Kapitel 5

Wir feierten schon wieder einen gut besuchten Gottesdienst. Der neue Pastoralreferent war diesmal die Sensation, und es saßen sogar Leute in den Kirchenbänken, die man sonst um die Uhrzeit nur beim Schmalzlwirt oder auf dem Fußballfeld antraf. Großmutter schaute die ganze Zeit unglaublich zufrieden drein. Ich hingegen war ein bisschen enttäuscht. Der Rosenmüller sah so was von normal aus, das war schon nicht mehr schön.

Großmutters Miene verfinsterte sich erst, als wir nach dem Gottesdienst nach draußen wollten und nichts voranging.

»Was ham s’ denn heut?«, schimpfte sie vor sich hin. »Des dauert doch sonst ned so lang mit dem Weihwasser. Ein paar Spritzer reichen doch.«

»Na ja. Aber wenn du schon ewig nicht mehr in der Kirche warst, ist es vermutlich besser, du brauchst ein bisserl länger«, schlug ich vor und versuchte zu erkennen, weshalb es sich so staute.

Die Rosl drehte sich um und sagte: »Er schüttelt jedem die Hand.«

»Wer? Der Rosenmüller?« Großmutter schnalzte mit der Zunge. »Des ist ja wie bei den Lutherischen.«

»Ehrlich?« Fasziniert starrte ich nach vorne. »Da schüttelt der Pfarrer jedem die Hand?«

»Der Pastor«, erklärte Großmutter. »Bei dene Lutherischen da geht doch sowieso keiner in die Kirch. Den drei Hansln kann er leicht die Hand schütteln. Aber bei uns, da verhungerst ja, bis d’ aus der Kirch draußen bist.«

Es ging plötzlich keinen Millimeter weiter, und ich ärgerte mich ein bisschen, dass ich nicht besser aufgepasst hatte. Ich stand eingekeilt zwischen der Rosl, der Langsdorferin und ausgerechnet der Kreszenz. Bei der Kreszenz muss man wissen, dass sie so irrsinnig freundlich ist, dass einem richtig schlecht werden kann. Und wenn man nicht aufpasst, dann schenkt sie einem selbst eingemachte Mirabellen, die aussehen, als wären sie von der Jahrhundertwende, oder irgendetwas, was Satanisten für ihre Teufelskulte verwenden könnten.

Ich nutzte die Zeit, um eine kleine Befragung durchzuführen.

»Der arme Ernsdorfer«, warf ich beiläufig in den Raum. »Ob sie den noch mal finden?«

»Lebendig nimmer«, sagte die Langsdorferin hinter mir und rammte mir das Gehwagerl in die Kniekehlen. »Ohne seine Medikamente ist der doch innerhalb von vierundzwanzig Stunden tot.«

»Ah, geh«, erwiderte die Großmutter tadelnd, »der hält scho länger durch.«

Vielleicht fanden sie ihn ja in ein paar Jahren als wilden Einsiedler wieder. »Ich habe ihn schon ewig nimmer gesehen«, sagte ich, in der Hoffnung, dass mir alle bereitwillig sagen würden, wann sie ihn zum letzten Mal gesehen hatten. Wenn dann zum Beispiel die Rosl gesagt hätte, ja klar, letzten Dienstag, da hab ich ihn hinter dem Haus vom Langsdorfer rumheizen sehen, dann hätte man dort noch einmal genauer suchen können.

»Ja, der hat schon lang nimmer g’scheit gehen können«, erklärte mir die Kreszenz so nah an meinem Ohr, dass ich beinahe quietschte. Blöde Kreszenz. Aber immerhin hatte sie im Sonntagsgottesdienst nichts selbst Eingemachtes dabei. »Und die Ernsdorferin hat ihn einfach nimmer halten können. Der war ja groß und schwer. Da hätt ja jedes Mal der junge Ernsdorfer mitkommen müssen.«

»Beim letzten Pfarrfest, ist er da ned hing’falln?«, fragte die Rosl.

»War des ned des vorletzte Pfarrfest?«, fragte die Kreszenz. »Der war doch schon vor drei Jahren so schlecht beieinander.«

Die Rosl zuckte nur mit den Schultern.

»Mei. Aber direkt aufs G’sicht is er g’fallen. Dann war die Brille natürlich hin.«

»Jetzt ist er ja ohne Brille davon«, sagte die Kreszenz zufrieden.

Die blöde Kreszenz. Von vorne nett wie sonst was, aber hinten herumstänkern, dass sich alle schlecht fühlen.

»Wie, die haben ihm jahrelang keine neue Brille besorgt?«, fragte ich fassungslos. »Und jetzt irrt er blind durch die Gegend?« Kein Wunder, dass er nicht heimfand.

»Ach, Schmarrn. Die werden ihm doch eine neue Brille gekauft haben«, sagte die Rosl. »Des kann ma doch ned machen.«

Tja. Vielleicht ja schon. So unkooperativ, wie die beiden Ernsdorfers bei meinem Interview gewesen waren, wollte ich lieber nicht darüber nachdenken, ob sie ihm eine Brille gekauft hatten oder nicht. Wahrscheinlich hatten sie damals nur nicht gewollt, dass ich sehe, dass sie den armen alten Mann ohne Brille herumtapern ließen.

»Und ihr habt ihn schon ein Jahr lang nicht mehr gesehen?« Vielleicht, weil sie ihm keine Brille gekauft hatten.

»Ach Schmarrn. Beim Metzger. War er nicht neulich mit beim Metzger? Im Auto hat er g’wartet, weil er des mit den Stufen nimmer kann.«

Aber ob er eine Brille trug, hatte wieder keiner sehen können. Am Tag seines Verschwindens hatte ihn jedenfalls keiner mehr gesehen, was auch kein Wunder war, schließlich hatte er sich bei Nacht und Nebel verdrückt.

Ich hatte keine Lust mehr, mir über Ernsdorfers den Kopf zu zerbrechen.

»Wir könnten auch auf der anderen Seite rausgehen«, schlug ich vor, da mir wirklich schon der Magen knurrte.

»Ah, geh, Mädl«, war die Antwort. Na ja, ich wollte ihn auch von ganz nah sehen.

Endlich war auch ich an der Reihe, und leider hatte der Rosenmüller noch immer seine Kutte an. Da konnte man nicht einmal erahnen, ob er ein rosa Glitzertop daruntertrug. Besonders nach Resis Aussage über seine Unterwäsche hatte ich mir schon ein bisschen mehr erwartet.

»Und das ist unsere Lisa«, sagte vor mir die Rosl, als sie beim Rosenmüller angekommen war. »Sie wissen schon, die, die die Knochen gefunden hat.«

Ich wurde schlagartig knallrot. Die dumme Kuh. Was musste sie das jetzt gleich weitertratschen.

»Fräulein Wild.« Der Rosenmüller strahlte mich begeistert an. »Schön, Sie einmal persönlich kennenzulernen.«

»Letztes Jahr hat’s auch ein paar Leichen g’funden«, trompetete die Kreszenz neben mir. Plötzlich schien der Bann gebrochen. Während sich vor mir alle schweigend an dem neuen Pastoralreferenten vorbeigeschoben und ihm widerwillig die Hand geschüttelt hatten, schien jetzt jeder begeistert davon zu sein, ihm von mir zu erzählen.

»Weil’s halt kein Vatter ned hat«, erläuterte die Kreszenz gerade das ganze Dilemma.

Wie bitte? Was hätte denn mein Vater dagegen unternehmen sollen? Ich merkte, wie mein Adrenalinspiegel stieg.

»Redets doch kein solchen Schmarrn«, erklärte Großmutter resolut. »Wenn’s ned so viel elektrischen Krampf kaufen würde, wär’s so wie alle anderen Mädln auch.«

Elektrischen Krampf? Ich kaufte elektrischen Krampf? Meine Großmutter war wirklich total verrückt. Die einzigen Geräte, die ich besaß, waren mein Laptop und die Espressomaschine. Letztere benutzte fast ausschließlich meine Großmutter. Bevor ich dem Rosenmüller die Hand reichen konnte, schnappte Großmutter sie mir weg. »Sie sollten nicht jeden g’spinnerten Krampf glauben, den irgendwer erzählt«, riet sie ihm und schüttelte ihm dabei heftig die Hand. »Manchen Leut ist nämlich geradezu ins Hirn reing’schissen.«

Wenn ich nicht schon knallrot gewesen wäre, wäre ich es jetzt geworden. Die Kreszenz und die Rosl zischelten furchtbar böse, und dem Rosenmüller stand schon der Schweiß auf der Stirn. Sogar auf der Nase sah man einzelne Schweißperlen. Vielleicht befürchtete er, dass die Situation eskalierte. Oder ihm war es unangenehm, mir die Hand zu geben, jetzt, wo er wusste, dass ich so gerne Leichen fand. Ich nahm trotzdem seine Hand und schüttelte sie kräftig. Dabei sagte ich brav, wie mir meine Großmutter beigebracht hatte: »Grüß Gott, Lisa Wild.«

»Ernst Rosenmüller«, entgegnete er etwas kraftlos. Er schien von einer leichten Grundpanik erfasst zu sein, wie Max, wenn ich ihn gerade mit meinen Verhütungsfegefeuergedanken in den Wahnsinn trieb. Da hatte der manchmal auch einige Schweißperlen auf der Stirn.

