dem Bann der Kantischen Definition herausgekommen ist: wie kam das? Der Umstand ist wunderlich genug: das Wort »ohne Interesse« interpretierte er sich in der allerpersönlichsten Weise, aus einer Erfahrung heraus, die bei ihm zu den regelmäßigsten gehört haben muß. Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der ästhetischen Kontemplation: er sagt ihr nach, daß sie gerade der geschlechtlichen »Interessiertheit« entgegenwirke, ähnlich also wie Lupulin und Kampfer; er ist nie müde geworden, dieses Loskommen vom »Willen« als den großen Vorzug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherrlichen. Ja man möchte versucht sein zu fragen, ob nicht seine Grundkonzeption von »Willen und Vorstellung«, der Gedanke, daß es eine Erlösung vom »Willen« einzig durch die »Vorstellung« geben könne, aus einer Verallgemeinerung jener Sexual-Erfahrung ihren Ursprung genommen habe. (Bei allen Fragen in betreff der Schopenhauerschen Philosophie ist, anbei bemerkt, niemals außer acht zu lassen, daß sie die Konzeption eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist; so daß sie nicht nur an dem Spezifischen Schopenhauers, sondern auch an dem Spezifischen jener Jahreszeit des Lebens Anteil hat.) Hören wir zum Beispiel eine der ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er zu Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (Welt als Wille und Vorstellung I 231), hören wir den Ton heraus, das Leiden,[846] das Glück, die Dankbarkeit, mit der solche Worte gesprochen worden sind. »Das ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries; wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdrangs entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still«... Welche Vehemenz der Worte! Welche Bilder der Qual und des langen Überdrusses! Welche fast pathologische Zeit-Gegenüberstellung »jenes Augenblicks« und des sonstigen »Rads des Ixion«, der »Zuchthausarbeit des Wollens«, des »schnöden Willensdrangs«! – Aber gesetzt, daß Schopenhauer hundertmal für seine Person recht hätte, was wäre damit für die Einsicht ins Wesen des Schönen getan? Schopenhauer hat eine Wirkung des Schönen beschrieben, die Willen-kalmierende – ist sie auch nur eine regelmäßige? Stendhal, wie gesagt, eine nicht weniger sinnliche, aber glücklicher geratene Natur als Schopenhauer, hebt eine andre Wirkung des Schönen hervor: »das Schöne verspricht Glück«, ihm scheint gerade die Erregung des Willens (»des Interesses«) durch das Schöne der Tatbestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauer selber einwenden, daß er sehr mit Unrecht sich hierin Kantianer dünke, daß er ganz und gar nicht die Kantsche Definition des Schönen Kantisch verstanden habe – daß auch ihm das Schöne aus einem »Interesse« gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersönlichsten Interesse: dem des Torturierten, der von seiner Tortur loskommt?... Und, um auf unsre erste Frage zurückzukommen, »was bedeutet es, wenn ein Philosoph dem asketischen Ideale huldigt?« – so bekommen wir hier wenigstens einen ersten Wink: er will von einer Tortur loskommen. –
Hüten wir uns, bei dem Wort »Tortur« gleich düstere Gesichter zu machen: es bleibt gerade in diesem Falle genug dagegenzurechnen, genug abzuziehn – es bleibt selbst etwas zu lachen. Unterschätzen wir es namentlich nicht, daß Schopenhauer, der die Geschlechtlichkeit in der Tat als persönlichen Feind behandelt hat (einbegriffen deren Werkzeug, das Weib, dieses »instrumentum diaboli«), Feinde nötig hatte, um guter Dinge zu bleiben; daß er die grimmigen galligen schwarzgrünen[847] Worte liebte; daß er zürnte, um zu zürnen, aus Passion; daß er krank geworden wäre, Pessimist geworden wäre (– denn er war es nicht, so sehr er es auch wünschte) ohne seine Feinde, ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen Willen zum