An manchen Tagen weiß man schon von vornherein, dass sie ganz grässlich verlaufen werden. Ich hatte schon wieder eine schlaflose Nacht hinter mir, und es hätte mich nicht gewundert, wenn ich neben meiner Großmutter am Frühstückstisch weiße Zwerge hätte sitzen sehen. Aber Großmutter hockte ganz alleine im morgendlichen Frieden vor ihrem Bistumsblatt und ließ sich von ihrem Energiekegel bestrahlen.
Ich setzte mich zu ihr an den Tisch und wartete darauf, dass sich die Espressomaschine aufheizte. So richtig hatte ich noch immer nicht verarbeitet, was ich gestern herausgefunden hatte. Es war schlichtweg unmöglich, dass der Rosenmüller ein Drohbriefschreiber war. Schließlich war er ein studierter Theologe.
Aber so viele Wörter, wie er ausgeschnitten hatte, deuteten eigentlich darauf hin – mein Magen knurrte unnatürlich laut –, dass er entweder ganz viele Drohbriefe gebastelt oder dass er mir nicht den ersten geschickt, sondern eine Weile geübt hatte.
Schmarrn, würde Großmutter sagen. Ein Pastoralreferent, des is ein feiner Mensch und ned irgendein dahergelaufener miserabliger Hundskrippl. Ich starrte auf Großmutter, die mit gerunzelter Stirn im Bistumsblatt las. Wohl wahr, möchte man meinen. Und ich strengte mich auch unglaublich an, für die beobachteten Dinge eine harmlose Erklärung zu finden. Vermutlich hatte ich einfach nur zu viel Hunger. Sonst wäre mir gleich etwas ganz Einleuchtendes eingefallen.
Großmutter blätterte wieder um, es raschelte leise und gemütlich. Ich dachte an die Gesichtsfarbe der Müllmänner, an die Hektik vom Rosenmüller.
Aber wieso sollte der Rosenmüller so etwas tun? Es sei denn, er war ein psychotischer Massenmörder, die brauchten nämlich überhaupt kein Motiv. Da musste man sein Opfer auch nicht zwingend näher kennen. Er hatte halt den Ernsdorfer so allein und verwirrt draußen rumlaufen sehen, und dann hatte es ihn einfach überkommen.
Das war jedenfalls die Theorie, die mir in der Nacht am schlüssigsten erschienen war. Ich war schon wieder nahe dran, Max anzurufen. Auch wenn ich mir die blöden Kommentare gut vorstellen konnte, die ich dann zu hören bekommen würde. Aber ein Serienmörder, der sich als Pastoralreferent ausgab, war vielleicht doch eine Nummer zu groß für mich.
Großmutter hob den Blick und sah mich kritisch an, obwohl ich nichts gesagt hatte.
Aber vielleicht kannte der Rosenmüller den Ernsdorfer ja doch? Vielleicht hatte er sich gerade aus dem Grund in unser beschauliches Dorf versetzen lassen? Kein Mensch wusste genau, woher der Rosenmüller kam und wer er war. Vielleicht war er gar kein Theologe, sondern ein verkappter psychopathischer Killer? Bevor ich das gesamte Dorf aufhetzte, sollte ich das vielleicht erst einmal überprüfen, beschloss ich. Schließlich musste die Pfarrei irgendwelche Unterlagen über diesen sogenannten Theologen haben.
Ich kippte einen schnellen Kaffee. Danach kippte ich, ohne an etwas zu denken, noch einen langsamen Kaffee. Das Pfarramt, fiel mir ein, die müssten doch irgendetwas über den Rosenmüller wissen. Bevor ich Max mit meinen Ermittlungsergebnissen belästigte, wollte ich doch noch ein paar eigene Erkundigungen einziehen. In meinem Magen begann es zu grummeln und zu grollen.
»Wann ist denn das Pfarramt offen?«, fragte ich so in den Raum hinein. Die hatten bestimmt irgendwelche Unterlagen über den Rosenmüller. Vielleicht mit dem kleinen Vermerk: Achtung, psychotischer Killer, bitte nachts nicht unbeaufsichtigt lassen.
Großmutter blickte noch böser. Oje. Mit meiner Frage hatte ich anscheinend in ein Wespennest gestochen.
»Des steht im Pfarrbrief. Aber ich sag’s dir glei, wenn die Bixn allaweil da wär, wenn’s drinnen steht, da könnten wir froh sein. Aber die treibt sich doch den ganzen Tag sonst wo rum und …«
»Jetzt ist noch nicht offen?«, bohrte ich nach.
»Um die Zeit doch nicht«, erklärte Großmutter.
Gut zu wissen. Dann würde ja ein Einbruch nicht weiter auffallen. Und ein paar fehlende Unterlagen fielen auch nicht ins Gewicht. Das Grummeln und Grollen in meinem Gedärm wurde plötzlich so schlimm, dass ich ganz dringend aufs Klo musste. Der Gedanke an einen Einbruch machte mich wirklich fertig.
Großmutter sah gar nicht auf, als ich zum gefühlten zehnten Mal vom Klo zurückkam.
»Weilst halt allaweil des fettige Zeug isst«, mutmaßte sie, da sie von meiner kriminellen Energie gar nichts wusste. »Des is halt ned g’sund.«
»Schmarrn«, sagte ich. Irgendwo einsteigen ist nicht gesund.
»Am Schluss hast du’s dann am Dickdarm«, erklärte sie ungerührt.
Das konnte gut sein. Wenn ich weiterhin so unter Stress stehen würde, weil ich ständig irgendwo einbrechen musste. »Ich muss in die Arbeit«, log ich, obwohl ich vorhatte, so ganz spontan im Pfarramt einzubrechen. »Du brauchst nicht kochen«, erklärte ich vorsichtshalber noch, während ich mir meine Umhängetasche schnappte. »Das mach ich dann schon.«
»Ja?«, sagte die Kreiterin und sah nicht einmal auf.
Sprachlos starrte ich sie an. »Ich würd die Pfarrsekretärin suchen«, erklärte ich. Großmutter war sich ganz sicher gewesen, dass um diese Zeit noch keiner im Pfarramt arbeitete.
Jetzt sah sie auf und hatte einen ziemlich wütenden Blick drauf. Okay. Mit Einbruch war jetzt also nichts.
»Wegen des Pfarrfests übermorgen«, fügte ich hinzu, weil sie gar so bös schaute.
»Ja?«, wiederholte sie noch einmal mit ihrem glühenden Blick.
»Ob es da … ähm … eine Liste gibt. Für den … Kuchen …«
Was redete ich eigentlich für einen kompletten Quatsch.
»Vielleicht hat ja die Pfarrsekretärin so eine Liste«, schlug ich vor.
»Ich hab keine Liste«, sagte die Kreiterin und sah noch wütender aus.
Ich war auch ziemlich wütend, Großmutter hätte mir schließlich sagen können, dass die Kreiterin die Pfarrsekretärin ist. Aber wahrscheinlich hätte sie mir gesagt, wenn du einmal im Pfarrbrief lesen würdest, dann wüsstest du das selber. Und das stimmte auch wieder.
Ich versuchte, mich an meine Mission zu erinnern.
»Ja. Also. Außerdem«, sagte ich mit gerunzelter Stirn. »Außerdem schreib ich was über den Rosenmüller. Und da dachte ich mir, ihr habts da bestimmt im Pfarrbüro so …«
Was? Ein polizeiliches Führungszeugnis? Die Liste der letzten Verbrechen?
»… einen Lebenslauf«, hängte ich atemlos an. O Mann. Man sollte solche Aktionen immer vorher planen.
»Nein, haben wir nicht«, antwortete die Kreiterin böse. »Sonst noch was?«
»Oder irgendwelche … Referenzen oder so …«
Die letzten Gefängnisaufenthalte. Vorstrafenregister.
Sie lehnte sich gemütlich zurück und betrachtete mich von oben bis unten.
»Gutachten?«, schlug ich stattdessen vor. »Zeugnisse?«
Sie schüttelte zufrieden den Kopf.
»Der Herr Rosenmüller könnte jetzt sozusagen … auch gar kein Pastoralreferent sein«, bemerkte ich mit ebenso großer Zufriedenheit, »sondern beispielsweise ein …«
… psychotischer Killer.
