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Von der Sünde zum Verbot

Der Missionar von Manila: Wie Opium ein Thema der Weltpolitik wurde

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kippte in den USA die drogenpolitische Stimmung. Zwar konnten die meisten Drogen immer noch in der Apotheke gekauft und unkontrolliert konsumiert werden, doch der Konsum geschah bei Weitem nicht mehr so sorg- und gedankenlos wie noch zu Beginn des Jahrhunderts. Inzwischen hatte sich eine wilde Mischung aus Assoziationen mit dem Drogenbegriff verbunden: Drogen waren Heilmittel und Rauschgifte, sie machten abhängig und führten ins Elend, sie zu konsumieren konnte gesund machen, war aber irgendwie auch böse oder krank – je nachdem, wer sie aus welchen Gründen zu sich nahm. Doch aus einer kippenden Stimmung wird nicht automatisch ein Gesetz. Wie aus der wachsenden Angst vor Drogen nicht nur ein nationales Drogenverbot entstand, sondern ein globales Prohibitionssystem, ist eine verwickelte Geschichte. Sie beginnt ganz am Anfang des 20. Jahrhunderts in Manila auf den Philippinen.

Dort übernahm im Jahr 1901 ein junger Mann namens Charles Brent das Amt des ersten philippinischen Bischofs der episkopalen Kirche. Dass es dieses Amt überhaupt gab, lag daran, dass die Philippinen seit 1898 eine US-amerikanische Kolonie waren. Im Spanisch-Amerikanischen Krieg hatten die USA dem alten spanischen Imperium mit Kuba, Puerto Rico, Guam und den Philippinen die letzten bedeutenden Überseekolonien weggenommen. Während Kuba schon kurze Zeit später in die formelle Unabhängigkeit entlassen und durch aufgezwungene Verträge an die USA gebunden wurde, gingen die Philippinen, Puerto Rico und Guam in amerikanischem Besitz über und wurden so die ersten formalen amerikanischen Kolonien.

Global gesehen war dieser Vorgang zeittypisch. Um 1900 befand sich der internationale Wettstreit um die Weltherrschaft seit Jahrzehnten in einer heißen Phase, überall auf der Welt kam es zu Landnahmen und kleineren und größeren Auseinandersetzungen um Kolonien, die dann vom einen in den anderen Machtbereich übergingen. Neu war, dass sich auch die USA an diesem Spiel der Großmächte beteiligten. Zuvor hatten sie sich programmatisch auf die Herrschaft über den eigenen Kontinent beschränkt und nur widerwillig an der Weltpolitik teilgenommen. Dass sie nun über die Philippinen herrschten, hatte wirtschaftlich große Vorteile, da man in Washington hoffte, über Manila die Handelsbeziehungen nach China stärken zu können, wo man große Absatzmärkte für die amerikanische Wirtschaft im Auge hatte.

Doch politisch war die Landnahme im Pazifik nicht leicht zu legitimieren. Die USA waren selbst ursprünglich eine Kolonie gewesen und erst seit einem guten Jahrhundert unabhängig von Großbritannien. Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und die Befreiung aus der kolonialen Unterdrückung aus eigener Kraft machten den Kern des amerikanischen Selbstverständnisses aus. Dass nun die ehemalige Kolonie selbst Kolonien besaß, war unter diesem Gesichtspunkt kaum zu rechtfertigen, und so machten sich die US-amerikanischen Herrschaftseliten daran, das Gleiche zu tun wie ihre europäischen Kollegen: Sie schwiegen möglichst darüber, welche Vorteile sie selbst aus der Herrschaft über ihre Kolonien zogen, und sprachen umso eifriger davon, welche Vorteile die Kolonien aus dieser Herrschaft ziehen würden.

Ganz oben auf der Liste der Versprechen an die Unterworfenen stand die Verheißung, die USA würden die Bevölkerung ihrer Kolonien zivilisieren. Unter dieser durch und durch rassistischen Überschrift rechtfertigten Imperien weltweit die unterschiedlichsten Maßnahmen: Der Aufbau von Infrastruktur und Bildungsinstitutionen fiel ebenso darunter wie die brutale Unterdrückung indigener Bräuche und die Zerstörung lokaler politischer Strukturen zugunsten kolonialer Herrschaftssysteme. Doch es waren nicht nur die Verwaltungsbeamten, die mit der amerikanischen Zivilisation im Gepäck über den Pazifik kamen und sich auf den Philippinen breitmachten – es waren auch die Missionare. Einer von ihnen war Bischof Brent. Er sollte für die episkopale Kirche eine überseeische Filiale eröffnen, damit den christlichen Glauben auf die Philippinen bringen und dabei helfen, die indigene Bevölkerung mithilfe des Christentums zu »zivilisieren«. Ziel dieser Bemühungen waren dabei ebenso die sogenannten »Heiden« wie diejenigen Filipinos und Filipinas, die sich vorher bereits von den Spaniern zum Katholizismus hatten bekehren lassen.

Brent war 1861 als Kind eines anglikanischen Predigers in Ontario in Kanada geboren worden und als junger Mann in die USA emigriert. Dort hatte er in der episkopalen Kirche von Boston als Prediger und Missionar Karriere gemacht. Als nun 1901 der Posten des philippinischen Bischofs zu besetzen war, fiel die Wahl auf ihn. In Manila angekommen, war Brent bald mit einem Problem konfrontiert, das ihm in Boston nicht begegnet war. Auf den Philippinen lebten ungefähr 70 000 chinesische Migranten. Unter der Herrschaft der Spanier war ihr Opiumkonsum legal gewesen. Wie die meisten Kolonialmächte in Asien hatte auch Spanien ein Opiummonopol eingerichtet, also den Opiumhandel auf den Philippinen staatlich kontrolliert und somit kräftig am Opiumkonsum der lokalen Bevölkerung verdient. Nun musste darüber entschieden werden, ob die US-amerikanischen Herrscher diese Strategie übernehmen wollten oder ob sie das Opiummonopol abschaffen würden.