Dasein, Dableiben. Schopenhauer wäre sonst nicht dageblieben, darauf darf man wetten, er wäre davongelaufen: seine Feinde aber hielten ihn fest, seine Feinde verführten ihn immer wieder zum Dasein, sein Zorn war, ganz wie bei den antiken Zynikern, sein Labsal, seine Erholung, sein Entgelt, sein Remedium gegen den Ekel, sein Glück. So viel in Hinsicht auf das Persönlichste am Fall Schopenhauers; andrerseits ist an ihm noch etwas Typisches – und hier erst kommen wir wieder auf unser Problem. Es besteht unbestreitbar, solange es Philosophen auf Erden gibt und überall, wo es Philosophen gegeben hat (von Indien bis England, um die entgegengesetzten Pole der Begabung für Philosophie zu nehmen), eine eigentliche Philosophen-Gereiztheit und -Ranküne gegen die Sinnlichkeit – Schopenhauer ist nur deren beredtester und, wenn man das Ohr dafür hat, auch hinreißendster und entzückendster Ausbruch –; es besteht insgleichen eine eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in bezug auf das ganze asketische Ideal, darüber und dagegen soll man sich nichts vormachen. Beides gehört, wie gesagt, zum Typus; fehlt beides an einem Philosophen, so ist er – dessen sei man sicher – immer nur ein »sogenannter«. Was bedeutet das? Denn man muß diesen Tatbestand erst interpretieren: an sich steht er da, dumm in alle Ewigkeit, wie jedes »Ding an sich«. Jedes Tier, somit auch la bête philosophe, strebt instinktiv nach einem Optimum von günstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann und sein Maximum im Machtgefühl erreicht; jedes Tier perhorresziert ebenso instinktiv und mit einer Feinheit der Witterung, die »höher ist als alle Vernunft«, alle Art Störenfriede und Hindernisse, die sich ihm über diesen Weg zum Optimum legen oder legen könnten (– es ist nicht sein Weg zum »Glück«, von dem ich rede, sondern sein Weg zur Macht, zur Tat, zum mächtigsten Tun, und in den meisten Fällen tatsächlich sein Weg zum Unglück). Dergestalt perhorresziert der Philosoph die Ehe samt dem, was zu ihr überreden möchte – die Ehe als Hindernis und Verhängnis auf seinem Wege zum Optimum. Welcher große Philosoph war bisher verheiratet?[848] Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer – sie waren es nicht; mehr noch, man kann sie sich nicht einmal denken als verheiratet. Ein verheirateter Philosoph gehört in die Komödie, das ist mein Satz: und jene Ausnahme Sokrates – der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheiratet, eigens um gerade diesen Satz zu demonstrieren. Jeder Philosoph würde sprechen, wie einst Buddha sprach, als ihm die Geburt eines Sohns gemeldet wurde: »Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir geschmiedet« (Râhula bedeutet hier »ein kleiner Dämon«); jedem »freien Geiste« müßte eine nachdenkliche Stunde kommen, gesetzt, daß er vorher eine gedankenlose gehabt hat, wie sie einst demselben Buddha kam – »eng bedrängt«, dachte er bei sich, »ist das Leben im Hause, eine Stätte der Unreinheit; Freiheit ist im Verlassen des Hauses«: »dieweil er also dachte, verließ er das Haus«. Es sind im asketischen Ideale so viele Brücken zur Unabhängigkeit angezeigt, daß ein Philosoph nicht ohne ein innerliches Frohlocken und Händeklatschen die Geschichte aller jener Entschlossnen zu hören vermag, welche eines Tages Nein sagten zu aller Unfreiheit und in irgendeine Wüste gingen: gesetzt selbst, daß es bloß starke Esel waren und ganz und gar das Gegenstück eines starken Geistes. Was bedeutet demnach das asketische Ideal bei einem Philosophen? Meine Antwort ist – man wird es längst erraten haben: der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu – er verneint nicht damit »das Dasein«, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, daß ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt: pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, fiam! ...