Hinter mir schubste schon die Kreszenz, weswegen ich, noch immer hochrot, meiner Großmutter hinterherging.

»Hast des g’hört«, sagte sie zu mir, »was die Kreszenz für einen Krampf g’sagt hat?«

Ich sagte dazu gar nichts. Schließlich hatte ich direkt vor ihr gestanden. Da war doch anzunehmen, dass ich alles, was sie von sich gegeben hat, mitbekommen hatte.

»Manchmal, da zweifelst schon am Verstand von dene Weiber.«

Ja. Und manchmal hatte ich den unstillbaren Wunsch, dass meine Großmutter einen kleinen Tick leiser sprach. Ich fühlte mich nämlich gerade, als wäre ich in den Wechseljahren und würde Hitzewallungen bekommen.

Der Rosenmüller sah allerdings auch so aus, als wäre er in den Wechseljahren. Vielleicht hatte er inzwischen eingesehen, dass es keine gute Idee gewesen war, sich derart unserer Gemeinde auszusetzen. Es war wirklich nicht nett vom Daschner gewesen, den Rosenmüller nicht zu warnen. Dass die Händeschüttelei in unserer Gemeinde nicht unbedingt empfehlenswert war.

Als wir zurück in unseren Garten kamen, saß Max schon auf dem Gartenbankerl und sah uns zufrieden entgegen. Tststs, hätte Großmutter wahrscheinlich gesagt, wenn sie nicht schon auf dem Weg in die Küche gewesen wäre, um die Knödel ins Wasser zu werfen. Am heiligen Sonntag nicht in die Kirche. Das konnte ja nichts werden. Vor allen Dingen mit den Ermittlungen. Was er da jetzt alles hätte herausbringen können! Die ganzen Gläubigen auf einem Haufen, das war informationsmäßig kaum zu toppen. Ich setzte mich neben Max und hörte mit halbem Ohr zu, was er für Vorschläge in Sachen Abendgestaltung hatte.

»An was denkst du?«, wollte Max wissen, vielleicht weil ich auf den Vorschlag, heute Abend Chili con Carne zu essen, keine Reaktion gezeigt hatte.

Ich schämte mich zuzugeben, dass ich an gar nichts gedacht, sondern nur unseren blühenden Birnbaum angestarrt hatte. »Daran, dass ich mit fünfundzwanzig Jahren zu jung bin, um Erdbeerpflanzen einzusetzen«, sagte ich schließlich und kuschelte mich in seine Arme.

»Das wird schon noch«, sagte er ganz entspannt.

»Hm. Spätestens mit vierzig. Oder mit fünfzig«, schlug ich vor. Wahrscheinlicher war, dass mich Großmutter auch noch in zwanzig Jahren behandelte wie ihre kleine, unwissende Enkelin.

Max sagte nichts mehr, und ich hörte mir das Töpfeklappern meiner Großmutter an. In der Küche durfte ich ihr nämlich auch nicht immer helfen.

»Morgen gehen meine Mutter und Tante Vega brunchen. Treffpunkt elf Uhr im Hotel Maximilian.«

Na prima. Da musste ich bestimmt vorher Klamotten kaufen gehen, und dafür hatte ich echt kein Geld.

»Gute Idee«, sagte ich stattdessen. »Ich muss nur leider …« Langsam gingen mir die Ausreden aus. »Den Artikel. Über die Ernsdorfer-Suche. Das ist ganz dringend. Ich bekomme richtig Ärger mit meinem Chef.«

Max grinste breit.

»Wenn du mir ein paar Ermittlungsergebnisse rüberwachsen lassen würdest«, köderte ich ihn, »dann komme ich vielleicht heute Abend so weit mit dem Artikel, dass ich morgen in der Früh brunchen gehen könnte.«

Max grinste noch immer und begann, mir das Ohr zu kraulen.

»Heute Abend hast du keine Zeit für deinen Artikel«, prophezeite er mir selbstsicher.

Ich ignorierte seine Weissagung. »Die Knochen. Wenigstens, ob Männlein oder Weiblein.« Und wenn du jetzt sagst, du weißt es nicht, dann ist aber Schluss mit lustig, beschloss ich. Max musste mir meinen eisernen Willen angemerkt haben.

»Männlein«, gab er zu.

»Essen«, rief Großmutter.

Am Mittwoch stand endlich mein Artikel über die Suche nach dem Ernsdorfer in der Zeitung. Großmutter war ganz stolz auf mich und las mir den Artikel vor, als hätte nicht ich ihn geschrieben, sondern irgendein unbekannter Starjournalist.

»Seit Freitag, 21.30 Uhr, wird der fünfundachtzigjährige Klaus Ernsdorfer vermisst. Herr Ernsdorfer, der demenz- und parkinsonkrank ist, lebte bis jetzt im Kreise seiner Familie. Er ist bekleidet mit einem blau-grau gestreiften Pyjama und einer grauen Strickweste. Vermutlich trägt er ein schwarzes Basecap mit der roten Aufschrift ›Feuerwehr‹. Er hat grau melierte, kurze Haare.«

»Und was soll ein Basecap sein?«, wollte Großmutter wissen.

»Ein Kappl halt«, erklärte ich ungehalten. Großmutter konnte es gar nicht leiden, wenn ich solche Wörter in meinen Artikeln brachte.

»Bereits unmittelbar nach dem Eingang der Meldung wurde von Polizei und Feuerwehr eine große Suchmaßnahme vor Ort eingeleitet. Bei der Suche wurde auch ein Polizeihubschrauber mit Wärmebildkamera eingesetzt, der aus München angefordert worden war. Die Suchmaßnahmen werden am heutigen Vormittag fortgesetzt. Das Polizeipräsidium bedankt sich herzlich bei allen ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern, die die Suche bislang tatkräftig unterstützt haben und auch im Verlauf des heutigen Tages eingesetzt werden. Da die BRK-Rettungshundestaffel nicht zur Verfügung stand, hatten sich einige Privatleute mit ihren Tieren an der Suche beteiligt. Trotzdem wurde Herr Ernsdorfer bis zum heutigen Tag nicht gefunden.«

Besonders auf den Satz mit den Privatleuten und ihren Tieren war ich sehr stolz. Und dass ich mich beherrscht und diesen tierischen Einsatz nicht genauer beschrieben hatte.

»Und des hast du g’schrieben«, sagte Großmutter zufrieden. »Schad, dass d’ ihn nicht g’funden hast.«

Ja. Echt schade.

Aber wenn ich jetzt noch einen Artikel über das Leben und Wirken des Ernsdorfers hinkriegen würde, das wäre erst toll. Vielleicht schaffte ich das auch, ohne die Ernsdorfers zu befragen. Meistens wussten die Leute ja auch viel mehr über andere Leute als über sich selbst. Und bei dem Artikel kam es auf ein paar Tage hin oder her nicht »drauf zam«, wie der Kare ziemlich ätzend gesagt hatte, da »macht’s des Kraut auch ned fett«, wenn die Lisa wieder so langsam ist.

Vielleicht waren es nicht gerade die Topaufträge, bei denen man über Leute, die sich in Luft aufgelöst hatten, schreiben durfte. Und es war bestimmt auch nicht spannend, über die Vergangenheit des alten Ernsdorfers zu recherchieren, aber immerhin. Es hatte nichts mit Kaninchenzucht zu tun, und ich musste dazu auch nicht unbedingt zum Schmalzlwirt gehen. Ich hatte schon beschlossen, mich mit dem Kare gutzustellen, um diese unleidigen Aufträge auf ihn abzuwälzen.

Der Kare hatte nämlich den Vorteil, dass er ein Mann war, weswegen er vom Schmalzl ein Bier hingestellt bekam und freiwillig mit Informationen versorgt wurde. Ich stand dann immer nur verlegen in der verräucherten Wirtsstube und bereute meine Berufswahl.

Ein Problem war natürlich, dass ich ein Problem mit der alten Ernsdorferin hatte. Und eigentlich auch mit ihrem Sohn. Aber es gab ja noch die Schwiegertochter und den ganz jungen Ernsdorfer, der ungefähr in meinem Alter sein musste.

Über den Ernsdorfer zu recherchieren brachte auch Heimvorteile. Ich konnte mit einem Interview mit meiner eigenen Großmutter anfangen und dann noch die Kathl fragen, die Reisingerin und im Notfall auch noch die Rosl. Auch wenn dann mein Bedarf an Ave-Marias für die nächsten Wochen reichlich abgedeckt sein dürfte.