Brent hatte zu dieser Frage eine klare Meinung: Er fand, die USA müssten ihre neuen Untertanen vom »Opiumübel« befreien und sah diesen Nüchternheitsexport als Chance für die amerikanische Zivilisierungsmission. Mithilfe seiner hervorragenden Verbindungen nach Washington erreichte er, dass die Frage eingehend von einer Kommission erörtert werden sollte, in der auch er selbst mitwirken durfte. So begab er sich mit der Philippine Commission on Opium im August 1903 für ein halbes Jahr auf eine Reise durch Ost- und Südostasien, um die Umrisse des dortigen Opiumproblems zu ermitteln und sich eine Meinung darüber zu bilden, wie mit Opium umzugehen sei.

Die Reise der Kommission führte die amerikanischen Herrschaften per Dampfschiff durch den pazifischen Raum zu allen Kolonialmächten, die dort in dieser Zeit vertreten waren. Aufgebrochen waren sie in Manila auf den amerikanischen Philippinen, danach besuchten sie das britisch beherrschte Hongkong, dann Tokio in Japan, Keelung auf Formosa (heute: Taiwan), das gerade zu Japan gehörte, Schanghai an der chinesischen Küste mit seiner britisch-amerikanischen Enklave, Saigon im französischen Indochina (heute: Vietnam), Singapur als Teil der britischen Straits Settlements, Rangun im britischen Burma (heute: Yangon in Myanmar) und Batavia auf der britisch beherrschten Insel Java. Vor Ort waren es dann nicht die Opiumkonsument*innen und häufig nicht einmal Vertreter der indigenen Bevölkerung, mit denen die Kommission sprach. Vielmehr unterhielten sich die amerikanischen Reisenden ausgiebig mit Vertretern der europäischen, japanischen und chinesischen Regierungen und Kolonialherren und sammelten in 52 Interviews alle Informationen, die den lokalen Herrschaftseliten über Opium zur Verfügung standen. Neun der Gespräche führten sie mit Missionaren, und trotzdem kam ihnen ihre Vorgehensweise objektiv und unvoreingenommen vor. In ihrem Abschlussbericht entwarfen sie einen detaillierten Plan, wie die Philippinen im Lauf von drei Jahren opiumfrei werden sollten: Der Opiumanbau und das Betreiben von Opiumkneipen sollte verboten werden, die Einfuhr nach drei Jahren auch, und fortan sollte nur noch Opium rauchen dürfen, wer sich als »süchtig« ausweisen konnte. Die Opiumabhängigen sollten drei Jahre Zeit bekommen, sich den Opiumkonsum abzugewöhnen. Wer gegen diese Vorschriften verstoßen würde, sollte bestraft werden, und schon Schulkindern sollte beigebracht werden, welche üblen Folgen die Opiumpfeife habe. Im Jahr 1904 entwarf Brent damit ein drogenpolitisches Programm, das bereits die meisten Elemente enthielt, die die westliche Drogenpolitik des 20. Jahrhunderts prägen sollten: Anbau und Handel verbieten, Konsum bestrafen, Jugendliche warnen – damit war das drogenpolitische Grundrepertoire etabliert.

Brent und seine Kollegen waren zufrieden mit ihrer Arbeit und hofften, mit ihrem Bericht zur Lösung »eines der größten moralischen Probleme des Orients« beigetragen zu haben – »wenn nicht des größten überhaupt«.[9] Mit dieser Einschätzung der Lage traf Brent weder in Manila noch in Washington auf großen Widerstand. 1905 erließ der US-Kongress ein Opiumverbot für die Philippinen und setzte Brents Vorschläge weitgehend in die Tat um. Allerdings zeigte sich bald, dass das neue philippinische Opiumverbot wenig änderte. Der philippinische Archipel bestand aus 7107 Inseln und lag zwischen China, Formosa, Indochina und den Straits Settlements im Südchinesischen Meer – zwischen lauter Orten also, an denen das Opiumgeschäft legal weiterging. Sobald der legale Opiumhandel auf den Philippinen beendet wurde, begann der Opiumschmuggel.

Nun hatte Brent bei seiner Reise mit der Kommission auch in Schanghai haltgemacht und sich ausführlich über die chinesischen Opiumprobleme informieren lassen. Das Bild, das er sich dabei von den chinesischen Opiumkonsument*innen gemacht hatte, war keineswegs positiv. Seine Beschreibungen der gelangweilten Chines*innen, die eben faul und unkreativ seien, denen in ihrer Freizeit nichts Besseres einfiel als die Opiumpfeife und die überhaupt anfällig seien für Süchte, triefen vor Rassismus. Möglicherweise weckte dieses herablassende Bild seinen Ehrgeiz – jedenfalls legte er in den folgenden Jahren seinen Fokus auf die chinesische Opiumpolitik, denn er kam immer mehr zu der Überzeugung, dass nur eine Lösung des chinesischen Opiumproblems es ihm möglich machen würde, die neuen US-amerikanischen Untertanen auf den Philippinen vom Opium zu befreien.

Leider konnte Bischof Brent zunächst kaum hoffen, von Manila aus Einfluss auf den britisch-indisch-chinesischen Opiumhandel zu gewinnen – bis plötzlich Bewegung in die chinesische Opiumpolitik kam. Die Opiumkriege waren seit einem halben Jahrhundert vorbei, als sich 1906 in China eine kaiserlich geförderte Nationalbewegung entwickelte, die China aus der Abhängigkeit und zu alter nationaler Größe zurückführen wollte. Ein zentraler Gegenstand dieser Nationalbewegung war der chinesische Opiumkonsum, der nun zur Ursache aller Probleme erklärt wurde, die die chinesische Gesellschaft so plagten. Ähnlich wie in den westlichen medizinischen Handbüchern wurde nun auch hier Opium zum Sündenbock: Es mache abhängig, verschlinge Vermögen, bedrohe die Familie und damit den sozialen Zusammenhalt, greife die körperliche wie die mentale Gesundheit an und zersetze die Moral. Vor allem aber eignete sich Opium hervorragend als Symbol für die britische Unterwerfung. So wurde die Forderung nach Opiumreformen bald zu einer Chiffre für den antiimperialen Aufstand.