Man sieht, das sind keine unbestochnen Zeugen und Richter über den Wert des asketischen Ideals, diese Philosophen! Sie denken an sich – was geht sie »der Heilige« an! Sie denken an das dabei, was ihnen gerade das Unentbehrlichste ist: Freiheit von Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pflichten, Sorgen; Helligkeit im Kopf; Tanz, Sprung und Flug der Gedanken; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger[849] wird und Flügel bekommt; Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Ranküne; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes; bescheidne und untertänige Eingeweide, fleißig wie Mühlwerke, aber fern; das Herz fremd, jenseits, zukünftig, posthum, – sie denken, alles in allem, bei dem asketischen Ideal an den heitern Asketismus eines vergöttlichten und flügge gewordnen Tiers, das über dem Leben mehr schweift als ruht. Man weiß, was die drei großen Prunkworte des asketischen Ideals sind: Armut, Demut, Keuschheit: und nun sehe man sich einmal das Leben aller großen fruchtbaren erfinderischen Geister aus der Nähe an – man wird darin alle drei bis zu einem gewissen Grade immer wiederfinden. Durchaus nicht, wie sich von selbst versteht, als ob es etwa deren »Tugenden« wären – was hat diese Art Mensch mit Tugenden zu schaffen! –, sondern als die eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres besten Daseins, ihrer schönsten Fruchtbarkeit. Dabei ist es ganz wohl möglich, daß ihre dominierende Geistigkeit vorerst einem unbändigen und reizbaren Stolze oder einer mutwilligen Sinnlichkeit Zügel anzulegen hatte oder daß sie ihren Willen zur »Wüste« vielleicht gegen einen Hang zum Luxus und zum Ausgesuchtesten, insgleichen gegen eine verschwenderische Liberalität mit Herz und Hand schwer genug aufrechterhielt. Aber sie tat es, eben als der dominierende Instinkt, der seine Forderungen bei allen andren Instinkten durchsetzte – sie tut es noch; täte sie's nicht, so dominierte sie eben nicht. Daran ist also nichts von »Tugend«. Die Wüste übrigens, von welcher ich eben sprach, in die sich die starken, unabhängig gearteten Geister zurückziehn und vereinsamen – o wie anders sieht sie aus, als die Gebildeten sich eine Wüste träumen! – unter Umständen sind sie es nämlich selbst, diese Gebildeten. Und gewiß ist es, daß alle Schauspieler des Geistes es schlechterdings nicht in ihr aushielten – für sie ist sie lange nicht romantisch und syrisch genug, lange nicht Theater-Wüste genug! Es fehlt allerdings auch in ihr nicht an Kamelen: darauf aber beschränkt sich die ganze Ähnlichkeit. Eine willkürliche Obskurität vielleicht; ein Aus-dem-Wege-Gehn vor sich selber; eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung, Einfluß; ein kleines Amt, ein Alltag, etwas, das mehr verbirgt als ans Licht stellt; ein Umgang gelegentlich mit harmlosem heitrem Getier[850] und Geflügel, dessen Anblick erholt; ein Gebirge zur Gesellschaft, aber kein totes, eins mit Augen (das heißt mit Seen); unter Umständen selbst ein Zimmer in einem vollen Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt zu werden, und ungestraft mit jedermann reden kann – das ist hier »Wüste«: o sie ist einsam genug, glaubt es mir! Wenn Heraklit sich in die Freihöfe und Säulengänge des ungeheuren Artemistempels zurückzog, so war diese »Wüste« würdiger, ich gebe es zu: weshalb fehlen uns solche Tempel? (– sie fehlen uns vielleicht nicht: eben gedenke ich meines schönsten Studierzimmers, der piazza di San Marco, Frühling vorausgesetzt, insgleichen Vormittag, die Zeit zwischen zehn und zwölf). Das aber, dem Heraklit auswich, ist das gleiche noch, dem wir jetzt aus dem Wege gehn: der Lärm und das Demokraten-Geschwätz der Ephesier, ihre Politik, ihre Neuigkeiten vom »Reich« (Persien, man versteht mich), ihr Markt-Kram von »heute« – denn wir Philosophen brauchen zuallererst vor einem Ruhe: vor allem »Heute«. Wir verehren das Stille, das
Kalte, das Vornehme, das Ferne, das Vergangne, jegliches überhaupt, bei dessen Aspekt die Seele sich nicht zu verteidigen und zuzuschnüren hat – etwas, mit dem man reden kann, ohne laut zu reden. Man höre doch nur auf den Klang, den ein Geist hat, wenn er redet: jeder Geist hat seinen Klang, liebt seinen Klang. Das dort zum Beispiel muß wohl ein Agitator sein, will sagen ein Hohlkopf, Hohltopf: was auch nur in ihn hineingeht, jeglich Ding kommt dumpf und dick aus ihm zurück, beschwert mit dem Echo der großen Leere. Jener dort spricht selten anders als heiser: hat er sich vielleicht heiser gedacht? Das wäre möglich – man frage die Physiologen –, aber wer in Worten denkt, denkt als Redner und nicht als Denker (es verrät, daß er im Grunde nicht Sachen, nicht