»… Tankwart?«
»Schmarrn«, erklärte die Kreiterin kopfschüttelnd. »Die Diözese schickt uns doch keinen Tankwart als Pastoralreferenten.«
»Aber wissen tun wir’s nicht.« Das war ja ein Ding. »Und vielleicht wissen die’s von der Diözese auch nicht?«
»Schmarrn«, antwortete die Kreiterin unwirsch. »Die haben des natürlich schon. Die Zeugnisse. Und den Lebenslauf.«
Sie trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch und sah mich mit dem »Wir haben zu tun«-Blick an.
»Frag ihn halt selber.«
Was? Ob er ein Serienmörder war und sich nur als Pastoralreferent ausgab?
»Mach halt ein Interview«, schickte sie mir noch hinterher. »Da fragst ihn einfach, was du alles wissen willst. Ob er zum Beispiel Tankwart ist.« Sie kicherte.
Die Tür fiel hinter mir ins Schloss.
Dass die Kreiterin kichern konnte, hatte ich auch noch nie erlebt.
Das Pfarrfest sollte stattfinden, obwohl wir den Ernsdorfer nicht gefunden hatten. Selbst die alte Ernsdorferin hatte dafür gestimmt. »Das hätte er nicht gewollt«, hatte sie angeblich gesagt, »dass so eine Institution ausfällt.«
Wie eine Institution ausfallen kann, wusste keiner. Und dass er das nicht gewollt hätte, hielt ich für ein Gerücht. Vermutlich war es dem alten Ernsdorfer einfach komplett egal, ob und wann ein Pfarrfest stattfand. Und jetzt, in seiner Lage, konnte man annehmen, dass es ihm bestimmt besonders egal war. Denn inzwischen sagten sogar die optimistischen Rosenkranztanten, dass man ihn wahrscheinlich nie wiederfinden würde.
Ein Pfarrfest ist eine gute Sache. Man trifft alle Katholiken auf einem Haufen und kann ermitteln, dass es grad so kracht. Ich hatte große Pläne. Ich wollte mich noch nicht ganz auf den Rosenmüller versteifen, schließlich hatte ich immer noch nicht herausgefunden, was der Kreiter mit dem Ernsdorfer zu tun hatte. Außerdem wollte ich dem Rosenmüller zuerst noch etwas auf den Zahn fühlen, bevor ich ihn als Mörder festnagelte. Wie ich das anstellen sollte, wusste ich noch nicht, aber ich hoffte auf eine spontane Inspiration. Ich hatte den Rosenmüller und den Kreiter zwar schon in der Menge entdeckt, aber die Eingebung ließ auf sich warten.
Wenigstens war meine Tarnung perfekt. Denn das Wichtigste am Pfarrfest ist, dass man sich riesig einbringen muss, dann sind alle wohlwollend gestimmt. Und in meinem Fall bedeutete das, dass ich die größte Tupperdose, die die Anneliese hatte finden können, gut gefüllt hatte. Ich hatte wirklich und wahrhaftig einen Zitronenkuchen auf dem Blech gebacken. Und ich spürte richtig, wie hin und wieder ein wohlwollender Blick an mir hängen blieb. Die Lisa Wild bringt sich ein. Ehrlich.
Vorsichtshalber. Ich brachte mich vorsichtshalber ein. Um nicht versehentlich ermordet zu werden oder versehentlich zu verschwinden. Und außerdem, um auszusehen wie all die anderen erwachsenen Katholikinnen, die mit Salatschüsseln und Tupperdosen bewaffnet waren. Kein Mensch hätte geahnt, dass ich auf etwas ganz anderes aus war, als möglichst viel Kuchen zu essen.
Der Rosenmüller machte es mir besonders leicht. Denn als er mich erblickte, steuerte er gleich auf mich zu und reichte mir freudestrahlend die Hand.
»Haben Sie schon den Zucchinikuchen probiert?«, fragte er mich, lächelte voller Inbrunst und zeigte auf kleine schokoladige Schnittchen.
»Nein«, sagte ich misstrauisch und presste meine Tupperdose an mich. Ich würde heute überhaupt nichts essen, was ich nicht selbst gebacken hatte. Eigentlich sollte ich schon längst Diät machen, da war heute der richtige Tag, damit anzufangen. Und Schnittchen, die mir der Rosenmüller anbot, würde ich garantiert nicht annehmen.
»Wie schmeckt der?«, fragte ich nach, weil ich nicht allzu unhöflich sein wollte.
Er hielt mir ein Stück hin. »Keine Ahnung. Ich habe davon noch nichts probiert.«
Verdächtig. Verdächtig ohne Ende.
»Bitte, Sie zuerst«, schob ich ihm den Schwarzen Peter zu.
»Nein, nein, Ladys first«, sagte er galant mit einem strahlenden Lächeln.
»Nein, nein, erst die Diener Gottes«, trumpfte ich auf.
»Nein, nein …«, widersprach er mir und fügte ganz leise und vertraulich hinzu: »Wissen Sie, wenn ich alles esse, was man mir anbietet, werde ich noch unglaublich dick.« Er zwinkerte jovial, und ich bekam einen Schweißausbruch, weil ich dachte, ich müsste jetzt den vergifteten Kuchen essen.
»Ja«, sagte ich mit trockenem Mund, »und ich … ich bin gegen Zucchini allergisch.«
Großmutter blieb neben mir stehen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Ah geh, Mädl. Kein Mensch ist gegen Zucchini allergisch.« Sie nahm ihm das Stück aus der Hand, und bevor ich sie daran hindern konnte, hatte sie hineingebissen.
»Ich bin nur so begeistert, weil ich keine Ahnung hatte, dass man in Kuchen Zucchini geben kann«, offenbarte er uns. »Das ist eine vollkommen neue Erfahrung für mich. Zucchini in Kuchen. Ist das nicht toll? Dass es so was gibt?«
Ich starrte nur auf Großmutter, fragte mich, ob ich sie zum Erbrechen bringen sollte oder nicht.
»Aber die Anneliese Meier kann. Sie kann aus Zucchini leckere Kuchen machen«, sagte er begeistert.
»Der Kuchen ist von Anneliese?«, fragte ich und griff nun auch zu. Wieso sagte er das nicht gleich? So ein Depp.
»Zucchini. Im Kuchen. Ist das nicht toll?«, wiederholte er sich und sah mir fassungslos zu, wie ich mir ein halbes Stück auf einmal in den Mund schob.
»Und Ihre Allergie, Frau Wild?«, fragte er höflich.
»Es gibt keine Zucchiniallergien. Hat Großmutter gesagt«, antwortete ich mit vollem Mund.
Zucchini im Kuchen. Echt, der blöde Rosenmüller, der blöde. Es gab auch Kartoffeln in Kuchen, Kürbis in Kuchen und Karotten in Kuchen. Es gab sogar Hackfleischkuchen. Der Zucchinikuchen von Anneliese schmeckte echt lecker. Das wusste ich von meinem Kuchen nicht. Ich hatte ihn vorsorglich nicht probiert, damit ich mich nicht schämen musste. Ich erinnerte mich wieder an meine Mission und lächelte den Rosenmüller brav an.
»Schon schlimm. Mit dem Ernsdorfer, gell?«
Er nickte pastoral.
Resi blieb neben mir stehen und sah mir zu, wie ich die Tupperschüssel abstellte. Der Rosenmüller hatte es plötzlich ziemlich eilig, zum Nächsten zu eilen und dort pastorale Worte zu sprechen. Diese damische Resi, die damische. Wahrscheinlich hatte er nur keine Lust, sich ihre ganzen Symptome anzuhören – und ich konnte wieder schauen, wie ich weiterermittelte.
»Stell dir vor …«, sagte die Resi.
»Dein Papa?«, kam es mir einfach über die Lippen. Mist. Das hatte ich eigentlich gar nicht sagen wollen.
Sie hob misstrauisch die Augenbrauen. »Der hat verlängert«, sagte sie.
»Noch eine Woche Bahamas also?« Ich nickte begeistert, nicht dass sie mir auf die Schliche kam.
»Gran Canaria«, sagte meine Großmutter neben mir.
»Mallorca«, verbesserte die Resi uns.
»Die Bärbel hat g’meint, er ist auf Hawaii. Hab ich doch glei g’wusst, dass des ned stimmt«, triumphierte Großmutter, als hätte sie es besser gewusst.