1906 kulminierte die chinesische Reformbewegung in einem neuen kaiserlichen Anti-Opium-Edikt, das ein deutscher Gesandter in Peking eilig aus der Pekingzeitung ins Deutsche übersetzte und nach Hause schickte:

»Seit Aufhebung des Opiumverbots hat sich dieses Gift fast überall […] in China verbreitet. Diejenigen, welche dem Opiumgenuß ergeben sind, vergeuden ihre Zeit und ihr Vermögen, werden krank und richten ihre Familie zugrunde. Die in den letzten Jahrze[hnten] mit jedem Tag mehr in Erscheinung tretende Armut und Schwäche im Lande hat darin ihren wahren Grund. Es ist ein Jammer, daß man das sagen muß. Jetzt, wo die Kaiserliche Regierung mit entschlossenem Eifer nach Kräftigung des Reiches strebt, ist es eine ihrer dringendsten Pflichten, ihre Untertanen zu warnen und ihnen an das Herz zu legen, daß sie sich aufraffen, damit das tief eingewurzelte Übel beseitigt und dadurch Wohlstand und Ruhe herbeigeführt [werden].«[10]

Wenn nun also die chinesische Regierung einen neuen Anlauf nahm, sich gegen die britischen Opiumeinfuhren zu wehren, dann war Bischof Brent gern bereit, sie in dieser Sache zu unterstützen. Schon im Juli 1906, also zwei Monate vor Veröffentlichung des Edikts, schrieb er einen Brief an den US-amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt, in dem er darum bat, die amerikanische Regierung möge eine Opiumkonferenz einberufen. Wenn er schon nicht in die bilateralen Verhandlungen zwischen China und Großbritannien eingreifen konnte, wollte er versuchen, das Thema auf dem internationalen Parkett zu verhandeln. Immerhin konnte er argumentieren, auch andere Länder hätten ein Interesse daran, die internationalen Opiummärkte zu regeln, denn alle, die ihre nationalen Opiummärkte kontrollieren wollten, litten unter der unregulierten Situation auf dem Weltmarkt.

Mit seiner Idee traf Brent bei der Regierung in Washington auf offene Ohren, denn diese verfolgte eine Handelspolitik der offenen Tür. Das bedeutete, dass sie sich international starke Partner mit blühenden Wirtschaften wünschte, mit denen sie friedlich Handel treiben konnte. Weil die US-amerikanischen Händler mit Rücksicht auf die chinesischen Gesetze bereits in den 1880er-Jahren aus dem Opiumhandel in China ausgestiegen waren, hatten die USA in diesem Geschäft nichts mehr zu verlieren. Gute Beziehungen zu dem riesigen Land jenseits des Pazifiks konnten dagegen für die USA politische und vor allem wirtschaftliche Chancen bergen – besonders, wenn die chinesische Reformbewegung zu einer Erholung der chinesischen Wirtschaft führen würde.

Dass Brent und die politischen Machthaber in Washington sich vorstellen konnten, die Opiumfrage in multilateralen Verhandlungen zu lösen, hing auch damit zusammen, dass sich die Struktur der internationalen Beziehungen seit dem Ersten Opiumkrieg grundsätzlich gewandelt hatte. In den 1830er-Jahren war Weltpolitik vor allem von imperialen oder bilateralen Konflikten geprägt gewesen. Diplomaten trafen sich höchstens zu großen Konferenzen, um über die Bedingungen von Krieg und Frieden zu beraten. Das hatte sich in den Jahrzehnten danach jedoch geändert. Im Lauf des 19. Jahrhunderts war der Globus immer enger zusammengewachsen, und diese beschleunigte Vernetzung hatte von allen Beteiligten eine Menge Absprachen verlangt: Diplomaten, aber auch Experten und Technokraten ohne politische Erfahrung hatten über die Kooperation der Telegrafen- und Postämter verhandelt, über Urheberrechte und die Position des Nullmeridians, über Zeitzonen und die Breite von Eisenbahnschienen, über Seuchenbekämpfung und den Bau des Panamakanals, über Weltausstellungen, das Rote Kreuz und die gemeinsame Nutzung transnationaler Wasserwege, über das Gewicht eines Gramms, die Länge eines Meters und über die Gründung von internationalen Organisationen, die sich mit diesen und ähnlichen Problemen beschäftigen sollten. Internationale Absprachen waren die Grundlage der Globalisierung, und so waren sie zwangsläufig zur neuen Normalität geworden.

Im Jahr 1907, während Brent noch auf eine Antwort aus Washington wartete, gab sich die Weltgemeinschaft außerdem neue Regeln für solche Absprachen. In Den Haag fand in diesem Jahr zum zweiten Mal die Haager Friedenskonferenz statt, die seit 1899 damit beschäftigt war, das Völkerrecht zu kodifizieren. Die Delegierten von Den Haag legten 1907 ein detailliertes Regelwerk vor, in dem sich die Anwesenden auf Spielregeln für internationale Zusammenkünfte geeinigt hatten.