sachlich denkt, sondern nur in Hinsicht auf Sachen, daß er eigentlich sich und seine Zuhörer denkt). Dieser Dritte da redet aufdringlich, er tritt zu nahe uns an den Leib, sein Atem haucht uns an – unwillkürlich schließen wir den Mund, obwohl es ein Buch ist, durch das er zu uns spricht: der Klang seines Stils sagt den Grund davon – daß er keine Zeit hat, daß er schlecht an sich selber glaubt, daß er heute oder niemals mehr zu Worte kommt. Ein Geist aber, der seiner selbst gewiß ist, redet leise; er sucht die Verborgenheit, er läßt auf sich warten. Man erkennt einen Philosophen daran, daß er drei glänzenden und[851] lauten Dingen aus dem Wege geht, dem Ruhme, den Fürsten und den Frauen: womit nicht gesagt ist, daß sie nicht zu ihm kämen. Er scheut allzu helles Licht: deshalb scheut er seine Zeit und deren »Tag«. Darin ist er wie ein Schatten: je mehr ihm die Sonne sinkt, um so größer wird er. Was seine »Demut« angeht, so verträgt er, wie er das Dunkel verträgt, auch eine gewisse Abhängigkeit und Verdunkelung: mehr noch, er fürchtet sich vor der Störung durch Blitze, er schreckt vor der Ungeschütztheit eines allzu isolierten und preisgegebnen Baums zurück, an dem jedes schlechte Wetter seine Laune, jede Laune ihr schlechtes Wetter ausläßt. Sein »mütterlicher« Instinkt, die geheime Liebe zu dem, was in ihm wächst, weist ihn auf Lagen hin, wo man es ihm abnimmt, an sich zu denken; in gleichem Sinne, wie der Instinkt der Mutter im Weibe die abhängige Lage des Weibes überhaupt bisher festgehalten hat. Sie verlangen zuletzt wenig genug, diese Philosophen, ihr Wahlspruch ist »wer besitzt, wird besessen« –: nicht, wie ich wieder und wieder sagen muß, aus einer Tugend, aus einem verdienstlichen Willen zur Genügsamkeit und Einfalt, sondern weil es ihr oberster Herr so von ihnen verlangt, klug und unerbittlich verlangt: als welcher nur für eins Sinn hat und alles, Zeit, Kraft, Liebe, Interesse nur dafür sammelt, nur dafür aufspart. Diese Art Mensch liebt es nicht, durch Feindschaften gestört zu werden, auch durch Freundschaften nicht; sie vergißt oder verachtet leicht. Es dünkt ihr ein schlechter Geschmack, den Märtyrer zu machen; »für die Wahrheit zu leiden« – das überläßt sie den Ehrgeizigen und Bühnenhelden des Geistes und wer sonst Zeit genug dazu hat (– sie selbst, die Philosophen, haben etwas für die Wahrheit zu tun). Sie machen einen sparsamen Verbrauch von großen Worten; man sagt, daß ihnen selbst das Wort »Wahrheit« widerstehe: es klinge großtuerisch... Was endlich die »Keuschheit« der Philosophen anbelangt, so hat diese Art Geist ihre Fruchtbarkeit ersichtlich woanders als in Kindern; vielleicht woanders auch das Fortleben ihres Namens, ihre kleine Unsterblichkeit (noch unbescheidner drückte man sich im alten Indien unter Philosophen aus: »wozu Nachkommenschaft dem, dessen Seele die Welt ist?«). Darin ist nichts von Keuschheit aus irgendeinem asketischen Skrupel und Sinnenhaß, so wenig es Keuschheit ist, wenn ein Athlet oder Jockei sich der Weiber enthält: so will es vielmehr, zum mindesten[852] für die Zeiten der großen Schwangerschaft, ihr dominierender Instinkt. Jeder Artist weiß, wie schädlich in Zuständen großer geistiger Spannung und Vorbereitung der Beischlaf wirkt; für die mächtigsten und instinktsichersten unter ihnen gehört dazu nicht erst die Erfahrung, die schlimme Erfahrung – sondern eben ihr »mütterlicher« Instinkt ist es, der hier zum Vorteil des werdenden Werkes rücksichtslos über alle sonstigen Vorräte und Zuschüsse von Kraft, von vigor des animalen Lebens verfügt: die größere Kraft verbraucht dann die kleinere. – Man lege sich übrigens den oben besprochnen Fall Schopenhauers nach dieser Interpretation zurecht: der Anblick des Schönen wirkte offenbar bei ihm als auslösender Reiz auf die Hauptkraft seiner Natur (die Kraft der Besinnung und des vertieften Blicks); so daß diese dann explodierte und mit einem Male Herr des Bewußtseins wurde. Damit soll durchaus die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, daß jene eigentümliche Süßigkeit und Fülle, die dem ästhetischen Zustande eigen ist, gerade von der Ingredienz »Sinnlichkeit« ihre Herkunft nehmen könnte (wie aus derselben Quelle jener »Idealismus« stammt, der mannbaren Mädchen eignet) – daß somit die Sinnlichkeit beim Eintritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben ist, wie Schopenhauer glaubte, sondern sich nur transfiguriert und nicht als Geschlechtsreiz mehr ins Bewußtsein tritt. (Auf diesen Gesichtspunkt werde ich ein andres Mal zurückkommen, im Zusammenhang mit noch delikateren Problemen der bisher so unberührten, so unaufgeschlossnen Physiologie der Ästhetik.)