»Dass die den Ernsdorfer nicht finden«, sprach ich in die Küche hinein, wo Großmutter vor sich hin werkelte. Vorsichtshalber schaltete ich den Herd niedriger, auf dem ein Rindssupperl schon seit Stunden brodelte. Als Großmutter nicht antwortete, fügte ich noch hinzu: »Das kann doch nicht sein. Dass einer einfach verschwindet.«

»Die Nächste, die verschwindet, bin ich«, sagte Großmutter, als ich mich an den Küchentisch setzte, um meine Tasse Kaffee auszutrinken. Wie um die Drohung wahr zu machen, verschwand sie in der Speisekammer. »Wer weiß«, hörte man ihre Stimme dumpf. »Wer des macht.«

Immerhin war der Loisl noch ganz ruhig. Obwohl er gerne an sein eigenes Verschwinden glaubte und zumindest im Winter total paranoid an Massenmörder geglaubt hatte. Ich zog meinen Notizblock aus der großen Umhängetasche. Der Serienmörder. Ein Knochenkistl-Serienmörder. Aber das wollte ich unbedingt noch zurückhalten, bis ich zumindest den Hauch eines Beweises für meine Vermutung hatte.

»Vielleicht war’s der Moosbauer«, sagte Großmutter undeutlich und kam mit einer Packung Nudeln zurück in die Küche.

Mein Stift, der schon über dem Papier geschwebt hatte, sank entkräftet auf die Tischplatte. Endlich hatte ich ein akzeptables Thema für einen Artikel zugeteilt bekommen, und dann erzählte mir Großmutter so einen Krampf. Ich malte einen wirren Kreisel auf das Stück Papier vor mir. Vermutlich war meine Serienmörderidee der gleiche Quatsch wie der Moosbauer.

»Und wer bittschön ist der Moosbauer?«

»Na ja, du weißt schon. Der da in der Kurve wohnt, dort beim Stangl. Dem sein Enkel hat mich immer mitg’nommen, wenn ich in die Stadt g’musst hab.«

»Welche Kurve?« Und welcher Stangl?

»Na ja, wennst rausfährst und dann kurz bevor du abbiegen musst.«

Prima Beschreibung.

»Da, wo halt der Rosl ihr Opa g’wohnt hat. Weißt doch. Da in der Kurve.«

»Nein«, gab ich zu.

»Ah geh. Du kennst doch der Rosl ihren Opa.«

Nein. Dafür war ich hundert Jahre zu jung.

»Was ist jetzt mit dem Moosbauer?«

»Na ja, der hat allaweil so g’schaut. Als wär er nicht ganz normal.«

»Und mit dem bist du mitg’fahren?«, wollte ich streng wissen.

»Nein. Nicht mit dem Moosbauer, sondern mit dem Buben vom Moosbauer.«

»Aber der Moosbauer ist doch dann bestimmt schon zweihundert Jahre alt«, wandte ich verzweifelt ein.

»Ah geh. Der ist doch ned zweihundert. Der ist halt dreißig Jahr älter als ich.«

Eben.

»Und der hat so g’schaut«, wiederholte sie sich. »Da müsstest nur nachschauen, bei dem Moosbauer.«

Ich sagte gar nichts mehr.

»Wenn du’s nicht machst, dann mach’s halt ich«, erbot sie sich.

»Nicht nötig«, widersprach ich. »Ich schau dann schon nach. Was willst du denn mit den Nudeln?«, fragte ich misstrauisch. »Ich dachte, es gibt Suppe?«

Großmutter warf mir einen bösen Blick zu. »Weilst mich halt stocknarrisch machst, mit deiner ständigen Fragerei.« Sie verschwand wieder in der Speisekammer.

Tolle Fragerei, wenn man lediglich erfuhr, dass es in der Steinzeit mal einen Kerl gegeben hatte, der durchgeknallt gewesen war. Wenn ich halt etwas Anständiges herausbekäme, beispielsweise, dass der Ernsdorfer schwul ist. Und außerdem Bestechungsgelder kassiert hat, vom Schmalzlwirt zum Beispiel. Damit jede Gemeinderatssitzung nur beim Schmalzlwirt stattfand.

Hm.

Andererseits war der Schmalzl unser einziger Wirt, und sich woanders die Birne zuzudröhnen war etwas schwierig, besonders, wenn man sich hinterher nicht mehr in der Lage sah, mit dem Auto nach Hause zu fahren.

»Und was anderes fällt dir nicht ein?«, fragte ich lautstark nach, weil Großmutter immer noch in der Speisekammer war.

»Der alte Ernsdorfer, der war ja in der Politik, so als Bürgermeister«, erläuterte sie weiter, als sie wieder in die Küche kam. Schwupps, drehte sie den Herd wieder auf volle Pulle. »Da ist man schnell unbequem für alle möglichen Leut.«

Hm. Das klang logisch. Der Ernsdorfer hatte sich nämlich seinerzeit für eine Müllverbrennungsanlage starkgemacht, direkt dort, wo der Loisl seine Felder hat. Wenn man bei den Unkrautbrachen überhaupt von Feldern sprechen mochte.

»Ich kann des schon auch machen«, erklärte sie mir, »zum Moosbauer gehen und dem ein bisserl auf den Zahn fühlen. Wenn dir des hilft. Für deine Zeitungsg’schichten.«

Oje. Konnte sie nicht weiter an den KGB glauben? Es war viel einfacher, wenn sie mir erläuterte, dass eine geplante Müllverbrennungsanlage auf den Loislschen Feldern den Vorläufer von mobilen Raketenrampen darstellte. Damit konnte ich richtig gut umgehen. Aber stattdessen so ein Krampf mit dem über hundertjährigen Moosbauer – wer auch immer das sein mochte –, der vielleicht den fünfundachtzigjährigen Ernsdorfer entführt haben könnte.

Vor allem musste ich verhindern, dass Großmutter aus lauter Hilfsbereitschaft zu ermitteln begann.

»Wennst mich brauchst«, sagte Großmutter noch einmal. »Meinst, ich kann des nicht?«

»Natürlich. Du kannst das richtig gut. Aber …« Mein Hirn dampfte vom angestrengten Überlegen. »Aber das ist nicht erlaubt.«

Großmutter schüttelte ungläubig den Kopf. »Meinst, mir kann irgendwer was verbieten?«, sagte sie ziemlich böse.

»Nein. Aber ich verlier meine Arbeit«, erfand ich. »Wenn die rauskriegen, dass ich meine Großmutter losschicke.«

Sie schüttelte weiter den Kopf und drehte sich zum Herd.

»Dreh halt nicht immer den Herd so auf«, murrte ich ablenkend.

»Wennst Grießnockerln machen willst, dann muss die Suppe richtig brodeln«, erläuterte sie und warf mir schon wieder einen bösen Blick zu. »Sonst werden die hart. Innen. Richtig harte Bompern hast dann.«

Ja. Aber wenn ich jetzt dann in die Arbeit fuhr und sie vier Stunden die Suppe brodeln ließ, dann wollte ich lieber nicht wissen, was passierte.

»Hast es g’hört. Jetzt soll der Rosenmüller richtig eingezogen sein«, sagte sie und schlug Eier, Butter und Grieß mit heftigen Schlägen.

… und schlief in einem richtig coolen verchromten Bett und hatte nicht einmal einen richtigen Schrank.

»Hast es g’hört, die anderen Weibsen im Dorf beten zum heiligen Ignaz, damit wir endlich den Ernsdorfer wiederfinden«, antwortete ich stattdessen im gleichen Tonfall.

Großmutter schüttelte nur den Kopf und stach Grießnockerln aus, die sie in die sprudelnde Suppe gab.

»Du sollst auch kommen«, richtete ich ihr etwas verspätet aus. »Damit’s auch was hilft.«

Sie hörte mit dem Kopfschütteln und Zungenschnalzen gar nicht mehr auf. »Ah, geh, Mädl. Denk doch mit.«

Stimmt. Erstens waren die Knochen gar nicht anwesend. Zweitens waren sie nicht heilig, sondern von irgendeinem dahergelaufenen verrückten Fremden. Und drittens war der richtige Ansprechpartner für Fundsachen der heilige Antonius.

»Solange der Pathologiebericht nicht da ist«, erklärte Großmutter erstaunlich hellsichtig, »bet ich zu keinen alten Knochen ned. Und des hab ich auch dem Metzger g’sagt, dem Gschaftlhuber.«

Ja, an die Unterhaltung konnte ich mich sehr gut erinnern. Der Metzger hatte gerade seine Ideen aufgezählt, die er bezüglich der Vermarktung vom heiligen Ignaz hatte, und dabei die Wurstradln runtergesäbelt, zackzackzack. Und genauso schnell kamen seine Ideen, zackzack.

»Und wenn’s gar ned der heilige Ignaz ist?«, hatte Großmutter mit reichlich bissigem Unterton gefragt.

»Dann halt Bonifaz-Würstln«, hatte er gekontert. »Wie der Heilige g’heißen hat, ist mir wurscht.« Im wahrsten Sinne des Wortes. Dabei hatte er gegrinst.

»Der Metzger, der ist halt der typische Gschaftlhuaber. Wennst a G’schäft hast, dann musst so sein«, sagte Großmutter neben mir und sah auf meinen Notizblock.

Über die Antwort vom Metzger war ich nicht weiter erstaunt. Ob die Würstln jetzt Bonifaz-Würstln oder Papst-Benedikt-Knacker hießen, war ja egal wie sonst was. Ich staunte mehr darüber, dass meine hochgläubige Großmutter nicht daran glauben wollte, dass wir den heiligen Ignaz gefunden hatten.