Dieses Regelwerk kam Brent und seinen Verbündeten zu Hilfe, denn die US-amerikanische Einladung zu einer Opiumkonferenz stieß vor allem in London auf Empörung. Zwar war das britische Empire schon lange nicht mehr so abhängig von den indischen Opiumexporten wie noch Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch London sah nicht ein, warum über die Opiumfrage gesprochen werden sollte, denn aus der Sicht der Briten war das Thema gerade zufriedenstellend geregelt worden. 1907 hatte Großbritannien China das Ten Year Agreement diktiert. Es sah vor, dass die Briten im Lauf der kommenden zehn Jahre die Opiumexporte langsam und stetig reduzieren würden, um sie 1917 komplett einzustellen. Nach einer dreijährigen Probephase war das Abkommen einseitig von London kündbar. Großbritannien hatte sich also alle Optionen offengehalten und trotzdem den Anschein erweckt, auf die chinesischen Forderungen einzugehen. Diese komfortable Situation mit einer Konferenz aufs Spiel zu setzen, war den Briten überhaupt nicht recht. Gleichzeitig konnten sie es sich jedoch auch nicht leisten, die Einladung der USA einfach auszuschlagen. Es war eine turbulente Zeit, alle paar Monate wurde Europa von einer neuen Krise oder einem neuen Konflikt erschüttert, und jeden Moment rechnete man mit dem Ausbruch des nächsten Krieges – und das nicht zu Unrecht, wie sich 1914 zeigen sollte. Das britische Weltreich hatte jedoch kein Interesse an Krieg, sondern an Stabilität, denn es brauchte all seine Kräfte für die Beherrschung der halben Erdkugel, und so schlug es die Einladung aus Washington nicht einfach aus. Vielmehr gelang es den Briten, einen Kompromiss durchzusetzen. Statt einer Opiumkonferenz einigte man sich auf die Einberufung einer Opiumkommission.

Die Kommission war ein brandneues Instrument der Diplomatie und gerade erst in Den Haag erfunden worden. Während bei einer Konferenz bevollmächtigte Diplomaten bindende Entscheidungen trafen, die dann von den heimischen Regierungen ratifiziert werden mussten, traf sich eine Kommission, um faktische Fragen zu klären und Resolutionen zu verabschieden. Die Ergebnisse ihrer Verhandlungen waren unverbindlich, konnten problemlos ignoriert werden und passten den Briten deshalb ganz hervorragend in den Kram. Um das Vorhaben nicht ganz aufgeben zu müssen, ließen sich Brent und seine Verbündeten auf die Sache ein. Die Regierung in Washington lud also zur ersten internationalen Opiumkommission, und alle eingeladenen Regierungen sagten zu.

Gute Drogen, böse Drogen: Die Geburtsstunde der Prohibition

Am 1. Februar 1909 trafen sich also 37 Delegierte und ihre Sekretäre aus 13 Staaten in einem Hotel in Schanghai. Die Hafenstadt am Ostchinesischen Meer schien den amerikanischen Gastgebern und ihren chinesischen Verbündeten ideal für eine solche Zusammenkunft, denn es waren die chinesischen Häfen, in denen die indischen Opiumfrachter ankamen und wo deshalb der Opiumkonflikt besonders greifbar war. Schanghai war außerdem bekannt als Metropole des Vergnügens, in der besonders viele Opiumlokale betrieben wurden. Nicht zuletzt gab es hier außerdem auf der Grundlage der Ungleichen Verträge zwischen den Kolonialmächten und dem Chinesischen Reich ein International Settlement. Hier konnten britische und amerikanische Händler und Diplomaten sich dem chinesischen Recht entziehen und unter der Herrschaft ihrer Heimatländer in einer kleinen Enklave leben und arbeiten. In diesem Bezirk befand sich auch das frisch renovierte Palace Hotel, das bis heute in einer Reihe mit anderen imposanten kolonialen Bauten die Promenade am Fluss Huangpu überblickt. Auch die europäischen Gäste hatten an diesem Ort also wenig Grund, sich fremd zu fühlen. Die drei Mächte, die beim Opiumthema am meisten zu verlieren oder zu gewinnen hatten, waren China, Großbritannien und die USA. Sie alle befanden sich am Konferenzort in einer Weise auf heimatlichem Territorium, wie es nur in den vielfach überlappten kolonialen Welten dieser Zeit denkbar war. Ebenfalls vertreten waren in Schanghai eine Reihe von weiteren Regierungen, die mit dem Opiumthema in Verbindung gebracht wurden, nämlich Österreich-Ungarn, Frankreich, das Deutsche Reich, Italien, Japan, die Niederlande, Persien (heute: Iran), Portugal, Russland und Siam (heute: Thailand).

Zu Beginn der Konferenz konnte von einem gemeinsamen Opiumproblem dieser 13 Staaten keine Rede sein. Die Delegationen kamen vielmehr mit ganz unterschiedlichen Haltungen zur Opiumfrage in Schanghai an. China wollte für Unterstützung der eigenen Opiumreformen werben und sah in den Verhandlungen eine Chance, das frisch unterzeichnete Ten Year Agreement mit internationaler Unterstützung wieder loszuwerden und das Ende der britischen Opiumeinfuhren zu beschleunigen. Kurz: China wollte für die Opiumprohibition werben. Großbritannien gefiel das nicht, die Briten wollten vielmehr versuchen, alle Beteiligten auf die bereits bestehenden Absprachen festzunageln. Hinter den Kulissen war jedoch die britische Haltung komplizierter: Seit 1907 war in London die liberale Partei an der Regierung, die den Opiumexporten nach China eigentlich kritisch gegenüberstand, aber trotzdem die Interessen des Empire vertreten musste. Im Gepäck hatte die britische Delegation außerdem den Bericht einer Untersuchungskommission aus dem Jahr 1895, die ähnlich vorgegangen war wie die Philippine Commission unter Brent. In zahlreichen Interviews in Großbritannien und den indischen Kolonien war diese Kommission jedoch zu ganz anderen Ergebnissen gekommen: Sie hatte betont, dass Opium nicht gefährlicher sei als Alkohol und dass der Export aus Indien keine nennenswerten moralischen Schattenseiten habe. Noch komplizierter wurde die Situation dadurch, dass in der britischen Delegation auch Vertreter der britisch-indischen Regierung saßen, für die das Opiumgeschäft eine wichtige Einnahmequelle bedeutete.