Ein gewisser Asketismus, wir sahen es, eine harte und heitre Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen: so wird es von vornherein nicht wundernehmen, wenn das asketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit behandelt worden ist. Bei einer ernsthaften historischen Nachrechnung erweist sich sogar das Band zwischen asketischem Ideal und Philosophie als noch viel enger und strenger. Man könnte sagen, daß erst am Gängelbande dieses Ideals die Philosophie überhaupt gelernt[853] habe, ihre ersten Schritte und Schrittchen auf Erden zu machen – ach, noch so ungeschickt, ach, mit noch so verdrossnen Mienen, ach, so bereit, umzufallen und auf dem Bauch zu liegen, dieser kleine schüchterne Tapps und Zärtling mit krummen Beinen! Es ist der Philosophie anfangs ergangen wie allen guten Dingen – sie hatten lange keinen Mut zu sich selber, sie sahen sich immer um, ob ihnen niemand zu Hilfe kommen wolle, mehr noch, sie fürchteten sich vor allen, die ihnen zusahn. Man rechne sich die einzelnen Triebe und Tugenden des Philosophen der Reihe nach vor – seinen anzweifelnden Trieb, seinen verneinenden Trieb, seinen abwartenden (»ephektischen«) Trieb, seinen analytischen Trieb, seinen forschenden, suchenden, wagenden Trieb, seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb, seinen Willen zu Neutralität und Objektivität, seinen Willen zu jedem »sine ira et studio«–: hat man wohl schon begriffen, daß sie allesamt die längste Zeit den ersten Forderungen der Moral und des Gewissens entgegengingen? (gar nicht zu reden von der Vernunft überhaupt, welche noch Luther »Fraw Klüglin die kluge Hur« zu nennen liebte). Daß ein Philosoph, falls er sich zum Bewußtsein gekommen wäre, sich geradezu als das leibhafte »nitimur in vetitum« hätte fühlen müssen – und sich folglich hütete, »sich zu fühlen«, sich zum Bewußtsein zu kommen?... Es steht, wie gesagt, nicht anders mit allen guten Dingen, auf die wir heute stolz sind; selbst noch mit dem Maße der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewußtsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus: denn gerade die umgekehrten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hilfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfindsamkeit; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgendeiner angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem großen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit- wir dürften, wie Karl der Kühne im Kampfe mit Ludwig dem Elften, sagen »je combats l'universelle araignée« –; Hybris ist unsre Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es uns mit keinem Tiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf: was liegt uns noch am »Heil« der Seele![854] Hinterdrein heilen wir uns selber: Kranksein ist lehrreich, wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein – die Krankmacher scheinen uns heute nötiger selbst als irgendwelche Medizinmänner und »Heilande«. Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir Nußknacker der Seele, wir Fragenden und Fragwürdigen, wie als ob Leben nichts andres sei, als Nüsseknacken; ebendamit müssen wir notwendig täglich immer noch fragwürdiger, würdiger zu fragen werden, ebendamit vielleicht auch würdiger – zu leben?... Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden. Die Ehe zum Beispiel schien lange eine Versündigung am Rechte der Gemeinde; man hat einst Buße dafür gezahlt, so unbescheiden zu sein und sich ein Weib für sich anzumaßen (dahin gehört zum Beispiel das jus primae noctis, heute noch in Kambodscha das Vorrecht der Priester, dieser Bewahrer »alter guter Sitten«). Die sanften, wohlwollenden, nachgiebigen, mitleidigen Gefühle – nachgerade so hoch im Werte, daß sie fast »die Werte an sich« sind – hatten die längste Zeit gerade die Selbstverachtung gegen sich: man schämte sich der Milde, wie man sich heute der Härte schämt (vgl. »Jenseits von Gut und Böse«: II 730 f.). Die Unterwerfung unter das Recht: – o mit was für Gewissens-Widerstande haben die vornehmen Geschlechter überall auf Erden ihrerseits Verzicht auf vendetta geleistet und dem Recht über sich Gewalt eingeräumt! Das »Recht« war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es trat mit Gewalt auf, als Gewalt, der man sich nur mit Scham vor sich selber fügte. Jeder kleinste Schritt auf der Erde ist ehedem mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: dieser ganze Gesichtspunkt, »daß nicht nur das Vorwärtsschreiten, nein! das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung ihre unzähligen Märtyrer nötig gehabt hat«, klingt gerade heute uns so fremd – ich habe ihn in der »Morgenröte« (I 1026 f.) ans Licht gestellt. »Nichts ist teurer erkauft«, heißt es daselbst (ebd. 1027), »als das wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der ›Sittlichkeit der Sitte‹ zu empfinden, welche der ›Weltgeschichte‹ vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die[855] Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wißbegierde als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere an sich überall in Geltung war!« –
In demselben Buche (I 1042 f.) ist auseinandergesetzt, in welcher Schätzung, unter welchem Druck von Schätzung das älteste Geschlecht kontemplativer Menschen zu leben hatte – genau so weit verachtet, als es nicht gefürchtet wurde! Die Kontemplation ist in vermummter Gestalt, in einem zweideutigen Ansehn, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe zuerst auf der Erde erschienen: daran ist kein Zweifel. Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische in den Instinkten kontemplativer Menschen legte lange ein tiefes Mißtrauen um sie herum: dagegen gab es kein andres Mittel als entschieden Furcht vor sich erwecken. Und darauf haben sich zum Beispiel die alten Brahmanen verstanden! Die ältesten Philosophen wußten ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen Halt und Hintergrund zu geben, auf den hin man sie fürchten lernte: genauer erwogen, aus einem noch fundamentaleren Bedürfnisse heraus, nämlich um vor sich selbst Furcht und Ehrfurcht zu gewinnen. Denn sie fanden in sich alle Werturteile gegen sich gekehrt, sie hatten gegen »den Philosophen in sich« jede Art Verdacht und Widerstand niederzukämpfen. Dies taten sie, als Menschen furchtbarer Zeitalter, mit furchtbaren Mitteln: die Grausamkeit gegen sich, die erfinderische Selbstkasteiung – das war das Hauptmittel dieser machtdurstigen Einsiedler und Gedanken-Neuerer, welche es nötig hatten, in sich selbst erst die Götter und das Herkömmliche zu vergewaltigen, um selbst an ihre Neuerung glauben zu können. Ich erinnere an die berühmte Geschichte des Königs Viçvamitra, der aus tausendjährigen Selbstmarterungen ein solches Machtgefühl und Zutrauen zu sich gewann, daß er es unternahm, einen neuen Himmel zu bauen: das unheimliche Symbol der ältesten und jüngsten Philosophen-Geschichte auf Erden – jeder, der irgendwann einmal einen »neuen[856] Himmel« gebaut hat, fand die Macht dazu erst in der eignen Hölle... Drücken wir den ganzen Tatbestand in kurze Formeln zusammen: der philosophische Geist hat sich zunächst immer in die früher festgestellten Typen des kontemplativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiöser Mensch, um in irgendeinem Maße auch nur möglich zu sein: das asketische Ideal hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-Voraussetzung gedient – er mußte es darstellen, um Philosoph sein zu können, er mußte an dasselbe glauben, um es darstellen zu können. Die eigentümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnenungläubige, entsittlichte Abseits-Haltung der Philosophen, welche bis auf die neueste Zeit festgehalten worden ist und damit beinahe als Philosophen-Attitüde an sich Geltung gewonnen hat – sie ist vor allem eine Folge des Notstandes von Bedingungen, unter denen Philosophie überhaupt entstand und bestand: insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden gar nicht möglich gewesen wäre ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein asketisches Selbst-Mißverständnis. Anschaulich und augenscheinlich ausgedrückt: der asketische Priester hat bis auf die neueste Zeit die widrige und düstere Raupenform abgegeben, unter der allein die Philosophie leben durfte und herumschlich... Hat sich das wirklich verändert? Ist das bunte und gefährliche Flügeltier, jener »Geist«, den diese Raupe in sich barg, wirklich, dank einer sonnigeren, wärmeren, aufgehellteren Welt, zuletzt doch noch entkuttet und ins Licht hinausgelassen worden? Ist heute schon genug Stolz, Wagnis, Tapferkeit, Selbstgewißheit, Wille des Geistes, Wille zur Verantwortlichkeit, Freiheit des Willens vorhanden, daß wirklich nunmehr auf Erden »der Philosoph« – möglich ist?...[857]