»Dem geht’s auch nur um den Diridari«, schimpfte Großmutter und schüttelte den Kopf über meine gemalten Kreisel.

»Ich geh jedenfalls nicht zum Rosenkranzbeten«, erklärte ich bestimmt, weil ich mich über die Infos meiner Großmutter ziemlich ärgerte. Sie wusste bestimmt irrsinnig viel über die Ernsdorfers. Bestimmt so viel, dass ich mir den Ausflug zu den Ernsdorfers hätte sparen können. Ich warf meine wilden Kreisel in den Müll.

Endlich konnte ich fahren, denn Großmutter drehte den Herd brav herunter. Jetzt durfte es nicht mehr brodeln, sonst zerfielen alle Nockerln zu Brei. Ich packte meine Umhängetasche.

»Und wennst mich brauchst …«, rief mir Großmutter noch nach.

Ich tuckerte die Hauptstraße entlang, in Gedanken damit beschäftigt, geeignete Interviewpartner zusammenzustellen und mir gleichzeitig zu überlegen, wie ich Großmutter vom Ermitteln abhalten konnte. Der Schmalzlwirt hatte seine Bayernfahne draußen hängen, die mit dem Wappen und dem Löwen darin. Und schon von Weitem sah ich, dass auch der Metzger die Fahne gehisst hatte. Ich war so abgelenkt, dass ich fast Anneliese überfuhr, die sich mir todesmutig in den Weg stellte und mit den Armen wedelte.

»Ich hab gar nicht richtig Zeit«, sagte ich als Begrüßung, bevor ich wieder irgendwelche Herzeldetails aufgetischt bekam.

»Ja, ich auch nicht«, antwortete Anneliese in trübsinnigem Tonfall. »Sag mal, meinst, wir sollten zum Doktor gehen?«

Huh. Nicht schon wieder medizinische Offenbarungen. Wenn es etwas Ekeliges sein sollte, würde ich einfach Gas geben.

»Hm. Kann nicht schaden«, antwortete ich vorsichtig und beobachtete im Rückspiegel Annelieses Kinder, die gerade dabei waren, die Nachbarskatze mit etwas zu bewerfen, was ich nicht sehen konnte.

»Ah, geh«, sagte sie zornig. »Du weißt doch noch gar nicht, um was es geht.«

Ergeben nickte ich nur. Garantiert Herzeldetails, an andere Dinge dachte sie nicht. Vielleicht hatte sie durch die viele Beiwohnerei auch eine Pilzinfektion.

»Ich bin nicht schwanger.«

Ach was.

»Und da fragt man sich doch. Damals bin ich sofort … na du weißt schon.«

Ja. Mit dem Daschner damals. Theologisches Killersperma. Die wussten halt, dass sie nicht so oft die Chance bekamen.

»Wenn jetzt der Thomas keine Kinder machen kann.«

Hm. Ich hatte keine Ahnung vom Kindermachen. Wir setzten momentan alles daran, keine Kinder zu kriegen. Das brachte mir zwar mehrere elende Höllenjahre ein, die ich wahrscheinlich in der Vorhölle schmurgeln musste, weil ich verhütet hatte. Aber immerhin hatte ich keine Kinder, die hinter meinem Rücken Katzen mit was-weiß-ich bewarfen.

»Ich kann dir nur sagen, wie man keine Kinder kriegt«, antwortete ich ausweichend.

Anneliese musste lachen.

An mir fuhr ein Lieferwagen mit verdunkelten Fenstern vorbei. Verdutzt sah ich dem Auto hinterher. Es ging immer mafiamäßiger bei uns zu, seit der heilige Ignaz gefunden worden war. S.E.C. stand vorne auf dem Lieferwagen. Ein Securitydienst. Mir blieb der Mund offen stehen. S.E.C. Der Wahnsinn.

»Jetzt haben wir sogar schon einen Securitydienst im Dorf«, sagte ich düster und sah zu, wie der Lieferwagen neben Stefanie stehen blieb. Stefanie schob sich mitsamt ihrem Wonderbra halb in den Lieferwagen und reckte ihr phänomenales Hinterteil in die Höhe.

Tststs, dachte ich mir.

Anneliese neben mir schüttelte den Kopf. »Ah, geh, Sekuriti.« Sie grinste ein wenig. »So ein Schmarrn. Des ist der Klaus.«

»Wie? Der hat einen Sicherheitsdienst gegründet?«

Wow. Eine Marktlücke hier bei uns, musste man echt sagen. Und jetzt, wo bei uns die Leute sang- und klanglos verschwanden, bestand ja auch wirklich Bedarf. Zu seinen Gunsten musste man sagen, dass es schließlich sein Großvater war, der vermisst wurde.

»Ah, geh weiter.« Anneliese schüttelte den Kopf. »Der ist doch Schreiner.«

Hm. Da wusste man natürlich einiges über die Sicherheit von Türschlössern. Oder war man da Schlosser?

Stefanie tauchte aus den Tiefen des Wagens wieder empor und winkte lässig. Langsam tuckerte der Lieferwagen weiter. Schreinerei Ernsdorfer Claus, stand hinten auf der Tür. Aha. S.E.C. Seit wann schrieb man Klaus mit C? Der hatte ja wohl überhaupt nicht in der Schule aufgepasst.

»Bei uns hat noch keiner Klaus mit C g’heißen«, würde der Schmalzlwirt sagen. Aber S.E.K. klang schon arg nach Sondereinsatzkommando. Und so wollte er wahrscheinlich auch nicht heißen.

»Ich muss arbeiten«, sagte ich nur, um nicht eine weitere Herzelgeschichte zu hören. Meine Laune war spontan im Keller, seit ich die Stefanie gesehen hatte. Ehrlich wahr. Zu jedem Mann beugte sie sich mit ihrem wunderbaren Busen ins Auto und reckte den verzierten Hintern in die Landschaft.

»Hat der Max schon den Pathologiebefund?«, fragte Anneliese schnell, bevor ich Gas gab.

Ich zuckte mit den Schultern. Mit seinen Sektionsberichten war der Max so geheimniskrämerisch wie Großmutter mit unserem Papst im Kohlenkeller. Und ich bezweifelte stark, dass ich die Erste war, die erfahren würde, ob es nun der heilige Ignaz war oder nicht.

»Die können doch gar nicht feststellen, ob die Knochen heilig sind«, munterte ich sie auf.

»Aber ob sie jung oder alt sind«, stellte Anneliese richtig und bekam ein paar Querfalten auf ihrer Stirn. »Ich frag mich nur …«

Sie machte eine Pause und nickte der Resi freundlich zu, die uns von der anderen Straßenseite zuwinkte. Ich kniff für einen Moment die Augen zusammen, in der Hoffnung, sie würde nicht die Straße überqueren. Bestimmt versuchte sie, noch weitere Rosenkranzbeter zu rekrutieren.

»… ich frag mich nur, wer es sonst sein könnte. Grüß dich, Resi.«

»Grüß dich, Resi«, sagte ich auch.

»Was ist mit deinen Augen?«, fragte die Resi mit einem komischen Unterton.

»Bindehautentzündung«, behauptete ich. »Manchmal läuft mir richtig der gelbe Eiter raus.«

»Ah, geh«, sagte Anneliese kopfschüttelnd. »Sei ned eklig.«

»Ich muss leider glei weiter«, erklärte die Resi mit einem bösen Blick zu mir. »… den Ernsdorfer ham s’ no ned …?«

»Nein. Den hat noch keiner gefunden«, sagte ich schnell. Weil sie halt auch erst am Nachmittag Rosenkranz beten wollten.

Resi nickte grüßend und ging ohne Verlautbarung medizinischer Kommentare weiter. Eine Weile sahen wir ihr schweigend hinterher.

»Eine Wachsleiche …«, schlug ich wieder vor. »Vielleicht sind die Knochen ja wirklich von einer Wachsleiche auf unserem Friedhof.«

Anneliese sah noch immer auf Resis stramme Beine. »Schließlich ist in letzter Zeit keiner aus dem Dorf verschwunden. Des hätten wir doch g’merkt.«

Wir sahen Resi weiter hinterher.

»Der Moosbauer«, schlug ich vor.

Anneliese sah mich verständnislos an. »Wer soll denn des sein?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Der da in der Kurve wohnt. Dort, wo der Rosl ihr Opa …«

Anneliese begann zu kichern. »Glaubst des ned. Meinst du, ich weiß, wo der Rosl ihr Opa g’wohnt hat?« Vor zweihundert Jahren.

»Resis Papa«, sagte ich schließlich. »Der ist schon seit sechs Wochen weg.«

Wieso war mir das nicht viel früher eingefallen? Der alte Langsdorfer. Den hatte ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Es hatte ihn zwar keiner vermisst, weil, na ja, so jemanden wie den alten Langsdorfer vermisst man halt einfach nicht. Aber genau genommen war er schon ewig weg.

Anneliese öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder, ohne etwas gesagt zu haben.