Die amerikanische Delegation war angeführt von Brents Verbündetem Hamilton Wright, einem Arzt und Experten für Tropenkrankheiten, der Brents Ansichten zum Opiumkonsum teilte und dessen Herz ebenfalls für die Prohibition schlug. Brent selbst war als US-Delegierter verhindert, denn er saß der Kommission vor, was ihm allerdings großen Einfluss auf die Grundstimmung der Verhandlungen gab und nicht etwa dazu führte, dass er seine prohibitionsfreundlichen Positionen für die Dauer der Verhandlungen abgelegt hätte.

Für die anderen Delegationen stand weniger auf dem Spiel, und doch mischten sich auch Diplomaten aus anderen Ländern in die Debatten ein und beeinflussten mit ihrem Abstimmungsverhalten den Verlauf der Verhandlungen. So schickte beispielsweise das Deutsche Reich einen jungen Mann namens Walter Rößler. Er war erst seit wenigen Monaten Konsul der chinesischen Hafenstadt Kanton (heute: Guangdong) und hatte sich bei seinen vorherigen diplomatischen Stationen auf Sansibar, in Britisch-Ostafrika (heute: Kenia) und in Israel wohl kaum mit Opium beschäftigt. Die deutsche Interessenlage war jedoch leicht zu überblicken. Seit 1901 war im Deutschen Reich gesetzlich geregelt, dass bestimmte Medikamente wie Opium, Morphium oder Heroin nur von Apotheken verkauft werden durften. Mit dem wilden Verkauf hochpotenter Substanzen über die Theken der Drogeriemärkte war es also dort bereits vorbei. Ein Problem hatte das Deutsche Reich mit Opium zu diesem Zeitpunkt nicht.

Im Gegenteil: Das deutsche Opiumgeschäft boomte. Seit Beginn des Jahrhunderts hatten sich die Importe von Rohopium fast verdoppelt, die Exporte der weiterverarbeiteten Opiumprodukte hatten sich etwas mehr als versechsfacht, und der Gesetzgeber verzichtete darauf, das lukrative Pharmageschäft mit Zöllen zu belegen – so steht es in den Unterlagen, die Rößler bei der Kommission von Schanghai einreichte. Auch in China selbst profitierte das Deutsche Reich vom unkontrollierten Freihandel mit Opium. Denn nicht nur Briten und Franzosen hatten sich im Lauf des 19. Jahrhunderts an der chinesischen Küste Besitzungen gesichert. Auch das wilhelminische Deutschland spielte intensiv mit Weltmachtsfantasien und beherrschte seit 1898 im chinesischen Nordosten ein kleines Gebiet namens Kiautschou. In der deutschen Kolonie wurde munter Opium importiert, besteuert und an lizensierte »Opiumdivane« oder andere Geschäfte verkauft, wo die chinesischen Untertanen es erwerben konnten, um es in der Pfeife zu rauchen. Auch das deutsche Imperium verdiente also am Opiumgeschäft – ganz so, wie es die Spanier auf den Philippinen getan hatten, und so, wie die Briten und Franzosen es in ihren asiatischen Kolonien taten, während sie sich zu Hause über die Opiumpfeifen der chinesischen Migranten aufregten. Überraschenderweise schlug sich Konsul Rößler in Schanghai trotzdem auf die Seite der USA und Chinas – vielleicht, weil er wusste, dass die Ergebnisse der Kommission nicht bindend sein würden, vielleicht aber auch, weil die opiumkritische Position seiner persönlichen Überzeugung entsprach.

Die Debatten entwickelten sich ganz so, wie es aufgrund der Interessenlage zu erwarten war. Die Delegierten aus China und den USA argumentierten leidenschaftlich dafür, den weltweiten Opiumhandel unter Kontrolle zu bringen. Ihre Plädoyers waren sehr moralisierend und hantierten mit den protestantischen und nationalistischen Denkmustern, die in den je heimischen Öffentlichkeiten mit der Opiumdebatte verbunden waren: Opium sei das größte Problem der Weltgeschichte, es sei weitreichender als das Problem der Sklaverei, es schwäche den Willen, die Leistungsfähigkeit und den Charakter der Menschen, es sei eine Fessel, die Schwäche, Armut und moralische Degeneration hervorrufe. Sogar Präsident Roosevelt schickte ein Telegramm, in dem er alles Gute wünschte für die Arbeit im Sinne der »allgemeinen Unterdrückung des Opiumübels auf der ganzen Welt« – als sei dieses Ziel das einzig denkbare für eine Opiumkommission.[11]

Ihnen gegenüber standen die Briten, die sichtbar zwischen den Stühlen saßen. Keinesfalls wollten sie den Ausstieg aus dem Opiumhandel beschleunigen, denn selbst bei einem sofortigen Anbaustopp hätten die gelagerten indischen Opiumvorräte gereicht, um China für zehn Jahre damit zu versorgen, wie der Delegierte aus Britisch-Indien halb stolz, halb entschuldigend erklärte. Gleichzeitig erkannte selbst die britische Delegation mehrfach an, dass übermäßiger Opiumkonsum von Übel sei. Ob das ihre Überzeugung war, ob die Delegierten Angst hatten vor der opiumkritischen öffentlichen Stimmung in der Heimat oder ob während der Verhandlungen im Palace Hotel das kollektive Empfinden entstanden war, man dürfe Opium nicht verharmlosen, lässt sich letztlich nicht klären. Sicher ist: In Schanghai traute sich plötzlich niemand mehr, den unkontrollierten Welthandel mit Opium offen zu verteidigen, obwohl mehrere Delegationen im Raum waren, deren Staaten an freien Opiummärkten wirtschaftliche Interessen hatten – und obwohl einer dieser Staaten noch vor wenigen Jahrzehnten zur Verteidigung dieser Märkte zwei Opiumkriege angezettelt hatte. Klar ist auch, dass die Briten nicht bereit waren, sich von der aktuellen Situation zu verabschieden, in der sie den pazifischen Opiumhandel in einem hohen Maß kontrollieren konnten. Konsul Rößler schreibt in seinem Bericht über die Kommission, wie dem britischen Chefdelegierten im Ärger herausgerutscht war: »Wir sind nicht in der Lage anzuerkennen, daß Opium nur zu Heilzwecken abgegeben werden sollte.«[12] Argumente, die den Freizeitkonsum von Opium verharmlosten, waren trotzdem nicht mehr sagbar. Die Stimmung hatte sich gedreht, und Großbritannien saß in der Klemme.