»Ja, da hat er so ein günstiges Hotel«, erklärte Resi bedeutungsschwanger und schob schnell hinterher: »Ich fühl’ mich heut’ ganz komisch«, wobei sie etwas eigenartig den Tisch entlangschielte.
»Ja, ja, das Wetter«, antwortete ich in dem prophetischen Tonfall, in dem meine Großmutter immer sprach, wenn ihr jemand Krankheitssymptome schilderte.
»Wetter«, schnaubte Resi, sah mich aber immer noch nicht an. »Vielleicht hab ich mich ja ang’steckt.«
Ich wich einen halben Schritt nach hinten aus und nickte vorsichtshalber. Was für ein fadenscheiniges Ablenkungsmanöver! Nur damit ich nicht weiterbohrte, was denn ihr Vater so lange auf Mallorca machte.
»Ja, das passiert leicht, bei dem Wetter«, stimmte ich zu und sah mich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Ich würde nie ermitteln können, wenn das so weiterging. Stattdessen würde ich einmal mehr über sämtliche Krankheiten der Resi besser Bescheid wissen, als für mich zuträglich war.
»Der Rosenmüller …«, wisperte Resi und kam den halben Schritt wieder auf mich zu. »Meinst, ob des ansteckend ist?«
Was? Die Riemchensandalen? Ich schielte zu ihm hinüber, ob er sehr extravagant gekleidet war, aber er trug heute eine ganz normale Stoffhose und ein neutrales T-Shirt.
»Hm«, sagte ich nur.
»Wenn er schwul ist. Und ich mich ansteck«, sagte die Resi und beugte sich noch weiter vor. »Da gibt’s doch keine Medizin für so was.«
»Hm«, meinte ich mit einem Hauch Verzweiflung. Oh. Oh.
»Aber ich spür’s schon«, wisperte Resi geheimnisvoll und kam noch einen Schritt näher in meine Richtung.
Um Gottes willen. Sie würde doch nicht über mich herfallen, nur weil sie dachte, dass sie jetzt homosexuell war und sich eine Freundin suchen musste?
»Das ist nicht ansteckend«, krächzte ich verlegen. »Ganz sicher nicht.«
»Aber ich spür da was«, sagte sie und zeigte auf einen Punkt unterhalb ihrer rechten Rippen. »Das juckt so. Wie Ausschlag.«
Das klang natürlich eindeutig nach Homosexualität.
»Da musst dich nur g’scheit waschen und pudern«, trompetete Großmutter neben mir und warf Resi einen unwirschen Blick zu. Resi wurde rot und kniff die Lippen zusammen. »Da, wo des Fett scheuert, da juckt’s leicht. Und wenn man sich in den Falten nicht wäscht, da kriegst richtig offene Stellen. Da fault’s und stinkt’s dann.«
Ohne einen Gruß rannte die Resi in die andere Richtung davon. Ich versuchte ebenfalls, mich in Luft aufzulösen.
»Die Resi. Die hat’s nimmer alle«, behauptete Großmutter und griff nach meinem Zitronenkuchen.
»Wer hat denn den g’macht? Die hat ja g’scheit am Zucker g’spart.«
Jetzt wurde ich rot. »Das ist meiner«, wisperte ich und hätte am liebsten den Deckel wieder auf die Dose geknallt.
»So viel Zucker ist eh ung’sund«, fuhr Großmutter ungerührt fort. »Hast recht. Die sind ohnehin alle viel zu dick. Brauchst doch nur schauen, was die Resi für Krautstampfer übern Winter kriegt hat.«
Die Resi drehte sich noch einmal beleidigt um, und auch die Langsdorferin sah nicht sehr nett in unsere Richtung. Dass Großmutter das mit dem Flüstern nicht beherrschte. Das war einfach furchtbar.
Zu meiner größten Zufriedenheit entdeckte ich Max auf unserer klerikalen Party. Ich winkte ihm sehr damenhaft zu und gab mir Mühe, mich ziemlich rücksichtslos zu ihm durchzukämpfen.
»Hi«, strahlte ich ihn an. Nur für den Fall, dass seine erste Frage lautete: Zu dir oder zu mir? Aber Max stellte mir keine Frage, sondern legte mir den Arm um die Schulter.
»Gibt’s was Neues?«
Er verdrehte die Augen. »Wenn du mir die heutige Standardfrage stellen willst: Nein, wir haben ihn noch nicht. Wir wissen weder, wer der Mörder, noch, wer das Opfer ist.«
Ah ja. Er war also schon diversen Katholiken in die Arme gelaufen. Ich betrachtete ihn trotzdem misstrauisch, denn er sah aus, als hätte er vor, bestimmte ungeklärte Fragen zu lösen.
»Nein, wollte ich gar nicht fragen«, log ich, obwohl es mich brennend interessierte, wieso er hier war. Es musste einfach dienstlich sein, er kam nie freiwillig mit, wenn wir uns alle gerade einbrachten. »Ich habe kalorienarmen Zitronenkuchen gebacken«, erzählte ich und beobachtete misstrauisch, wie er seine Augen über die Gäste schweifen ließ und mich nicht weiter beachtete. Ich folgte seinem Blick und erkannte die Stefanie.
Ha.
Stefanie Müller. Schon wieder. Und jetzt, wo sie dieses eintätowierte Arschgeweih hatte, wirkte sie auch um drei Jahre älter. Um es mal beim Namen zu nennen. Vielleicht war es auch nicht eintätowiert. Vielleicht war es ja nur ein Tattoo, das nach einer Weile ausgebleicht war oder abgewaschen oder abgeblättert, dachte ich gehässig. Sie hatte sogar einen Badeanzug mit einem Arschgeweih hinten drauf – und wenn es so weiterging, bald auch auf ihrem ersten Auto eins auf der Heckscheibe, das sah ganz toll aus.
Manchmal musste man sich arg beherrschen, um seinen Partner nicht zu schlagen. Was war an so etwas bitte schön erotisch? Das war hässlich, abstoßend, und … wenn man älter wurde, dann fing es an zu runzeln, Falten zu werfen und unförmig zu werden.
Ha.
Das gab mir wieder Aufschwung. Mein Hintern würde ganz unbemerkt runzeln, hängen und Falten werfen. Denn dieses Zeug bekam man bestimmt nicht mehr rausgelasert. Ein Auto konnte man auf den Schrottplatz fahren, mitsamt dem Heckscheiben-Arschgeweih, und den Badeanzug in den Mülleimer werfen. Aber die eigene Haut?
Meine Laune besserte sich leider nicht entscheidend. Schließlich sah Max ihr jetzt auf den Hintern und nicht in hundert Jahren.
»Was ist?«, fragte er neben mir.
»Was soll schon sein«, antwortete ich düster. »Ich werde mir jedenfalls nicht den Hintern tätowieren lassen.«
Er grinste und tätschelte meinen untätowierten Hintern.
»Was gibt’s da zu grinsen?«, fragte ich böse nach. »Was stimmt an meinem Hintern nicht?«
»Ich stelle mir nur eben vor, lauter Herzchen auf deiner rechten …« Ich brachte ihn mit einem schmerzhaften Stoß in die Rippen zum Schweigen. Was sollte das überhaupt heißen? Lauter Herzchen? Das sprach ja nicht gerade für die Größe meines Hinterteils, wenn Max meinte, man könnte gleich eine ganze Reihe von Herzchen darauf tätowieren.
»Aber das Tattoo von der Stefanie, das gefällt dir«, sagte ich zornig. »Gib’s ruhig zu.«
Er sah aus, als würde er jetzt lieber nichts zugeben, aber er grinste noch immer.
»Rein berufliches Interesse«, sagte er schließlich.
»Beruflich? Das nennst du beruflich? Was hat Stefanies Hintern mit deinem Beruf zu tun?«, hakte ich unerbittlich nach.
Er schenkte mir ein spöttisches Lächeln.
»Dienstgeheimnis. Wage es ja nicht, Dienstgeheimnis zu sagen.«
Er sagte gar nichts, wahrscheinlich aus Angst, dass ich etwas Potenzschädigendes unternehmen könnte. Sein Interesse an jungem knackigem Gemüse war eine Zumutung. Ehrlich. Man sollte sich so etwas als Frau nicht bieten lassen. Frauen auf den Hintern zu schauen war überhaupt nicht dienstlich, höchstens man war Arzt, und die Frau hatte Hämorrhoiden.