»Auf den Bahamas«, fügte ich hinzu. »Angeblich.«

»Auf Sulawesi«, verbesserte Anneliese.

»Auf den Bahamas«, beharrte ich.

»Urlaub, hat sie gesagt.«

»Ah, geh. Das glaubst doch selber nicht«, behauptete ich. »Der Resi ihr Papa ist ein knickerter Schwanz.«

Wir kicherten beide los.

»Ein richtig noadiger Krippel«, ergänzte Anneliese kichernd. Bevor Resi um die Ecke bog, sah sie sich noch einmal um. Wir verstummten gleichzeitig. Es war ein richtig gutes Gefühl, mit Anneliese zu kichern. Man kam sich gleich zehn Jahre jünger vor und um fünf Kilo leichter.

»Ach komm.« Anneliese schüttelte wieder ernst den Kopf. »Resis Papa zählt nicht. Der ist im Urlaub.«

Ich verdrehte die Augen. »Das ist der beste Trick überhaupt. Erst letzte Woche hat sie gesagt, jetzt verlängert er noch einmal. Das ist doch nicht normal! Der alte Geizkragen! Der verlängert doch nichts, was Geld kostet …«

»Du meinst doch nicht …« Sie schlug sich die Hand vor den Mund, um nicht auszusprechen, was ich denken könnte.

»Das braucht sie nicht mal selbst gemacht zu haben«, schlug ich vor. »Vielleicht ist er ja hingefallen. Peng. Mit dem Kopf an das geflieste Müllhäuserl. Das ist leicht passiert.«

»Und dann hat sie ihn zu Hause verwittern lassen?«, fragte sie nach.

»Das heißt verwesen«, verbesserte ich sie.

»Igitt.«

Wir prusteten schon wieder los. Obwohl verwesende Leichen an sich nicht zum Lachen waren.

»Was soll ma machen?«, fragte ich im Tonfall vom Schmalzlwirt.

»Den Sanka rufen?«

»Vielleicht hat sie’s auch erst gemerkt, wie er nur noch Knochen war«, schlug ich vor. »Seine Frau ist schließlich schon seit Jahren tot … Wenn man so alleine wohnt. Da kann das dauern, bis man gefunden wird.«

»Ah, geh«, sagte Anneliese mit angewiderter Miene.

»Vielleicht ist es ja auch seine Frau. Die ist doch schon länger tot. Das würde auch erklären, wieso es nur noch Knochen sind«, machte ich ganz pietätlos weiter, da ich nun schon am Fabulieren war.

»Ah, geh.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich war bei der Beerdigung. Die hatte einen richtig noblen Eichenholzsarg.«

»Na, siehst. Da hat das Geld halt nicht mehr gereicht für die Beerdigung vom Papa.«

»Lisa, du spinnst«, erklärte mir Anneliese mit einer Inbrunst, die nur Schulfreundinnen aufbringen.

Ich hupte freundlich und hob grüßend die Hand.

»See you!«

Ich hatte überhaupt keine Lust, bei Ernsdorfers vorbeizuschauen und sie zu interviewen. Ich hatte das letzte Interview noch ganz deutlich vor Augen und das sichere Gefühl, dass ich es mir eh sparen konnte. Ich fuhr ein paar Runden durchs Dorf und überlegte mir, wer als alternativer Informationslieferant infrage kam.

Die Bärbel, unsere Friseuse, fiel mir ein, als ich das dritte Mal an ihrem Laden vorbeifuhr. Die wusste fast so viel wie die Metzgerin.

Und die Metzgerin und Bärbel zusammen würden einen Informationssuperflash geben. Wenn ich den Fall dann nicht gelöst hatte, wusste ich auch nicht mehr weiter.

Als ich an Bärbels »Uschis Haircutting Studio« vorbeifuhr, fasste ich einen Plan: erst zur Bärbel, dann zum Metzger. Denn wie es aussah, hatte sie gerade keine Kunden. Obwohl es bestimmt auch nicht schlecht gewesen wäre, wenn ganz viele Rosenkranztanten frisch onduliert zusammengesessen und die neuesten Daten über die Ernsdorfers ausgetauscht hätten. Bevor ich den Laden betrat, sah ich, dass Bärbel ihre gebügelte Vatikanfahne rausgehängt hatte. Die Bärbel ist eine spinnerte Urschel, dachte ich mir mit der Stimme meiner Großmutter. War heute ein Feiertag?

Nur die Spitzen, schärfte ich der Bärbel ein, nicht dass ich plötzlich mit der Stahlwolle von der Ernsdorferin herauskam.

»Ja, ja, der Ernsdorfer. Das war ein guter Mensch«, sagte die Bärbel. »Willst nicht ein bisserl eine Dauerwelle?«

Bisserl Dauerwelle? Das hatte sie mir ein einziges Mal eingeredet. Dass ein bisserl Dauerwelle im Pony sich gut machen würde. Damit die Haare gefälliger ins Gesicht fallen. Selbst Großmutter, die selten etwas zu meinem Äußeren sagte, hatte gemeint: »Na ja, des wachst sich ja raus.«

»Ja, ja, der Ernsdorfer«, sagte auch ich und antwortete vorsorglich nicht auf die Dauerwellenfrage.

»Wenn man halt Parkinson hat. Da ist man schon gestraft«, sagte die Bärbel und sah missmutig auf meine Frisur. Anscheinend war mit etwas Spitzenschneiden nicht viel zu retten.

Mit der Ernsdorferin war man auch gestraft. Während Bärbel nachdenklich an meinen Haaren herumzupfte, starrte ich mein Spiegelbild an.

»Nur Spitzen?«, fragte sie erneut mit gerunzelter Stirn.

»Nur Spitzen«, wiederholte ich eindringlich.

Seufzend ergab sie sich dem Schicksal.

»Früher, da hat er seine Frau immer hergefahren. Mit dem Auto. Und dann hat er draußen gewartet. Auch wenn’s eine Dauerwelle war und er drei Stunden warten musste.«

Hm. Kein Wunder, dass er Alzheimer bekommen hatte. Drei Stunden vor Uschis Haircutting Studio, das hielt ja kein normaler Mensch aus.

»Mei, ich hab ihn schon ewig nicht gesehen«, sagte ich und schloss die Augen. Vielleicht verstand die Bärbel ja den dezenten Hinweis und sagte mir, wann sie den Ernsdorfer zum letzten Mal gesehen und ob sie eine Menge Alibis hatte für den betreffenden Tag.

»Ja, seit ein paar Jahren schafft er das nicht mit dem Autofahren«, erklärte Bärbel bedauernd. »Dann hat die junge Ernsdorferin sie herg’fahren. Ich hab ihn auch schon ewig nimmer g’sehn.«

Und die junge Ernsdorferin hat bestimmt nicht vor dem Geschäft gewartet. Das ging ja alles von der Putzzeit weg.

»Aber jedes Jahr hat er ihr einen Gutschein geschenkt. Für eine Dauerwelle und eine Gesichtsmassage.« Sie seufzte pathetisch.

»Gesichtsmassage?«, echote ich ungläubig. Was war das denn?

»Und, wer hat dann ihr Gesicht massiert?«

»Na, ich.« Bärbel schaute ziemlich beleidigt drein. Na gut, sonst war ja keiner in dem Laden. Aber wieso sollte sich irgendjemand von der Bärbel das Gesicht massieren lassen wollen?

»Ab Herbst biete ich Tai-Chi-Handmassagen an«, fuhr sie fort.

Um Gottes willen.

»Der Rosenmüller«, flüsterte sie plötzlich dicht an meinem Ohr und blieb wie erstarrt stehen.

»Der will auch eine Handmassage?«, fragte ich nach.

»Draußen.«

Mein Blick schwenkte zur Fensterscheibe. Oha. Der Rosenmüller auf seinem Omafahrrad. Die Stoffhose hochgezogen und mit bunten Hosenklammern festgeklemmt. Uuuh. Und ein Fahrradhelm. Ein bunter Fahrradhelm. Und ein Halstüchl.

»Die Leut, die studieren, die liegen den ganzen Tag im Bett«, erzählte mir Bärbel geheimnistuerisch. »Und da will ich gar ned wissen, was da alles passiert.«

Beim Schlafen?

»Der Sohn von der alten Stanglin. Der ist so lange im Bett g’legen, bis ihm der Darm festgewachsen war«, erläuterte sie die Problematik. »Den haben s’ operieren müssen.«

Ach so. Ich hatte mir mit meiner schweinischen Phantasie natürlich ganz was anderes zusammengereimt.

»Aber der Rosenmüller. Der sieht ganz g’sund aus«, wandte ich ein. Na ja. Bis auf die haarlosen Wadeln. Die sahen aus, als hätte er sie schon etliche Male enthaart.

»Des siehst ja auch keinem an«, erklärte mir die Bärbel, während der Rosenmüller wieder auf sein Fahrrad stieg.

»Schad«, meinte die Bärbel, die anscheinend gehofft hatte, dass er eine Dauerwelle brauchte. »Mei. Aber vielleicht finden s’ ihn ja doch noch. Den Ernsdorfer.«

»Dass der überhaupt abhauen kann«, wunderte ich mich. »So ohne Brille.«

Bärbel zuckte nur mit den Schultern und machte sich wieder ans Spitzenschneiden.