So einigten sich die Delegationen am Ende darauf, den Missbrauch von Opium zu verurteilen. Sie verabschiedeten eine Reihe von Resolutionen, die allesamt nicht bindend waren und deshalb auch die Briten vorerst nicht zu sehr besorgten. Sie hatten es ohnehin mit ihren geschickten Verhandlungsstrategien geschafft, so gut wie alle Resolutionen mit schwammigen Formulierungen so aufzuweichen, dass sie kaum noch als klare Richtlinien einer gemeinsamen Opiumpolitik taugten, weil jede*r in ihnen lesen konnte, was er oder sie wollte. Konsul Rößler schrieb in seinem Bericht voller Frust: »Tatsächlich sind die Vorschläge [der Kommission] aber in allen wichtigen Punkten so allgemein gehalten, daß ein praktisches Ergebnis nicht davon erwartet werden kann. […] Das Problem, mit vielen Worten nichts zu sagen, ist hier meisterhaft gelöst.«[13]

Doch mit dieser Einschätzung irrte sich der junge Konsul von Kanton gewaltig. Staunend schrieb er später nach Berlin, die Kommission habe deutlich nachhaltiger gewirkt, als er geahnt hatte. Denn obwohl die Resolutionen nicht dazu taugten, irgendjemanden auf eine bestimmte Opiumpolitik festzunageln, entfalteten sie in den kommenden Jahren eine erstaunliche Wirkung. Einerseits hatte das Kommissionstreffen die entscheidenden Parteien an den Verhandlungstisch gezwungen, von dem sie nun so ohne Weiteres nicht wieder aufstehen konnten. Andererseits aber entwickelte sich der politische Kern der Resolutionen von Schanghai zu einem drogenpolitischen Grundkonsens, hinter den sich die Beteiligten in den folgenden Jahren nicht mehr zurücktrauten und der das 20. Jahrhundert überleben würde.

Dieser Grundkonsens versteckt sich in der dritten Resolution. Sie formuliert die Definition von Drogenmissbrauch, die uns bis heute verfolgt: Der Gebrauch von Opium sei demnach nur zu medizinischen Zwecken zulässig. Der Gebrauch zu allen anderen Zwecken müsse durch Verbote oder durch vorsichtige Regulierung kontrolliert werden. Weil nur »fast alle teilnehmenden Länder« sich darüber einig waren und weil sie sich nur »bei Gelegenheit« darum kümmern sollten, ein zunehmend strenges System der Drogenverbote aufzubauen, hatte sich erst mal niemand zu irgendetwas verpflichtet.[14]

Trotzdem war es genau das, was nun passierte. Die mächtigsten Regierungen der Welt verabredeten sich in den kommenden Jahren auf ein globales Drogenregime, das auf nationalen Drogenverboten basierte und den Drogenkonsum zu nicht medizinischen Zwecken unterbinden sollte. Das schillernde Drogenphänomen war so definitorisch unter Kontrolle gebracht: Wo vorher Medikamente, Rauschmittel, Suchtmittel und Gifte fließend ineinander übergingen, gab es nun ein verbindliches Kriterium, das den Unklarheiten ein Ende setzen sollte: Gab es eine medizinische Indikation für den Konsum einer Droge, war es eine »gute« Droge, und man nannte sie fortan immer häufiger »Medikament«, obwohl sich besonders im Englischen auch die Bezeichnung »drug« in diesem Zusammenhang bis heute gehalten hat. Gab es aber keine medizinische Indikation, war der Konsum derselben Droge böse, dann war es »Missbrauch« und gehörte verboten. Psychoaktive Substanzen, denen der medizinische Nutzen (aus politischen oder pharmakologischen Gründen) im Lauf der kommenden Jahrzehnte ganz abgesprochen wurde, wurden konsequenterweise zu bösen Drogen erklärt und ihr Anbau, ihre Herstellung, ihr Verkauf und ihr Konsum verboten. Die Drogenprohibition war geboren.

Bischof Brent behielt also mit einer seiner Bemerkungen in Schanghai recht: Er hatte erklärt, die Ergebnisse von Schanghai würden weitreichend sein, sie würden auch formale Absprachen nach sich ziehen, und vor allem würden sie Stimmung machen – »and am I not right in thinking that sentiment still rules the world?«.[15] Tatsächlich konnte sich die Stimmung von Schanghai halten. Sie setzte einen Prozess in Gang, der die Drogenprohibition fast in alle Welt exportieren würde.

Als Erstes kehrte die US-amerikanische Regierung jedoch vor der eigenen Tür. Noch während die Verhandlungen in Schanghai liefen, verabschiedete der amerikanische Kongress das erste nationale Drogengesetz, mit dem er das Rauchen von Opium verbot. Kurz zuvor war auch in den USA der Handel mit potenten Medikamenten reglementiert worden. Zwar war er weiterhin erlaubt, doch wachte seit 1906 die Food and Drug Administration (FDA) über Herstellung und Etikettierung, sodass die Kund*innen der drug stores nun zumindest nachlesen konnten, was sie gekauft hatten.