Bevor ich ihm den Ellenbogen unauffällig in die Seite rammen konnte, zog mich Max plötzlich weiter. Er hatte anscheinend jemanden gesehen, mit dem er unbedingt in meinem Beisein sprechen wollte. Falls es sich um die Stefanie handelte, würde ich die nächsten zwei Wochen nicht mit ihm ins Bett gehen, beschloss ich. Na ja. Oder zumindest nicht vor heute Abend.
Aber es war gar nicht die Stefanie, sondern die alte Ernsdorferin. Huhh.
»Zehn Mal am Tag hat er das gefragt«, sagte die Ernsdorferin mit bitterer Miene. »Zehn Mal am Tag. Dabei hat er die Hadernbuarg selber herg’schenkt.«
Max sah mich sehr intergalaktisch an.
»Wer macht denn des, hab ich ihn g’fragt. Da drin schlafen. Ich bin doch kein Zigang ned.«
Ich formte mit den Lippen das Wort Zigeuner, aber Max verstand wie üblich gar nichts. Ich kämpfte schwer damit, nicht zu grinsen.
»Dann hat man’s ihm erklärt, immer wieder. Des hast doch herg’schenkt, erinnerst dich nimmer? Is doch schon zehn Jahr her. Hast doch selber g’sagt, des brauch ma nimmer. Und nach zehn Minuten kommt er wieder und fragt danach.« Sie sah mich an, als würde ich mir das Grinsen verkneifen. »Da könntst narrisch werden.«
Ich nickte zwar ernsthaft, aber der Gedanke, dass Max noch immer darüber nachdachte, wovon die Rede war, brachte mich fast zum Platzen.
»Zehn Mal am Tag, mindestens. Als hättn wir des greißliche Klump je herg’nommen.«
Max sah nicht so aus, als würde er irgendetwas verstehen, und seinem leichten Zupfen an meinem Arm nach wollte er auch dringend weitergehen.
»War das ermittlungstechnisch wichtig?«, fragte ich neugierig nach.
»Hadernbuarg?«, fragte Max stattdessen, als wir ein paar Schritte weiter waren.
»Lappenburg«, sagte ich besonders akzentuiert und prustete dabei sehr unschicklich los. »Er hätte gerne in seiner Lappenburg geschlafen.«
Max warf mir einen strafenden Blick zu.
»Er wollte in einer Lappenburg schlafen?«, bohrte Max nach und kniff mich in den Oberarm. »Sei doch mal ernst …«
Ich konnte einfach nicht mehr ernst sein. Einen Kommissar, der kein Wort Bayerisch verstand, auf die bayerische Bevölkerung loszulassen konnte doch nur schiefgehen.
»Mit Hadernburg meint sie ein Zelt.« Das war jetzt zwar kein Begriff, den man kennen musste, aber ich hatte sofort verstanden, was sie damit meinte. Ich konnte mich kaum mehr beruhigen, so sehr musste ich lachen. Wenn man sich das einmal vorstellte. Wie der alte Ernsdorfer jeden Tag nach seiner »Hadernburg« suchte. Die er schon vor Jahren hergeschenkt hatte. Na gut. So richtig witzig war das nicht, vermutlich hatte ich nur zu wenig geschlafen in letzter Zeit.
»Vielleicht wollte er zum Zelteln gehen«, schlug ich schließlich nach Luft ringend vor.
»Hodanbuarg«, gab Max in einer so seltsamen Aussprache von sich, dass ich schon wieder hemmungslos kichern musste. Das bayerische O bekam Max einfach nicht hin.
Als ich an Max’ Arm hängend wieder aufsah, sah ich Anneliese auf mich zusteuern. Oh, oh. Das war gar nicht gut. Bevor ich Max den Ellbogen in die Rippen rammen konnte, hatte sie uns dummerweise schon erreicht.
Nein. Nein. Nein.
Ich wollte nichts wissen. Vor allen Dingen nichts über die Spermienqualität ihres Mannes. Und außerdem sah ich die Möglichkeit, den Rosenmüller auszuhorchen, immer mehr in weite Ferne rutschen.
»Dein Zucchinikuchen ist echt gut. Der Rosenmüller war hin und weg, dass man aus grünem Zeug was backen kann«, sagte ich schnell, um so weit wie möglich vom Herzelthema wegzukommen.
»Hm«, sagte sie nur und versuchte, mir nonverbale Botschaften zu übermitteln.
Nein, das würde ich nicht verstehen. Womöglich erzählte sie mir noch, wie sich ihr Mann bei dem Spermatest abgemüht hatte. Ohne mich. Da blieb ich doch lieber beim Thema Kuchen.
»Ich lass euch mal ein bisschen reden«, sagte Max, der die nonverbale Attacke auch verstanden hatte, galant. Er schien es unglaublich eilig zu haben, ohne mich weiterzugehen.
»Lass nur. Wir können morgen telefonieren«, sagte ich und krallte mich an Max’ Arm. Dass Männer auch immer dann ungeahnte Fähigkeiten entwickelten, nonverbale Kommunikation zu verstehen, wenn man es gar nicht brauchen konnte.
»Nein, nein, macht ihr nur«, sagte Max und bog meine Finger von seinem Arm.
Das würde er mir büßen.
»Weißt du, wie das mit dem Zervixschleim ist?«, fragte mich Anneliese, als Max außer Hörweite war. Ich hatte es gewusst. Ich hätte mich doch in den Arm von Max verkrallen sollen und mich nicht abschütteln lassen. »Kann der auch klar und spinnbar sein, wenn man kurz davor ist, seine Periode zu kriegen?«
Ich versuchte nicht zu würgen. Langsam nahm das Dimensionen wie bei der Resi an.
Igitt.
»Frag mich doch so was nicht«, wich ich aus und verfolgte mit meinen Blicken Max. War er schon wieder auf der Suche nach der Stefanie? Allmählich nahm das Formen an, die ich nicht tolerieren konnte.
»Wieso? Kontrollierst du den nie?«, fragte sie neugierig nach.
Meine Güte. Ich würde mich hüten, irgendwelchen Schleim anzusehen. Oder noch schlimmer, ihn anzufassen. Ich schüttelte angewidert den Kopf.
Max sah irgendwie aus, als würde er ganz speziell jemanden suchen. Ich versuchte, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Was hatte er nur schon wieder im Sinn? Ich musste einen Schritt zur Seite gehen, weil mir gerade die Langsdorferin ihr Gehwagerl in die Kniekehlen schob.
»Hast des schon g’hört?«, sagte sie eben hinter mir zu jemandem, den ich nicht sehen konnte. »Den Ernsdorfer ham’s immer noch ned g’funden. Und jetzt will die Polizei des Zimmer vom Ernsdorfer durchsuchen, vielleicht finden’s einen Abschiedsbrief oder so.«
»Der hat doch schon gar nimmer schreiben können«, sagte die Rosl. »Des glaubst doch nicht, was die Polizei für einen Schmarrn ermittelt. Abschiedsbriefe suchen. Und wir zahlen’s wieder.«
Na toll. Schon wieder wusste das halbe Dorf mehr als ich. Wenn nicht gleich das ganze Dorf. Irgendwann musste ich wirklich mit Max ein ernstes Wort reden.
»Den Ernsdorfers bleibt aber auch wirklich nix derspart«, pflichtete die Langsdorferin bei, und dann fiel ich fast auf Anneliese, weil mich die Langsdorferin wie ein Bulldozer zur Seite schob.
»Pass halt a bisserl auf«, empfahl sie mir, dann verschwand sie in der Menge.
»Tschuldigung«, sagte ich mürrisch zu Anneliese. Vielleicht sollte ich ihr einfach sagen, dass ich rein ermittlungstechnisch jetzt mal mit dem Rosenmüller plaudern musste und mir den ganzen schleimigen Unsinn nicht anhören konnte.
»Passt schon«, antwortete Anneliese und seufzte. »Jetzt sind wir schon im vierten ÜZ. Ich versteh des gar ned.«
»ÜZ?« Ein Überraschungszwerg? »Was ist denn das?«
»Übungszyklus«, erklärte Anneliese.