»Seit wann ist jetzt eigentlich der Resi ihr Papa auf den Bahamas?«, lenkte ich ab. Wenn ich schon nicht den Fall Ernsdorfer lösen würde, dann vielleicht den Fall Knochenkistl.

»Mei, wird scho glei zwei Monate her sein. Aber der ist nach Hawaii und nicht auf die Bahamas.«

Hawaii. Noch einmal was anderes. Wenn das nicht verdächtig war. Und keiner konnte sich so richtig erinnern, wie lange er schon weg war. Verdächtig ohne Ende.

»Der hat aber nie einen Gutschein besorgt«, klärte mich Bärbel auf. »Der war viel zu knickert. Mei, der schaut halt aufs Geld.«

»Kaum zu glauben, dass der Urlaub auf den Bahamas macht«, regte ich ein wenig ihre Phantasie an.

»Hawaii«, sagte die Bärbel stattdessen.

»Sulawesi«, schlug ich vor.

»Hawaii«, beharrte die Bärbel. »Der sollt’ glei unten bleiben. Vielleicht mögen die dort die knickerten Leut.«

Bahamas, dachte ich mir. Und dass den alten Langsdorfer irgendjemand leiden konnte, war nur denkbar, wenn er grad nicht geizig war.

»Aber der Ernsdorfer wird auch nicht jedes Jahr einen Gutschein gekauft haben«, gab ich zu bedenken. »Der war doch viel zu krank die letzte Zeit.«

»Doch, jedes Jahr, immer zur gleichen Zeit.«

»Auch dieses Jahr?«

Sie nickte und bekam plötzlich wässrige Augen. »Vor zwei Wochen hat er angerufen. Dann hab ich ihm den Gutschein herg’richt. Ich weiß noch, ich hab g’sagt, mei, lassen S’ Ihnen nur Zeit. Ich heb den Gutschein auf, und dann holen S’ Ihnen den halt ab, wenn S’ Zeit haben.«

Sie schniefte bei dem Gedanken, dass er nie mehr die Gelegenheit haben könnte, ihn abzuholen. »Vielleicht finden S’ ihn ja doch noch«, sagte sie schließlich und schnitt dann wieder ganz energisch an meinen Haaren.

Ich dachte ein wenig über den Gutschein nach. Und darüber, ob man den alten Ernsdorfer finden würde. Und in welchem Zustand. Und dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass er dann noch irgendwelche Gesichtsmassagegutscheine abholen würde. Außerdem musste ich denken, dass ich ihn gewaltig unterschätzt hatte. Ich hätte nie gedacht, dass er ein Friseurgutschein-Herschenker war. Und dass die junge Ernsdorferin die obligatorischen Blumen in einer Putzpause organisieren würde. Am besten irgendwelche Blumen, die wenig Blütenblätter abwarfen.

Dann war die Bärbel fertig und holte einen Handspiegel, um mir meine Haarpracht von allen Seiten zu zeigen.

»A bisserl a Welle würd des halt gefälliger machen«, sagte sie, nicht ganz zufrieden mit dem Resultat. »Da meldest dich vorher an, und dann machen wir eine schöne Welle rein.«

Nein danke.

»Wenn ich mal Zeit habe«, versprach ich.

Bärbel sah mich an, wie man jemanden ansieht, der gerade eine Notlüge ausgesprochen hat.

»Und, wer holt jetzt den Gutschein ab?«, fragte ich.

»Ich hab den Ernsdorfer angerufen. Den vom Sägewerk. Er hat g’meint, wenn er mal Zeit hat.« Sie sah mich missbilligend an. »Aber bis jetzt war er noch nicht da.«

Er würde ihn wahrscheinlich genauso wenig abholen wie der alte Ernsdorfer, der mit dem Parkinson, der einmal Bürgermeister gewesen war. Ich ging nach draußen und spiegelte mich in der Fensterscheibe. Immerhin, ich wirkte nicht allzu sehr verstümmelt. Ich konnte durchaus heute noch ein Date mit meinem Schatz ausmachen. Vielleicht musste ich mir noch dreimal die Haare waschen, damit ich nicht nach dem Standard-Bärbel-Haarfestiger roch und mir die Haare nicht ständig wie elektrisiert abstanden. Aber sonst gab es keine weiteren Verluste.

Bärbel beobachtete mich grimmig hinter der Fensterscheibe. Nun gut. In den nächsten fünf Jahren würde ich hier nicht wieder als Kundin auftauchen. Und bis dahin hatte sie hoffentlich vergessen, dass ich mich nicht ihrem Modediktat zu beugen gedachte.

Die kurze Stippvisite in der Redaktion war ziemlich unerfreulich gewesen. Mein Chef fand, dass ich mich jetzt mit Hochdruck um die Ernsdorfer-Hintergrundstory kümmern sollte. Und der Kare konnte sich gar nicht beruhigen, weil er es so unglaublich lustig fand, dass am Mittwoch ein Artikel über die Ernsdorfer-Suche in der Zeitung zu finden war, wo doch die Suche schon am Samstag stattgefunden hatte.

»Vielleicht solltest den Wetterbericht schreiben«, schlug er mir vor. »Das ist dann zwar keine Vorhersage mehr, wenn das Wetter vom Dienstag am Donnerstag drinsteht …« Er hatte sich gar nicht mehr einkriegen können über diesen tollen Witz.

»Und, was hat jetzt der Ernsdorfer g’sagt?«, wollte er noch wissen. Danach hatte ich beschlossen, dass mich ein Gericht bestimmt freisprechen würde, wenn ich dem Kare in dieser Situation einen Stuhl über den Kopf zog. Stattdessen entschloss ich mich, einfach irgendjemand zu interviewen und danach zu Hause wieder einmal nach dem Rechten zu sehen. Zornig packte ich meine Umhängetasche.

Als ich sah, dass Max gerade vor der Metzgerei einparkte, überkam mich ein plötzliches Verlangen nach Bierschinken, und ich stellte mein Auto direkt neben seins.

»Hallo, meine Süße«, sagte er und gab mir einen herzhaften Kuss auf die Lippen. »Nach was riechst du denn so penetrant?«

Bärbels Haarfestiger. In meinem Bauch begann es zu kribbeln, weil seine Lippen ein paar Sekunden zu lange auf meinen blieben.

»So riechen Frauen, die in ihrem Job was vorwärtsbringen«, behauptete ich. Immerhin wusste ich jetzt von dem Ernsdorfer-Gutschein, was auch immer das heißen mochte. »Und nach was riechst du?«, fragte ich nach.

»Leberkässemmel«, sagte er ganz routiniert bayerisch.

Ich verdrehte die Augen und deutete mit meinem Kopf zur Metzgerei. »Der Informationsgehalt da drinnen ist gerade überdurchschnittlich hoch. Vielleicht solltest du noch ein paar mehr essen.«

»Ja, das hatte ich vor. Ich habe schließlich dazugelernt«, gab er grinsend zu verstehen.

Sehr gut. Ein voller Bauch war prinzipiell kein Grund zum Schwächeln, wenn man vor einer Metzgerei stand, und vor allem nicht, wenn die Rosl, die Langsdorferin und die Kathl dort gerade einkauften.

»Und, wisst ihr schon, wer der Knochenkistlmann ist?«, bohrte ich weiter.

Er schüttelte den Kopf und legte mir kurz den Arm um die Hüfte.

»Und den Ernsdorfer?«, fragte ich ungeniert, da er gerade abgelenkt war. »Habt ihr den schon gefunden?«

»Auch nicht«, flüsterte er mir ins Ohr, während seine Hand auf meinem Hintern blieb.

»Vielleicht liegt der bald auch in einer Knochenkiste«, schlug ich liebenswürdig vor. »Hattest du nicht mal vor, dich profilermäßig fortzubilden?« Dann könnten wir vielleicht herausbekommen, ob das ein Serienmörder war oder nicht.

Hatte er natürlich nicht. Bevor ich nur noch ans Küssen denken konnte, drückte ich die Tür zur Metzgerei auf.

»Den finden die eh nicht mehr«, erklärte die Rosl gerade sehr bestimmt, als wir die Tür aufdrückten. »Der ist doch schon lange tot.«

Ich warf Max einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Wennst mich fragst, die Ernsdorfers, denen hat’s halt einfach gereicht. Und dann …«

Sie unterbrach sich selbst und drehte sich zu uns um. Schade. Jetzt hatte sie Max gesehen und wollte bestimmt nichts mehr sagen.

»Scharfrichter gibt ihm Busserl …«, sagte sie nur noch bedeutungsvoll. Ich kannte den Rest des Satzes, der ging nämlich so weiter: steckt den Kopf zum Schlingerl rein. Und vom Henker einen Kuss zu bekommen war eine unangenehme Sache. Diese Möglichkeit hatte ich mir noch gar nicht so genau überlegt – dass die Ernsdorfers den alten Ernsdorfer umgebracht haben könnten. Max hatte das bestimmt wieder nicht verstanden. Die plötzliche Stille war ziemlich unangenehm.