Als Nächstes machte sich der amerikanische Chefdelegierte Hamilton Wright daran, gleich nach seiner Rückkehr aus Schanghai die erste bindende Opiumkonferenz vorzubereiten. Es gelang ihm, die neue Regierung unter Präsident William Taft von der Wichtigkeit der internationalen Opiumdiplomatie zu überzeugen, und kurz darauf landeten die Einladungen zur ersten Opiumkonferenz von Den Haag auf den Schreibtischen der Außenminister. 1911 gelang dann in den Niederlanden, was in Schanghai noch nicht möglich gewesen war: Die Beteiligten vereinbarten, dass Opium, Morphium, Kokain und alle Produkte, die mit ihnen verwandt sind, nur in solche Länder exportiert werden durften, in denen ihr Import legal war. Der britische Opiumhandel wäre damit nach internationalem Recht illegal geworden, und die Resolutionen von Schanghai hätten sich in geltendes Recht verwandelt. Die amerikanischen Delegierten versuchten außerdem in Den Haag, die Drogenprohibition nach amerikanischem Vorbild in die Welt zu exportieren, denn das Vertragswerk sah vor, dass alle ratifizierenden Länder möglichst bald eigene Drogengesetze erlassen sollten, um den Handel mit Opium- und Kokaprodukten möglichst eng staatlich zu kontrollieren.

Es gab nur einen Haken: Die Drogenkonvention von Den Haag sollte erst in Kraft treten, wenn alle existierenden Staaten der Welt sie ratifizierten. Schon von den zwölf in Den Haag vertretenen Staaten waren aber nur acht bereit, sie zu unterschreiben. Das Deutsche Reich war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr unter ihnen. Jetzt, wo die Vereinbarungen bindend sein sollten, wogen die Interessen der deutschen Pharmaindustrie schwerer als mögliche Sympathien für die Opiumgegner innerhalb der deutschen Delegation. Als dann 1914 einige der beteiligten Regierungen begannen, gegeneinander einen Weltkrieg zu führen, geriet die Frage nach der internationalen Opiumkontrolle für eine Weile in den Hintergrund, und die Konvention von Den Haag blieb zunächst ein Stapel Papier.

Die USA traten jedoch erst 1917 in den Weltkrieg ein, und so wurde hier gleich im Anschluss an die Verhandlungen von Den Haag fleißig am nationalen Prohibitionsregime weitergebaut. Der Kongress ratifizierte die Opiumkonvention und begann sogleich, ein eigenes Drogengesetz zu entwerfen. In Den Haag hatte es schon kritische Nachfragen gegeben, wann denn die mahnenden Amerikaner gedächten, mit gutem Beispiel voranzugehen. Das taten sie 1914 mit einem Gesetz, das als Harrison Narcotics Tax Act bekannt wurde und das bald aus allen amerikanischen Drogenabhängigen erst Steuerhinterzieher und dann Kriminelle machen sollte.

Der Harrison Act ist ein Steuergesetz und regelt auf den ersten Blick das, was in Großbritannien bereits seit 1868 und im deutschen Kaiserreich seit 1901 geregelt war: Wer wem unter welchen Umständen Opiate, Kokaderivate und ähnliche Arzneimittel verkaufen darf und welche Steuern dafür zu entrichten sind. Irgendwo im Dschungel der kleinteiligen Regularien versteckt sich dann die Prohibition. Wer nämlich nicht durch Ausnahmeregelungen zum Umgang mit diesen Produkten befugt sei, darf sie laut Harrison Act weder verkaufen noch besitzen. Wer sie ohne legal erworbenes Rezept kaufte oder besaß, machte sich fortan strafbar.

Für kurze Zeit erlangte mit dem Harrison Act in den USA die Ärzteschaft die Kontrolle über den Drogenkonsum. Für die Entwicklung dieses Berufsstandes war das ein wichtiger Schritt, denn das Privileg des Rezeptblocks grenzte studierte Mediziner*innen und Pharmazeut*innen zum ersten Mal rechtlich von nicht examinierten Quacksalbern ab. Auch für die Patient*innen hatte diese Regelung teilweise Vorteile, denn nach dem Harrison Act durften nun die Ärzt*innen entscheiden, ob es für eine*n Süchtige*n von »medizinischem Nutzen« sei, den Stoff zu konsumieren, nach dem er oder sie süchtig war. In vielen Fällen entschieden sie: ja. Bald eröffneten sie überall im Land Kliniken, in denen sie Abhängige behandelten und mit kontrollierten Substanzen versorgten, wenn sie es für nötig hielten. 1919 jedoch schob das amerikanische Verfassungsgericht diesem einigermaßen humanen und am Leid des oder der Einzelnen orientierten Umgang mit Drogenabhängigkeit einen Riegel vor, indem er definierte, was genau »legitime medizinische Gründe« seien. Abhängigkeitserkrankungen gehörten nach Meinung des Obersten Gerichts nicht zu diesen Gründen.

Diese Entscheidung hatte für viele Drogenabhängige brutale Folgen. Noch vor Kurzem hatten sie ihre Drogen in der Apotheke kaufen können, dann waren sie immerhin noch medizinisch versorgt worden, nun waren sie plötzlich kriminell und dazu gezwungen, sich ihren Stoff irgendwie auf illegalem Weg zu beschaffen. Mit etwas Glück fanden sie Ärzt*innen, die das Risiko auf sich nahmen und sie illegalerweise mit Rezepten für ihre Drogen ausstatteten. Hatten sie jedoch Pech, wurden sie verhaftet – und ihre dope doctors gleich mit. Sie landeten in den Bundesgefängnissen, wo die Zahl der Insassen sprunghaft in die Höhe schnellte. Später wurden sie häufig in sogenannten Narcotic Farms interniert, die als Mischung aus Gefängnis und Suchtklinik ihre unfreiwilligen Insass*innen als Versuchskaninchen für ihre Abhängigkeitsforschung benutzten. Falls die Betroffenen diesem Schicksal entgingen, fristeten sie ein Leben in Angst und Stress, und immer häufiger sahen sie sich gezwungen, die hohen Schwarzmarktkosten ihrer Rauschmittel durch Kleinkriminalität zu finanzieren. Die kriminelle Drogenszene zwischen Untergrundmarkt und Internierung war geboren.