Max blieb bei der Ernsdorferin stehen und begann eine Unterhaltung. Sie lächelte ihn freudig an. Ich spitzte die Ohren, aber ich konnte natürlich gar nichts verstehen. Wahrscheinlich befragte er sie jetzt wegen eines Abschiedsbriefs. Die Polizei hatte echt nix Besseres zu tun. Oder aber sie dachten inzwischen tatsächlich ernsthaft an Mord. Scharfrichter gibt ihm’s Busserl, dachte ich mit Schauder. Vielleicht war es den Ernsdorfers ja wirklich zu viel geworden. Vielleicht hatte er angefangen, Kot an die Wände zu schmieren. Da konnte ich mir zum Beispiel sehr gut vorstellen, dass die junge Ernsdorferin gesagt hatte, jetzt reicht’s, das mach ich nicht mehr mit.
»Übungszyklus«, wiederholte Anneliese, da ich anscheinend seltsam geguckt hatte.
»Und was übt ihr da?«, fragte ich etwas blöde, weil ich in Wirklichkeit damit beschäftigt war, Max zu beobachten.
»Mann, Lisa. Fragen stellst du«, antwortete Anneliese kopfschüttelnd. »Kindermachen.«
Das Herzeln natürlich. Ich versuchte wirklich, mich auf Anneliese zu konzentrieren, aber Max wirkte heute so zielstrebig. Er war mich auch ganz schön zielstrebig losgeworden.
Anneliese grinste. »Willst nicht auch eines?«
Von ihrem Mann? Um Gottes willen.
»Der Max, der hat doch bestimmt ernste Absichten.«
Beim Kindermachen war er wirklich voll bei der Sache. Übungsmäßig waren wir jedenfalls nicht schlecht – insofern hatten auch wir schon ein paar Übungszyklen in der Tasche. Aber das Wort »feste Beziehung« hatte von uns noch keiner in den Mund genommen. Obwohl, sein ständiges »Komm doch mit zu Tante Vega« war irgendwie schon verdächtig. Und lästig.
»So ernst ist das auch wieder nicht«, sagte ich entsetzt. Also ehrlich. Ein Kind! Meine Großmutter war viel zu alt, um noch ein Kind großzuziehen!
»So?« Anneliese runzelte die Stirn. Sie schien gedanklich wieder bei ihren eigenen ÜZs angelangt zu sein.
Max ging weiter und kam beim Ernsdorfer »Papa« zum Stehen. Der Ernsdorfer sah ziemlich schlecht aus. Er bekam rote Flecken im Gesicht und wirkte ziemlich weinerlich. Na ja. War ja auch schlimm, wenn der eigene Vater im Wald herumirrte, bloß weil man ihm keine Brille gekauft hatte.
»Die Menge von dem Ejakulat würde ja passen. So vier Milliliter«, sagte Anneliese nachdenklich. »Aber weißt du, wie viele Spermien manche Männer in einem Milliliter haben? Einhundertfünfzig Millionen!«
Mir fehlten die Worte. Als Max sich umdrehte, hatte er noch immer sein beruhigendes Small-Talk-Lächeln im Gesicht. Er sah sehr entspannt aus, als hege er keinerlei böse Absichten. Aber ich wusste, dass der Schein trog. So sah er nämlich aus, wenn er eine Spur hatte und nichts preisgeben wollte.
»Jetzt sollen wir nur alle zwei bis drei Tage herzeln«, sagte Anneliese düster, »dass mehr Spermien drin sind.«
»Und die Spermiogramme«, fügte sie hinzu, »sag ihm das bloß nicht. Da sind die Ergebnisse schon da.«
Nicht einmal in meinen schlimmsten Albträumen wäre ich auf die Idee gekommen, mich mit ihrem Mann über seine Spermiogramme zu unterhalten. Was dachte Anneliese überhaupt von mir? Ich unterhielt mich ja nicht einmal mit Max über seine Spermien.
»Er hat nur neun Millionen«, sagte sie düster.
Na, das sollte doch reichen, dachte ich nicht minder düster.
»Was ist?«, fragte sie mich etwas ärgerlich. Ich sah anscheinend schon grün um die Nase aus.
»Na ja. Ich dachte immer, dass ein Spermium reicht«, brachte ich hervor.
»Ha«, sagte Anneliese böse, »das reicht nicht. Wenn er neun Millionen gute Spermien hätte. Aber von seinen sind nur sechs Prozent normal. Der Rest ist tot, Kreisschwimmer oder Blindschleichen.«
»Blindschleichen?«, echote ich verständnislos.
»Na ja, zu langsam eben.«
»Ah«, machte ich nur und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit.
»Nur drei Prozent davon sind schnell. Verstehst du, wie soll das klappen?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Zwei Kinder reichen doch auch«, schlug ich hilfsbereit vor. »Erst vor Kurzem hatten sie doch alle Brechdurchfall. Stell dir das doch mal vor, bei drei Kindern. Da rennst du ja nur noch mit dem Eimer.«
Sie warf mir einen bösen Blick zu.
Außerdem, aber das wollte ich ihr nicht schon wieder sagen, was machte sie, wenn das dritte Kind ganz anders aussah als die ersten zwei? Das war doch bestimmt verdächtig ohne Ende!
Ich wollte einfach nichts mehr über trockene Scheidenflora hören. Wieso konnte das keiner verstehen? Sah ich so aus, als würde mich das interessieren?
Ich hatte Max wegen der blöden Spermien aus den Augen verloren. Anneliese sagte nichts mehr, und ich ließ meinen Blick über die Rosenkranztanten schweifen, in der Hoffnung, Max zu entdecken. War er schon geflüchtet? Die Ernsdorfers standen zusammen und sahen irrsinnig beunruhigt aus.
Plötzlich entdeckte ich ihn. Er stand mit dem Rücken zu mir und schien sich mit jemandem zu unterhalten, der deutlich kleiner war als er selbst. Ich ging einen kleinen Schritt nach rechts, um zu sehen, wer es war, aber ich konnte nichts erkennen. Da trat Max einen Schritt zur Seite und ließ die Langsdorferin mit dem Gehwagerl durch.
Stefanie. Er unterhielt sich mit der Stefanie! Ich vergaß sofort die Blicke der Ernsdorfers.
»Vielleicht«, sagte Anneliese plötzlich, da sie meinen alarmierten Blick nicht bemerkt hatte, »vielleicht sollte ich es wirklich aufgeben. Denn was mache ich, wenn es gar nicht klappt? Dann macht sich mein Mann Gedanken, geht zum Arzt, und der sagt zu ihm, also, die anderen Kinder, die können unmöglich von Ihnen …«
Stefanie lachte und fuhr sich mit der Hand durch die wallenden Haare. Bestimmt blinkerte sie mit den Augen. Das sah man zwar nicht, aber ich konnte es mir gut vorstellen. Ich fuhr zusammen, als Anneliese mich anstupste. Leider hatte ich nicht mitgekriegt, was sie als Letztes gesagt hatte.
»Und was tu ich dann?«, fragte Anneliese, mit einem plötzlich entsetzten Gesichtsausdruck.
»Ja, hm«, fiel mir spontan dazu ein.
Bevor ich mich in Widersprüche verstricken konnte, blieb glücklicherweise der Rosenmüller neben uns stehen. Er strahlte uns an und schüttelte Anneliese begeistert die Hand.
»Schön, dass Sie Zeit gefunden haben zu kommen.«
Anneliese strahlte auch. Jetzt war meine Chance gekommen! Mein Hals wurde plötzlich total trocken, und ich ärgerte mich, dass ich mir nicht schon vorher Fragen überlegt hatte. Ich musste unbedingt auf den Ernsdorfer zu sprechen kommen.
»Wo es doch gar nicht so einfach ist, in letzter Zeit«, zwang ich mich zu sagen. »Seit der Ernsdorfer weg ist.«
Anneliese sah mich erstaunt an.
»Na ja«, verteidigte ich meine Aussage, »ständig muss man ihn suchen. Oder Rosenkränze beten.«
Anneliese verdrehte gehörig die Augen. Der Rosenmüller nahm jetzt meine Hand und tätschelte sie: »Ja, uns hat das alle sehr mitgenommen«, bestätigte er und lächelte mich voller Güte an. »Und für manche ist es schwieriger, wieder in den Alltag zu finden, als für andere.«
Tja, für ihn zum Beispiel. Bestimmt war es irrsinnig schwierig, wieder in den Alltag zu finden, wenn man jemanden zerstückelt in diversen Nachbarsmülltonnen entsorgt hatte. Ich sah ihn erwartungsfroh an, aber er bot mir weiterhin sein pastorales Lächeln. Mir fiel keine Frage mehr ein. Solange er meine Hand hielt, konnte ich eigentlich nur daran denken, was er vor Kurzem mit diesen Händen gemacht hatte.