»Hundert Gramm Hirnwurst«, sagte die Rosl dann, als hätte sie die ganze Zeit von nichts anderem geredet.

»Den Bierschinken hätt ma im Angebot«, sagte die Metzgerin, als würde sie nichts anderes interessieren.

»Ich warte draußen«, sagte Max ziemlich hellsichtig. »Nimm Schinken mit.«

Die Tür fiel hinter ihm zu, und gleichzeitig drehte sich die Rosl um, um sich zu vergewissern, dass Max wirklich weg war.

»So ein Schmarrn«, sagte die Langsdorferin, »die werden jetzt den alten Ernsdorfer umgebracht haben.«

Alle schauten mich eine Weile schweigend an, anscheinend um abzuschätzen, ob ich so link war und alles dem Max weitersagen würde. Ich hingegen starrte bewegungslos auf den Bierschinken und hoffte, dass sie alle vergaßen, dass ich hier war.

»Des macht ma doch ned«, sagte die Metzgerin schließlich. »Darf’s a bisserl mehr sein?«

»Ja, mein’thalben«, sagte die Rosl. »Aber wieso findet dann keiner den Alten?«

»Nur, weil die Ernsdorferin nicht miachat ist«, setzte die Langsdorferin hinzu, »ist sie noch lange keine Mörderin ned.«

Miachat, dachte ich mir böse. Dass die Ernsdorferin nicht liebenswert ist, war die Untertreibung des Jahrhunderts. Eine alte, giftige »Weddahex« war sie. Und wenn ich jemandem einen Mord zutraute, dann ihr. Miachat. So ein Schmarrn. So wie die mich angegiftet hatte, hielt ich auch einen Mord für realistisch.

»Außerdem haben s’ ein Alibi«, erklärte die Langsdorferin souverän.

Tststs. Das hatte mir Max noch gar nicht erzählt.

»Glaubst des nicht«, sagte die Rosl.

»Doch. Für den ganzen Abend«, setzte die Langsdorferin überlegen hinzu.

Die Rosl schüttelte betrübt den Kopf. »Na, heute, mit dene Alibis. Des geht ja ganz einfach. Einen findst schon, der lügt wie gedruckt.«

Dann sahen sie alle mich an, als würde ich wie gedruckt lügen.

»Sechs Euro fuchzig«, sagte die Metzgerin noch.

Ich beschloss, für heute Schluss zu machen. Wenn ich Glück hatte, konnte ich auch Max davon überzeugen, nichts mehr zu tun. Schließlich war Freitag.

Max wollte aber lieber in die Rechtsmedizin fahren, und mich konnte er dabei nicht brauchen.

»Jetzt gib endlich zu, dass ihr das Skelett schon längst zusammengesetzt habt«, forderte ich ihn auf. »Du weißt das doch schon lange.«

Max versuchte mich zu küssen, wahrscheinlich, damit ich nicht merkte, wie er grinste.

»Ein einziger Tipp«, beharrte ich und drehte mein Gesicht weg, sodass er nur mein Ohr erwischte.

»Nun sag schon. Du musst doch dabei sein, wenn da ein Rechtsmediziner dran rumfuhrwerkt.«

»Wir mussten halt auf einen Anthropologen warten«, redete er sich raus.

»Schmarrn.«

»Manche Rechtsmediziner kommen richtig durcheinander. Mit den vielen Knöchelchen.«

»Schmarrn.«

»Ich habe das schon erlebt«, erklärte er mir mit einem breiten Grinsen, »da war plötzlich ein Zehenknochen an der linken Hand.«

»Genau«, stimmte ich mit zusammengekniffenen Augen zu. Sein Polizistenlatein konnte er an anderen ausprobieren. »Und wenn ich als Journalistin versage, dann nur, weil du dich so anstellst«, erklärte ich ihm.

»Du schreibst doch gar nichts über den Knochenkistenmann«, verteidigte er sich und küsste mich.

Max ist echt gut im Küssen, da vergisst man alles Mögliche.

»Der Bericht, ist der nun fertig oder nicht?«

»Noch nicht«, hauchte er mir ins Ohr. »Ich mache heute Abend Hähnchenbrust an Safranreis. Acht Uhr bei mir …«

Sahnesoße. Mmm. Ich esse einfach zu gerne. Da vergesse ich mich dann und ermittle nicht mehr.

»Du könntest noch Reis besorgen. Ich muss dann mal …«

»Du könntest mich auch mitnehmen«, seufzte ich.

Hatte er gesagt, dass er alleine hinfinden würde?

Aber eigentlich hieß das, dass er sein Wissen nicht mit mir teilen wollte. Ich sah ihm schmollend hinterher, wobei mein Blick am Auto des Metzgers hängen blieb, der eine Vatikanfahne ins Fenster geklemmt hatte. Oje.

Die Kathl kam hinter mir aus der Metzgerei und blieb kopfschüttelnd neben mir stehen.

»Des hat doch kein Taug ned«, sagte sie und betrachtete wie ich die Fahne. »Wo wir nicht einmal wissen, ob es der heilige Ignaz ist.«

»Die hängen die Bayern-Fahne wegen dem Ignaz raus?«, fragte ich fassungslos und wusste in dem Moment, dass sämtliche Rosenkranztanten, außer der Kathl und der Großmutter, ihre gebügelten Vatikanfahnen in den Geranienkästen stecken hatten. Nur der Loisl hatte vermutlich die Nerven, eine Fahne mit Bierwerbung rauszuhängen. Aber eigentlich alles ganz logisch. Schließlich war es die ganze Zeit um Bierfilzln gegangen, da konnte man dem Loisl natürlich nicht begreiflich machen, wieso man eine Vatikanfahne zum Fenster raushängen musste. Im nächsten Moment bereute ich schon die Frage. Nicht, dass jemand mitbekam, dass ich schon wieder neugierig war.

»Ah geh«, sagte die Kathl, genau wie es meine Großmutter gesagt hätte. »Doch nicht wegen dem Ignaz. Sondern wegen diesem Pro Sieben.«

Pro Sieben? Was hatte ein Fernsehsender mit dem Vatikan zu tun?

»Die kommen doch heute. Und dann gibt’s beim Schmalzlwirt eine Pressekonferenz.«

Eine heilige Pressekonferenz, das war ja unglaublich. Immerhin hatte ich jetzt verstanden, was die Anweisungen vom Kreiter, dem Schmalzlwirt und dem Troidl hatten bezwecken sollen. Wenn die Knochen schon einmal geleuchtet hatten, konnte man denen vom Fernsehen eine schöne Geschichte erzählen. Einfach nur Knochen hinter der Erntedankkrone, das war schon etwas mickrig.

Aber wieso wusste ich nichts davon? Eigentlich hätte ich das in der Redaktion erfahren müssen. Der Kare, dieser Sack. Die coolen Aufträge an Land ziehen und mir nichts davon erzählen! Ich beschloss, dass ich zu Recht extrem beleidigt war. Vielleicht sollte ich mir wirklich überlegen, den Beruf zu wechseln. Oder mir wenigstens vom Kare Tipps geben lassen, wie man es schafft, seine Kollegen derart über den Tisch zu ziehen.

Es war irrsinnig leise. So fern von menschlichen Geräuschen, dass ich für einige Zeit meinte, ich wäre allein auf der Welt oder zumindest hier im Wald. Ich setzte mich auf meine Tasche und hörte das Geräusch eines zerbrechenden Kugelschreibers. Aber es war mir egal, denn die Sonne schien mir warm ins Gesicht. Ich blinzelte mit halb geöffneten Lidern in die Sonne. Das war bestimmt gesund, da schüttete man bestimmt jede Menge Endorphine aus und bildete Vitamine. Und Stoffe, die gegen Depressionen halfen. Stimmungsaufhellende Mittel hatte ich momentan wirklich nötig. Allein der Gedanke an die von Pro Sieben verbrauchte schon alle Endorphine, die mein Körper auf Lager hatte. Und wenn man in einem Dorf lebt, wo die Hälfte der Bevölkerung spinnt und noch dazu will, dass man selbst mitmacht, braucht man mehr Endorphine, als man an einem Sonnentag produzieren kann.

Ich kniff die Augen zusammen, bis ich nur noch regenbogenfarbige Strahlen sah, die sich zur Sonne bündelten und sich vor meinen Augen bunt auffächerten und einen dichten strahlenden Vorhang bildeten. Wenn man dann eine Weile saß, merkte man, dass man doch nicht alleine war. Man hörte irgendeine Kröte rufen. Ein einsamer Spinnenfaden wehte neben mir im Wind.

Hier im Wald saß ich gerne, da hatte ich auch fast keine Angst. Ich schaute mich zwar bei jedem Knacksen um, ob hinter mir der nächste anonyme Brief lag. Oder irgendein größeres totes Tier. Oder der Ernsdorfer.

Fast noch schlimmer war die Vorstellung, durch unseren Ort zu schleichen, so ganz ohne Fahne war man der totale Außenseiter. Nicht einmal meine alte Sinalco-Fahne hatte ich dabei.