In den USA dauerte es also nur zehn Jahre von den Resolutionen von Schanghai bis zur abgeschlossenen Kriminalisierung von Opiaten und Kokainprodukten. Andere Länder waren bei Weitem nicht so erpicht darauf, die internationalen Absprachen in nationale Gesetzgebung zu übersetzen. So hatte zum Beispiel das Deutsche Reich zwar in Schanghai die chinesische Seite unterstützt, doch schon 1913 war Berlin nicht bereit gewesen, die erste internationale Opiumkonvention von Den Haag zu ratifizieren. Auch während des Weltkrieges hatte sich die deutsche Haltung in dieser Sache nicht geändert.

Dass Deutschland 1919 trotzdem die Opiumkonvention unterschrieb, hatte andere Gründe: Bei den Pariser Friedensverhandlungen hatten die Siegermächte Großbritannien und USA sich darauf geeinigt, die Opiumkonvention in das Konvolut der Friedensverträge aufzunehmen. Nun hatte Deutschland keine Wahl: Als die deutsche Delegation gezwungenermaßen den Versailler Vertrag unterschrieb, hatte sie damit zugleich auch die Opiumkonvention ratifiziert – so wie viele andere Staaten auch. 1919 trat somit ohne weitere Debatten das erste internationale Abkommen zur Drogenkontrolle in Kraft, und Deutschland war nun verpflichtet, ein eigenes Drogengesetz zu verabschieden – was bereits 1920 mit einer provisorischen Verordnung geschah. Opiate und Kokainprodukte wurden ab sofort in Deutschland verschreibungspflichtig, und Verstöße gegen diese Pflicht wurden mit bis zu sechs Monaten Haft oder mit bis zu 10 000 Mark Bußgeld bestraft.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten romantische Träumer und pharmazeutische Tüftler die Drogen neu erfunden. Aus Medikamenten waren für manche dadurch verheißungsvolle, faszinierende Substanzen geworden. Die vermehrten Experimente mit diesen Substanzen zu nicht medizinischen Zwecken führten jedoch dazu, dass die westlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auch erste negative Erfahrungen mit Rausch und Substanzabhängigkeit zu machen begannen. Auf die Faszination folgte der erste Backlash, und die populären Drogen dieser Zeit wurden zunehmen verteufelt, als sich Vorbehalte gegen die psychoaktiven Wirkungen mit der rassistischen Ablehnung bestimmter Bevölkerungsgruppen mischten. In den USA war es die Angst vor dem Mythos der chinesischen Opiumhöhle, die erste Opiumverbote inspirierte. Aber auch der afroamerikanische Kokainkonsum und die ersten Wellen der Morphium- und Heroinabhängigkeit machte den weißen Angloamerikaner*innen diese Substanzen zunehmend suspekt.

Ein Zusammenspiel von Nationalismus, Rassismus und protestantischem Moralismus prägte mehr und mehr das amerikanische Nachdenken über Drogenkonsum: Man fürchtete sich vor dem Niedergang der Nation, vor den Drogen der anderen und vor der Sünde, die der Rausch selbst war oder die durch den Rausch zu entstehen drohte. Als dann die USA mit der philippinischen Kolonie auch das dortige Opiumproblem in ihren Herrschaftsbereich holten, kam die Zivilisierungsmission hinzu: Plötzlich führte sich das amerikanische Mutterland als strenger Erziehungsberechtigter auf, der die Philippinen vom Opium befreien wollte. Mit Brents Bericht der Philippine Commission lag bald ein erster Entwurf dafür vor, wie das geschehen sollte. Es war die erste Skizze einer amerikanischen Drogenprohibition.

Diese Ausgangssituation prägte die amerikanische Haltung, als Bischof Brent die Initiative ergriff und Opium zu einem Gegenstand der internationalen Politik machte. In Schanghai verständigte man sich zur Freude Chinas und zur Verärgerung des britischen Empires im Jahr 1909 zunächst unverbindlich darauf, dass Drogen nur zu medizinischen Zwecken konsumiert werden durften. Diese Grundforderung hielt sich und wurde zur Basis einer Drogenpolitik, die zuerst in den USA und später auch in vielen anderen Gegenden der Welt psychoaktive Substanzen in »gute« und »böse« Drogen einteilte.

Der erste Staat, der begann, die Konsument*innen der »bösen« Drogen systematisch zu verfolgen und zu kriminalisieren, waren die USA. Zuvor hatte es etwa in China und in der arabischen Welt immer wieder spezifische Verbote einzelner Substanzen gegeben. Aber die Sammelkategorie »Drogen« für Medikamente, die sich aufgrund ihrer psychoaktiven Eigenschaften missbrauchen ließen, war eine Erfindung des frühen 20. Jahrhunderts. 1914 verabschiedete der Kongress sein erstes Drogenverbot, in den Zwanzigerjahren folgten nach und nach viele andere Länder, nachdem die Opiumkonvention in Kraft getreten war – darunter auch Deutschland. Wo Verbote sind, müssen auch Gesetzeshüter sein, die diese Verbote durchsetzen. So schlug nun bald die Stunde der Drogen-Cops, die sich daranmachten, die Drogenbanditen hinter Schloss und Riegel zu befördern.