»Ja, der Ernsdorfer«, sagte neben mir eine weinerliche Stimme.
Der Loisl. Dass der sich auf dem Pfarrfest zeigte – da gab es doch überhaupt keinen Alkohol.
»Des is so alles ned richtig«, jammerte er neben mir. »Des g’hört sich ned. Aber …« Er rückte etwas näher an mich heran, und ich wich unauffällig etwas nach hinten aus, sodass der Loisl, statt mich anzuhauchen, in Richtung Rosenmüller redete.
Auch der Rosenmüller sah nicht besonders glücklich aus, und sein strahlendes Gemeindelächeln wirkte etwas gequält. »Aber was hätt ich denn damals …«, machte der Loisl weiter und runzelte verwirrt die Stirn, weil rechts und links neben ihm wie aus dem Nichts der Kreiter und der Troidl auftauchten. »Was hätt ich damals …«, fing er noch einmal an.
»Mei, Lois. Dass ich dich amal wieder seh«, sagte der Kreiter mit einer angestrengt jovialen Miene. »Schaug, hab i mir denkt, der Lois. Den hast doch schon ewig nimmer g’sehn.«
Ich starrte den Kreiter mit offenem Mund an. Kein Mensch dachte beim Loisl, dass er ihn schon ewig nicht mehr gesehen hatte. Den Loisl sah man jeden Tag irgendwo. Wenn nicht irgendwo, dann in unserem schiefen Kreisel. Vielleicht gab es hin und wieder einen regnerischen Tag, wo der Loisl mit seinem Kasten Bier zu Hause blieb.
Der Loisl schien auch ziemlich verblüfft zu sein.
»Vergiss dei Red ned«, sagte der Troidl ebenfalls freundlicher, als ich ihn je erlebt hatte. »Aber ich wollt scho länger mit dir amal red’n.«
Der Kreiter legte dem Loisl den Arm um die Schulter. »Wollten wir ned letztens zum Schmalzl? Da müss’ ma doch glatt aneinander vorbeig’rennt sei.«
Bevor der Loisl noch einmal den Mund aufmachen konnte, hatten die zwei schon zusammen mit ihm abgedreht und gingen Richtung Ausgang. Auch der Rosenmüller sah den dreien ziemlich verblüfft nach.
»Ja, so eine Männerfreundschaft«, sagte er und strahlte wieder. »Noch eine schöne Unterhaltung.« Damit verschwand er wieder in der Menge.
Mist.
Anneliese verdrehte die Augen Richtung Himmel, dann erzählte sie mir noch von ihrer Schwiegermutter. Ich hörte ihr gar nicht erst zu. Denn ich versuchte mich fieberhaft daran zu erinnern, was der Loisl uns hatte sagen wollen. Irgendetwas war nicht richtig. Aber was? Dass man den Ernsdorfer einfach ermordet hatte? Dass ihm die Ernsdorfers keine neue Brille gekauft hatten? Der Kreiter und der Troidl hatten es jedenfalls sehr eilig gehabt, den Saal zusammen mit dem Loisl zu verlassen. Und das hatte garantiert nicht daran gelegen, dass sie so tolle Spezln vom Loisl waren.
Neben mir tauchte Großmutter mit unserem Hund auf. »Der heult draußen so, die Resi hat sich schon beschwert«, sagte sie und drückte mir die Leine in die Hand. »Und ich kann den nicht halten. Ständig will er zum Kuchenbüfett.«
Na prima.
»Ich hab ja gleich gesagt, lassen wir ihn daheim«, murrte ich und nahm die Leine. Mein Hund sah mich treuherzig an.
»Dass er mir das Sofa ruiniert«, sagte Großmutter nur und verschwand wieder in der Menge.
Anneliese machte übergangslos mit ihrer Schwiegermutter weiter, und ich versank noch tiefer in düstere Ernsdorfer-Gedanken.
»Und wenn es nun doch Mord war?«, fragte ich schließlich, und Anneliese sah mich an, als wäre ich vom Mond. Anscheinend war die Überleitung vom Thema aufdringliche Schwiegermutter zu Mord etwas eigenartig ausgefallen.
»Die Ernsdorfers haben doch ihren Opa nicht umgebracht.«
»Wieso durchsucht dann die Polizei das Zimmer vom alten Ernsdorfer?«, fragte ich nach. »Das könnten sie sich ja dann auch sparen.«
»Vielleicht …« Anneliese runzelte die Stirn. »Na ja, die werden halt einen Abschiedsbrief suchen.«
Herrje. Als könnten das die Ernsdorfers nicht ganz alleine. Mein nächstes Projekt war auf jeden Fall, die Alibis der Ernsdorfers zu überprüfen.
»Die haben bestimmt kein Alibi«, prophezeite ich. Der alten Ernsdorferin traute ich alles zu. Sogar, dass sie mich niederstreckte, um den Mord an ihrem Mann zu verheimlichen.
»Schmarrn. Natürlich ham s’ des«, widersprach Anneliese. »Des hat der Max auch schon überprüft. Da waren s’ richtig stinkert, danach. Echt, die Ernsdorfers überprüfen. Wo er doch Bürgermeister war.«
Das wird halt jemand gewesen sein, der lügt wie gedruckt, der denen ein Alibi gegeben hat, dachte ich mir mit der Stimme von der Rosl. Ein normaler Mensch hatte doch nicht einfach so ein Alibi, wenn er es nicht gekauft hatte.
»Und woher weißt du das schon wieder?«, fragte ich mürrisch.
»Weil meine Schwiegermama g’meint hat, mei, die Ernsdorferin, die ist schon g’straft. Erst haut der alte Papa ab, und dann tut die Polizei noch so komisch.«
Selbst die Schwiegermama von Anneliese war besser informiert als ich. Es war wirklich schlimm.
»Und, wo waren sie?«, bohrte ich nach. Vielleicht bei einer Dinnerparty vom Loisl, dachte ich gehässig. Für ein Tragl Bier würde der sogar bezeugen, dass die alte Ernsdorferin bei ihm zu Hause gespeist hatte.
»Bei meiner Schwiegermama«, sagte Anneliese begeistert. »Der Schwiegerpapa ist doch siebzig g’worden. Und da hat die Schwiegermama gesagt, da lassen wir uns nicht lumpen, da laden wir sogar die Ernsdorfers ein.«
Ich starrte sie entgeistert an. Kein Mensch kam auf so eine abgefahrene Idee, mit der »alten Wetterhexe« Ernsdorferin seine Party zu bereichern.
»Und da hat sie die ganzen Ernsdorfers eingeladen?«, fragte ich fassungslos.
»Nein, nur die Alte und den Ernsdorfer Papa und seine Frau. Der Klaus, der konnte nicht mit, weil der eine andere Einladung hatte.«
Der hatte sozusagen sein eigenes Alibi.
»Ach. Und der alte Ernsdorfer durfte nicht mit?«, fragte ich düster.
»Freilich nicht. Der ist doch total zwiert«, erklärte sie mir und machte dabei mit dem Finger am Kopf eine Bewegung, die zeigen sollte, wie stark er schon verwirrt war. »Den kannst einfach nirgends mehr mit hinnehmen.« Sie kam etwas näher heran und senkte die Stimme. »Die hatten die Wohnung ja total verrammelt, dass er nicht wegkann. Und, stell dir vor« – sie sah über ihre Schulter, ob wir belauscht wurden –, »die hatten sogar ein Babyfon dabei.«
Ich sah sie vollkommen verständnislos an. »Hat der Klaus schon ein Kind?«
»Schmarrn. Des hatten die doch nur dabei, damit sie hören, was der Opa gerade macht.«
Ich machte wortlos den Mund auf, dann aber wieder zu, ohne dass ich dazu etwas sagen konnte. Oje. Das hörte sich ja furchtbar an. Allein die Vorstellung, dass die ganze Geburtstagsgesellschaft jede Regung vom alten Ernsdorfer mitverfolgt hatte, als Bereicherung der Party gewissermaßen. Das war aus Datenschutzgründen bestimmt verboten.