Aber ich wollte meine Gedanken nicht mit so etwas vergeuden. Die Knochen waren bestimmt nicht heilig. Viel dringender war das Problem mit dem Serienmörder. Und so bedeckt, wie sich Max bezüglich der Knochen hielt, hatte das bestimmt etwas zu bedeuten. Denn sie wussten sicher schon einiges. Auch wenn sie die Identität noch nicht geklärt hatten. Ich schloss eine Weile die Augen und versuchte mir vorzustellen, was außer einem Serienmörder noch infrage kam. Die Ernsdorfers hätten natürlich sozusagen das mit dem Knochenkistlmann nutzen und so als Trittbrettfahrer ihren Opa um die Ecke bringen können. Das ist jetzt eine gute Möglichkeit, hat vielleicht die Ernsdorferin gesagt. Da meint dann die Polizei, dass irgendein Serienmörder am Werk ist.

Ich starrte böse auf den gelben Huflattich neben mir. Direkt daneben lag Marderscheiße. Igitt, hätte Anneliese jetzt gesagt. Stell dir das vor. Wir sitzen da bestimmt drinnen. In Marderscheiße.

Und apropos Marderscheiße, hatte der Drohbrief wirklich mit den aktuellen Geschehnissen zu tun? Der Mörder hatte halt gar keine Lust, dass ihn irgendwelche Journalistinnen verfolgten und all seine Pläne auffliegen ließen. Wenn also die Ernsdorfers ihren Opa umgebracht hatten, dann hatten sie bestimmt auch den Drohbrief geschrieben. Ein bisschen eigenartig, dass die so eine schlechte Rechtschreibung hatten. Aber vielleicht war das auch die beste Tarnung überhaupt. Bestimmt hat der Ernsdorfer zu seiner Frau gesagt, kleb noch ein h rein, dass jeder meint, den Brief hat ein Blödl geschrieben.

Ich würde mich jedenfalls nicht von so einem blöden Drohbrief beeinflussen lassen. Einen Pfiefkaas werd ich machen, würde der Schmalzl sagen. Ich lass mir doch ned sagen, was ich tun darf und was ned! Und das würde ich auch nicht machen!

Ich starrte weiter auf die Hinterlassenschaften des Marders. Obwohl jedes Stück Marderscheiße bestimmt angenehmer war, als in einem Ort mit dem Schmalzl, dem Kreiter und dem Metzger zu wohnen, die seit den Knochen anscheinend komplett durchgeknallt waren.

Ich kniff wieder einmal die Augen zusammen. Eigentlich glaubte ich nämlich nicht, dass sie durchgeknallt waren. Normalerweise waren die vier ausgesprochen bodenständig, vernünftig und frei jeder religiösen Eingebung. Deswegen war es auch ganz schön gruselig, mit anzuhören, was sie sich knochenkistlmäßig ausdachten.

Ich blieb so lange sitzen, bis mein Popo kalt war und ich um meine Mutterbänder und meine Blase bangen musste. Dann packte ich meine Tasche und ging durch das Gestrüpp zurück auf den Weg. Die schräge Sonne beleuchtete eine Truppe Mückenmännchen, die ihr wohlgeordnetes Ballett ausführten. Immer hinauf und hinunter, wie winzige Lichtpunkte in einem dunklen Wald. Bestimmt total sexy für so Mückenweibchen.

Während ich zwischen den Mücken dahinstapfte, die sich nur träge ein paar Zentimeter wegbequemten, schwirrten noch Heiligenideen durch meinen Kopf. Wunderheilungen. Marienerscheinungen. Die Rosl hatte in letzter Zeit nämlich mehr Marienerscheinungen als notwendig. Vielleicht als Ausgleich zu dem ganzen Ignaz-Gerede.

Etwas verwirrt blieb ich einen Augenblick stehen. Komischerweise hatte Großmutter keine Gotteseingebung. Stattdessen hatte sie in letzter Zeit immer ihre steile Stirnfalte.

»So ein Schmarrn«, hatte sie schon öfter mürrisch gesagt. »Des wird ein Heiliger g’wesen sein.«

Ich ging weiter, ebenfalls mit einer steilen Stirnfalte, auch wenn ich dadurch meiner Großmutter immer ähnlicher wurde. Großmutter war unglaublich anfällig für Heilige, Wallfahrten und Gebeine jeder Art. Und um ehrlich zu sein, beunruhigte es mich, dass sie so negativ auf den Heiligenfund reagierte. Mal abgesehen davon, dass sie es bestimmt lieber gesehen hätte, wenn wir nicht um die heiligen Knochen gestritten und sie im ganzen Orgelaufgang verteilt hätten. Das hatte vielleicht gedauert, bis wir die ganzen kleinen Fingerknöchelchen eingesammelt hatten. Ich möchte lieber nicht wissen, wie viele heilige Knöchelchen noch unter der Erntedankkrone lagen.

Wochenende. Jetzt war aber erst einmal Wochenende. Und die vom Fernsehen würde ich ignorieren.

So ganz stellte sich das Wochenendgefühl allerdings nicht ein, denn kurz bevor ich in unsere Straße einbiegen konnte, sah ich dort die alte und die junge Ernsdorferin stehen und erregt miteinander reden. Die zwei wollte ich jetzt einmal gar nicht treffen. Allerdings wollte ich auch nach Hause. Ich blieb erst stehen und beobachtete die zwei, aber sie hatten anscheinend keine Lust weiterzugehen. Ich schwang mein Bein über den Gartenzaun vom Laschinger. Der war das nämlich gewöhnt, dass ich bei ihm in den Garten einstieg. Da kam man ganz einfach vom Garten der Laschingers in den Garten von Reisingers und von dort direkt zu unserem Komposthaufen. Tief in der Hocke watschelte ich im Entengang hinter der Thujenhecke der Laschingers entlang, bis ich so nahe an den Ernsdorfers dran war, dass ich ihnen zuhören konnte.

»Nein, des sag ich ihnen jetzt«, sagte die Ernsdorferin böse. »Die meinen, sie können mit uns machen, was sie wollen.«

»Ah, geh, Mama«, sagte ihre Schwiegertochter verzweifelt.

Diese Verzweiflung kannte ich. Die bekam ich nämlich immer, wenn Großmutter wieder etwas ganz Furchtbares vorhatte. Zum Beispiel zum Bürgermeister zu gehen, um ihm mitzuteilen, dass er mal mit der Reisingerin über deren unmäßigen Düngereinsatz sprechen sollte.

»Nein, da lass ich mir jetzt nimmer reinreden. Die Suche nach unserem Papa einstellen, aber bei denen von Pro Sieben wollen s’ wieder alle dabei sein.«

»Des ist doch was anderes«, meinte die Schwiegertochter.

Ich watschelte ein paar Schritte weiter.

»Jetzt fall mir du auch noch in den Rücken«, keifte die Ernsdorferin sie an. »Die eigene Familie. Fällt einem in den Rücken.«

»Aber was willst denn denen vom Fernsehen sagen?«, wollte die Schwiegertochter wissen. »Die interessiert doch eh nur der Heilige.«

»Heilige Knochen!« Die Ernsdorferin schnaubte empört.

»Pscht«, machte die Schwiegertochter noch einen Tick verzweifelter.

»Ich lass mir doch ned des Maul verbieten!«

Ich watschelte ein wenig langsamer. Schließlich war das furchtbar interessant.

»Aber stell dir doch vor«, fing die Schwiegertochter an.

Bevor sie sagen konnte, was sich die alte Ernsdorferin vorstellen könnte, sagte neben mir die Laschingerin: »Mei. Lisa. Dich hab ich ja schon ewig nimmer g’sehn.«

Ich kippte vor Schreck nach hinten um und starrte die Laschingerin nur erschrocken an.

»Suchst was?«, wollte sie freundlich wissen.

Das Gespräch vor dem Gartenzaun verstummte abrupt. Plötzlich hatten es die zwei Ernsdorferinnen ziemlich eilig weiterzugehen.

»Die meint, dass ich jetzt gleich zu meinem Bruder renn und ihm erzähl, was sie vor meinem Gartenzaun erzählt«, erklärte sie mir zufrieden. Ihr Bruder war nämlich der Bürgermeister von unserem Dorf.

»Wieso, was hat sie denn erzählt?«, wollte ich wissen.

»Sie will, dass die vom Fernsehen nicht kommen«, erläuterte sie mit einem begeisterten Unterton. »Und stattdessen alle noch mal den Ernsdorfer, den mit dem Parkinson, suchen.«

So viel Weitblick hätte ich den Ernsdorfers nun gar nicht zugetraut.

»Aber ich spinn doch ned. Ich hab mir jetzt extra ein neues Jackerl gekauft, für die ganze Filmerei. Da werd ich losgehen und sagen, die sollen ned kommen.«

Ich rappelte mich auf.

»Und den Ernsdorfer finden die sowieso nimmer«, erklärte sie mir weiter, während ich mich durch die Thujenhecke kämpfte und über den Gartenzaun stieg. »Lebendig jedenfalls nimmer.«