»Und die Ernsdorferin hat immer wieder gesagt, mei, gut, dass er schlaft, sonst müsst jetzt einer heim«, erzählte die Anneliese begeistert. »Dann hätten sie nämlich alle heimgemusst. Weil die alte Ernsdorferin kann nicht Auto fahren, und der Ernsdorfer Papa hatte schon vor dem Essen so viel gesoffen, dass er eine rote Birne hatte. Da hätte dann die Schwiegertochter heimfahren müssen.«
Der Ernsdorfer trank. Eigentlich wunderte mich das nicht, bei der Frau. Und der Mutter.
»Meine Schwiegermama hat gesagt, mei, der Ernsdorfer, eine Partynudel ist der nicht.«
Das hätte ich ihr schon vorher sagen können. Mein Hund zerrte schon wieder Richtung Kuchenbüfett. Das nächste Mal würde ich ihn zu Hause lassen. Das scheußliche Sofa, das er zu Hause zerlegen konnte, war die Sache wert.
»Und danach war er weg«, schloss Anneliese zufrieden ihren Bericht ab. »Weg, wie’s Würstl vom Kraut.«
»Dann warst du auch mit dabei?«, fragte ich nach.
»Ja freilich. Oder meinst, ich kann daheimbleiben, wenn die den Siebzigsten feiern?«
Natürlich nicht.
»Da müsste ich schon die Speiberei haben«, erklärte Anneliese sachlich.
»Dann habt ihr also alles live mitgehört?«, fragte ich. Den Mord. Oder das Abhauen. Oder was auch immer. Anneliese war echt eine dumme Kuh. Das hätte sie mir doch schon längst alles erzählen können.
»Nein, leider«, seufzte Anneliese. Ihre Stimme klang, als hätte das den ganzen langweiligen Geburtstag herausgerissen. »Ich hab ständig gehorcht, aber man hat gar nichts gehört.« Sie sah mich entschuldigend an. »Na ja, hätt ja sein können, dass man was Interessantes hört. Was den Ernsdorfers total peinlich ist.«
Ja, das wäre super gewesen.
»Aber irgendwie muss der Empfang gestört gewesen sein.«
Wie praktisch, dachte ich mir.
Wir blieben nicht mehr lange. Das lag aber nicht an Max oder der Stefanie und auch nicht an Großmutter, sondern ausnahmsweise an meinem Hund. Er hatte nämlich die Angewohnheit, alles möglichst schnell zu fressen. Das war ein Relikt aus der grauen Vorzeit, als noch andere Rudelmitglieder einem das Fressen streitig machten. Da musste man einfach schnell sein, durfte nicht schwächeln oder genießen, sondern einfach rein mit dem Zeug, bis nichts mehr ging. Das Problem dabei war nur, dass es ihm dann manchmal zu viel wurde. Und dann kotzte er einem alles wieder vor die Füße. Kein Grund zur Panik, denn meistens fraß er das dann rückstandsfrei wieder auf. Aber erst einmal sah es ziemlich ekelig aus. Jedenfalls fanden die anderen, dass die Mischung aus Zucchinikuchen und Rosls Spezialschnittchen so ekelig aussah, egal, ob mein Hund es dann wieder fraß oder nicht, dass wir die Feierlichkeiten lieber vorzeitig beendeten und nach Hause gingen.
Großmutter schimpfte am ganzen Nachhauseweg über die Ernsdorferin senior. Die hatte sich nämlich in Schale geworfen mit ihrer Stahlbürstendauerwelle und sich besonders erbost, nachdem ihr unser Hund vor die Füße gekotzt hatte.
»Das ist eine Brut«, echauffierte sich Großmutter hin und wieder. »Nie die Kirche putzen, aber meckern, wenn’s einem Hund schlecht wird.«
Max hatte anscheinend genügend geflirtet, denn er ging ganz entspannt neben Großmutter und grinste breit. Ich bedachte ihn mit biestigen Blicken, wobei ich genau wusste, dass er das nicht mitkriegen würde.
»Die ist genauso wie ihre Schwiegertochter. Nichts als putzen, putzen, putzen. Aber ins Wohnzimmer darf keiner, damit es schön sauber bleibt«, motterte Großmutter weiter. Ausgerechnet Großmutter. Wir gingen auch nie ins Wohnzimmer, um die guten Sessel zu schonen und keine Brösel zu verbreiten. Wegen der Silberfischln, die dann das Haus bis auf die Fundamente zerstörten.
»Und zum Händewaschen muss der Ernsdorfer in den Keller«, erklärte uns Großmutter schon wieder. »Die haben da ein eigenes Waschbecken nur für die dreckigen Griffel vom Ernsdorfer. Damit er nicht das saubere Waschbecken im Erdgeschoss versaut.«
»Ah, geh, Oma!«, sagte ich beschwichtigend, damit sie sich nicht weiter in Rage redete.
»Und die Kirche, die putzt die nie«, ging es wieder von vorne los.
»Das ist auch besser so«, erinnerte ich sie.
Großmutter sah mich zwar böse an, sagte aber nichts mehr. Ich für meinen Teil fand es nur logisch, dass die Ernsdorferin das gesamte Hochamt mit ihrem Putzfimmel lahmlegen würde.
»Und die Stefanie?«, fragte Max.
Jetzt schoss ich ihm einen satanischen Blick zu. Die Königin der Arschgeweihe. Sein Interesse an ihr war wirklich nicht mehr zu entschuldigen. Ich stürmte zornig auf unsere Haustür zu und schloss auf.
Hinter mir hörte ich Großmutter entschuldigend sagen: »Keine Ahnung, wo die sich die Hände wäscht.« Sie legte ihr Hütchen auf die Ablage und tat einen Schritt zurück. Dabei trat sie auf die Pfoten unseres Hundes, der sich quietschend in die Küche verzog. »Weil er auch immer direkt hinter mir liegt«, beschwerte sie sich und ging ebenfalls in die Küche. »Da seh ich nix, hinter mir.«
»Was hat das mit Händewaschen zu tun?«, fragte ich erstaunt nach.
»Na, die Stefanie, die ist doch mit dem jungen Ernsdorfer zam«, erklärte Großmutter mit dem Rücken zu uns gewandt und fing an, unsere trockene Edelstahlspüle auszuwischen. »Erst letzthin hab i mir denkt …« Sie hielt stirnrunzelnd inne, ließ uns aber nicht mehr wissen, was sie über die Beziehung zwischen S.E.C. und Stefanie-Wonderbra dachte.
Ich grinste Max an. Toll. Das war das Beste, das ich heute erfahren hatte. Stefanie und ihr Arschgeweih waren verbandelt, mit dem Klaus-Claus. Max sah nicht so aus, als wäre es ein Schicksalsschlag für ihn.
Er schien mein Grinsen nicht einmal zu verstehen, musste ich ärgerlich feststellen, denn er sah nachdenklich auf den Küchentisch, auf dem es nichts erkennbar Interessantes zu sehen gab.
»Ehrlich? Und wie lange schon?«, fragten Max und ich gleichzeitig.
Auch dieser böse Blick von mir erreichte sein Ziel nicht.
»Mei. Die haben ja schon im Sandkasten miteinander gespielt. Jaja, wo die Liebe hinfällt«, sprach Großmutter zufrieden. »Die Ernsdorferin hat natürlich g’scholten. Die Stefanie ist ja keine gute Partie.«
»Keine gute Partie?«, versuchte ich meine Großmutter am Reden zu halten.
»Ach, bei so vielen Geschwistern erbt die natürlich nicht den Teufel.«
»Hm.« Ich nickte Max aufmunternd zu. Arschgeweih hin oder her, mit einer großen Erbschaft konnte er da nicht rechnen. Bei mir zwar auch nicht, aber immerhin würde ich einmal ein baufälliges kleines Haus mit einem noch baufälligeren Gartenhäuschen erben.
»Dafür hat sie einen netten Hintern«, wandte ich ein.
Großmutter schüttelte darüber nur den Kopf und schnalzte mit der Zunge.
Endlich sah Max mich an, und ich gab mir die größte Mühe, meine geballte Bösartigkeit aus den Augen funkeln zu lassen. Er zwinkerte mir jedoch nur zu und hatte anscheinend noch immer nicht begriffen, dass ich ihn durchschaut hatte.
»Ich muss dann mal«, sagte er und tätschelte im Vorbeigehen kurz meinen Hintern.
Sprachlos blieb ich zurück. Das war ja wohl wirklich unglaublich.
In meinen Nächten gibt es zwei Sorten von Träumen. Die einen sind wunderschön. Und seltsamerweise wache ich immer viel zu früh auf. Eigentlich immer, wenn das Schönste vom Traum kommt. Dann liege ich wach, versuche krampfhaft, wieder einzuschlafen, weiterzuträumen, dort anzuknüpfen, wo ich stehen geblieben bin. Aber es gelingt nie, ich bleibe wach liegen und bin unzufrieden und am nächsten Tag gerädert.
Die zweite Sorte Träume sind so eine Art Albtraum. Aus denen wache ich nie zu früh auf, und wenn, dann bin ich trotzdem schweißgebadet. Und wenn ich wieder einschlafe, dann träume ich genau dort weiter, wo ich glücklicherweise aufgewacht bin. Mein absoluter Lieblingstraum ist der, in dem ich nackt in die Kirche gehe. Nicht ganz nackt, um genau zu sein. Meistens habe ich etwas dabei, mit dem ich mich verhüllen könnte, wenn ich wollte. Aber das ist meist etwas, mit dem ich mich genauso schäme wie nackt. Zum Beispiel eine ausrangierte Unterhose meiner Großmutter. Die zwar groß genug wäre, um sowohl meinen Popo zu bedecken als auch meinen Bauch und meine Brüste. Aber wie sieht das aus, frage ich mich dann im Traum, ich in einer riesigen Unterhose, die ich mir über den Brüsten zusammenzwirble? Und natürlich gehe ich immer zur Kommunion. Ja. Genau so. Mit zusammengezwirbelter Unterhose. Manchmal habe ich auch statt der Unterhose zwei ausgebleichte Liegestuhlauflagen bei mir. Die haben dann immer schreckliche riesige Blumenmuster. Und seitlich kann man natürlich sehen, dass ich nackt bin. Aber was mache ich, Lisa Wild? Kaum stehen alle auf und gehen zur Kommunion, renne ich nicht etwa nach Hause. Nein. Ich stehe brav auf und gehe auch nach vorne.
Und die Rosenkranztanten sehen alle so aus, als würden sie sich denken, mei, mit dem Hintern, da würde ich nicht so rumlaufen.
Die letzte Nacht hatte ich wieder einen Nackttraum. Allerdings war es einer von der ersten Sorte. Denn ich wachte viel zu früh auf. Eine Hauptrolle spielte dabei Max Sander, denn er war auch nackt.
Am Schluss wachte ich trotzdem schweißgebadet auf. Nicht, weil Sex mit Max so ein Albtraum wäre, sondern weil ich den Eindruck gehabt hatte, dass ich in Max’ Bett eingeschlafen war und dass die Sonne schien. Großmutter allein zu Hause!, durchfuhr es mich so eiskalt, dass ich mit einem Schreckensschrei hochfuhr. Aber ich lag alleine in meinem Bett. In der Küche unten wurschtelte Großmutter vor sich hin, es roch nach Kaffee. Mein Hund schnarchte selbstvergessen. Und er stank, was die Sache nicht besser machte. Ich sank wieder zurück auf mein Kissen und versuchte, mir noch einmal vorzustellen, dass Max gerade dabei war, meine Brüste zu streicheln. In Brüstestreicheln ist er nämlich ziemlich gut. Am besten kann er natürlich küssen, aber hin und wieder ist er auch in der Lage, gleichzeitig zu küssen und die Brüste zu streicheln. Wieso ich dabei noch nie in ein orgastisches Koma gefallen bin, weiß ich auch nicht. Es fühlt sich jedenfalls so an, als sollte einem das gleich bevorstehen.
Aber es war einer der Träume, die man nicht weiterträumt.
Schlecht gelaunt stand ich auf, machte Katzenwäsche und ging in die Küche. Großmutter war schon richtig fleißig gewesen. Sie hatte offensichtlich schon im Garten gearbeitet, denn sie wusch sich gerade die erdigen Hände in der Spüle. Kaffee gab’s dafür nicht, den hatte sie selbst getrunken, also stellte ich mich neben unsere Espressomaschine, wobei ich hin und wieder aus dem Fenster spitzte, um zu sehen, ob nicht vielleicht Max vorbeikam.
Ich jagte den Kaffee durch die Maschine und verbrannte mir beim Trinken den Mund. Der Tag fing nicht gut an, und für die Arbeit war ich auch schon zu spät dran. Wieder einmal. Eilig schnappte ich mir meine Umhängetasche, verabschiedete mich von Großmutter und lief durch den Garten. Ich winkte Großmutter durchs Küchenfenster zu, aber sie sah nicht auf, denn sie war damit beschäftigt, die Edelstahlspüle zu polieren. Etwas Rotes huschte durch mein Gesichtsfeld, dann traf mich etwas Hartes am Kopf.
Erst wusste ich nicht, wo ich war. Ich sah seltsame Dinge vor meinen Augen, und mein ganzer Körper schmerzte. Vielleicht war es auch nur mein Kopf, klar denken konnte ich nicht. Ich spürte nur, dass meine Hände sich an meiner Tasche festkrallten und über mir, weit, weit weg, der Himmel war und ein Engel. Der Engel hatte wild abstehende Haare, die gülden leuchteten, und wie aus weiter Ferne hörte ich eine Stimme.
Ich bin gestorben, war mein erster Gedanke. Ich bin kurz vor dem Himmel und werde von einem Erzengel nach dem Losungswort gefragt. Leider fiel mir das Losungswort nicht ein. Mein Kopf schmerzte irrsinnig stark beim Nachdenken, und mir fiel nichts ein außer dem Wort »Bier«. Vielleicht auch deswegen, weil ich den Eindruck hatte, dass der Engel zu viel getrunken hatte, denn es roch eindeutig nach Bier.
Vor meinen Augen schien der Erzengel zu flimmern und nahm immer schärfere Konturen an. Plötzlich wusste ich, dass ich nicht gestorben war, sondern dass mir jemand seinen Bieratem ins Gesicht hauchte und ziemlich konfuse Fragen stellte.
»Was ist los?«, fragte ich den Engel. Nun ja, die Frage hätte ich mir auch sparen können. Denn so viel hatte ich inzwischen mitbekommen, dass derjenige, der mir seinen Bieratem ins Gesicht blies, nicht etwa ein betrunkener Erzengel war, sondern der Loisl. Und so wie es aussah, hatte er ebenfalls keine Ahnung, was passiert war. Ich setzte mich auf und beteuerte so energisch, wie ich nur konnte, dass alles bestens war, nur damit sich der Loisl wieder auf den Weg machte.
Er blieb noch eine Weile neben mir stehen, murmelte etwas von einem riesigen Blatschare, und dass das nicht gesund sei. Währenddessen hob ich meine Siebensachen auf und rätselte, was geschehen war.
Dann sah ich es. Neben mir lag ein Ziegelstein, an dem noch etwas Blut klebte. Mein Blut.
O nein.
Mir wurde wieder schlecht.
Ich saß auf der Bank vor dem Birnbaum und hatte den Kopf zwischen die Beine gesteckt. Irgendetwas Warmes floss über meine Schläfe. Etwas, das nur Blut sein konnte. Denken funktionierte eigentlich gerade gar nicht, aber trotzdem schossen mir ungewollt Bilder durch den Kopf. Da war die Ernsdorferin, die mich in einem gerüschten Sarg liegen sah. Und der Rosenmüller, der gerade dicke Müllsäcke mit stinkendem Inhalt entsorgte. Vor meinen Augen begann es schon wieder zu flimmern. Ein Blatt Papier mit ausgeschnittenen Buchstaben. Neugierige Weibsbilder Bestrahft Gott, sagte eine Stimme in meinem Kopf.
Schmarrn, sagte die Stimme meiner Großmutter.
Als ich mir sicher war, dass ich nicht sofort wieder umkippte, richtete ich mich langsam auf und sah hinüber zur Unglücksstelle. Dort lag ein Ziegelstein. So einer, wie schon immer einer hinter unserem Haus gelegen hatte. Und am Birnbaum baumelte eine Wäscheleine, an der dieser Ziegelstein anscheinend festgebunden gewesen war.
Es hing noch etwas an der Wäscheleine.
Ein kleines rotes Halstüchlein. Mit blauen Blümchen.
Nicht irgendein Halstüchlein.
Sondern eines von der Lisa Wild.