Das erste große Thema, mit dem Harry Anslinger sich in den 1930er-Jahren beschäftigte, war Cannabis. Bis ins frühe 20. Jahrhundert war Hanf in den USA (wie auch in Europa) vor allem als vielseitige Nutzpflanze bekannt gewesen. Aus den Fasern ihrer Stängel ließen sich stabile Stoffe und Seile herstellen, und die Samen konnten zu Öl verarbeitet werden. Schon seit Beginn der britischen Kolonisation war Hanf ein wichtiger Teil der amerikanischen Landwirtschaft gewesen. Anfang des 17. Jahrhunderts waren zum Beispiel alle Einwohner der Kolonie Jamestown dazu verpflichtet, Hanf anzubauen, und auf den großen Plantagen des 18. Jahrhunderts war Cannabis eine beliebte Nutzpflanze, die unter anderem auch auf den Ländereien von George Washington, Thomas Jefferson und Benjamin Franklin wuchs. Das Gerücht, sogar die amerikanische Verfassung und die Unabhängigkeitserklärung seien auf Hanfpapier geschrieben worden, hat die Historikerin Emily Dufton zwar widerlegt. Doch während die Reinschriften dieser geschichtsträchtigen Dokumente auf Pergament geschrieben sind, könnten frühere Fassungen auf Schmierpapier aus Hanf gestanden haben, denn tatsächlich wurde auf Franklins Plantage aus Hanf Papier hergestellt.
Bekanntlich besteht jedoch die Hanfpflanze nicht nur aus Stängeln mit sehr widerstandsfähigen Fasern. Die weibliche Pflanze trägt außerdem Blüten, Blätter und Blütenstände, die eine Reihe von interessanten Wirkstoffen enthalten. Neben dem bekanntesten unter ihnen, dem Tetrahydrocannabinol (THC), finden sich dort noch viele weitere teils psychoaktive Stoffe, die ihre Wirkung traditionell in einer ganzen Palette von hanfhaltigen Hausmitteln und Arzneien entfalteten. Hanfbonbons sollten gegen Husten helfen, Mütter schmierten Hanftinkturen auf das Zahnfleisch ihrer zahnenden Babys, um sie zu beruhigen, die Schulmedizin kannte Hanf als Mittel gegen Tollwut und Rheuma, als Krampflöser, aber auch als wirksames Schmerz- und Beruhigungsmittel.
Seit der Jahrhundertwende hatte Hanf jedoch langsam einen schlechten Ruf bekommen. Erste warnende Stimmen waren schon im Lauf des 19. Jahrhunderts zu hören gewesen, doch wie bei Opium und Kokain war es auch bei Cannabis nun der Freizeitkonsum einer marginalisierten Gruppe, der plötzlich eine neue Angst vor dem Stoff befeuerte: Im späten 19. Jahrhundert flohen mexikanische Bürger*innen vor der Diktatur von Porfirio Díaz in die USA. Seit den 1910er-Jahren folgten dann die mexikanischen Flüchtlinge, die sich vor der Revolution und dem blutigen Bürgerkrieg in Sicherheit bringen wollten. Die mexikanischen Arbeitskräfte waren während des Wirtschaftsbooms der Zwanzigerjahre in den USA einigermaßen willkommen gewesen, doch seit Beginn der Wirtschaftskrise in den Dreißigerjahren wuchs die Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten und damit die xenophobe Ablehnung der Eingewanderten. Zu Hunderttausenden wurden sie auf nicht sehr wasserdichter Rechtsgrundlage zurück über die Grenze nach Mexiko gezwungen.
Begleitet und rationalisiert wurde diese Welle der Ablehnung und Vertreibung mit Verurteilungen des Freizeitkonsums von Cannabis, der unter den mexikanischen Eingewanderten verbreitet war. Das Muster war hier das gleiche wie im Fall der chinesischen Migrant*innen und der afroamerikanischen Minderheit: Je nach politischer Zielsetzung nutzte man abwechselnd die Angst vor der Droge, um den Fremdenhass zu befeuern, und den Fremdenhass, um die Droge zu diskreditieren. Auf diesen spiralförmigen Ablehnungsprozess folgten erste lokale Cannabisverbote, ohne dass das Thema jedoch bei den Drogenpolitikern in Washington schon große Aufmerksamkeit gefunden hätte.
Dafür brauchte es noch mehrere Impulse von außen. Der erste kam von der zweiten internationalen Opiumkonferenz, die 1925 in Genf stattfand. Dort verkündete plötzlich der ägyptische Delegierte Dr. El Guindy, neben Kokain und Opium gehöre auch Cannabis indica auf die Liste der kontrollierten Substanzen. In einem ausführlichen Referat über die Wirkungen und Folgen des Haschischkonsums informierte er die anderen Delegationen über das Haschischproblem: Der Harz der Hanfpflanze löse je nach Dosis und Disposition der Konsument*innen Heiterkeit oder Gewalt aus, und nichts mache in Ägypten so viele Menschen wahnsinnig wie der Missbrauch dieses Stoffes als Genussmittel. Er sei davon überzeugt, dass Haschisch mindestens so gefährlich sei wie Opium, und die ägyptische Regierung bitte die internationale Gemeinschaft inständig darum, sich dieses Problems gemeinsam anzunehmen.
Die anderen Delegationen reagierten zunächst überrascht. Niemand hatte mit einem solchen Vorstoß gerechnet oder Ägypten als drogenpolitischen Player überhaupt auf dem Schirm gehabt. Ägypten war bis zum Ersten Weltkrieg Teil des Osmanischen Reiches gewesen und danach kurzfristig britisches Protektorat geworden. Erst 1922 hatte es die Unabhängigkeit erreicht und erschien nun drei Jahre später zum ersten Mal auf dem Parkett der Drogendiplomatie. So hatte der Imperialismus dafür gesorgt, dass ägyptische Themen bisher nicht Teil der internationalen Drogendebatten gewesen waren. Dabei war Cannabismissbrauch in Ägypten seit Jahrzehnten ein wichtiges Thema gewesen. El Guindy erklärte, schon in den 1880er-Jahren habe in Ägypten noch unter osmanischer Herrschaft die Bekämpfung des Cannabisanbaus und -handels begonnen, doch der anhaltende Schmuggel mache es Ägypten unmöglich, die Verbote durchzusetzen. El Guindy schilderte damit eine ganz ähnliche Lage, wie Charles Brent sie auf den Philippinen erlebt hatte: Ohne internationale Abkommen waren nationale Verbotsversuche häufig zum Scheitern verurteilt.
Auf El Guindys Vorstoß antwortete als Erster der amerikanische Delegierte und drogenpolitische Hardliner Stephen Porter, der in den USA kurz zuvor das Heroinverbot auf den Weg gebracht hatte. Er gab offen zu, dass er sich mit Cannabis kaum auskannte. Trotzdem war er sofort bereit, das ägyptische Anliegen zu unterstützen. Interessanterweise tat er dies aber nicht aus amerikanischem Interesse. Vielmehr betonte er, wenn Ägypten bereit sei, die USA bei der Kontrolle der Opium- und Kokainmärkte zu unterstützen, dann sei es nur fair, im Gegenzug Ägypten bei der Lösung von dessen Cannabisproblemen zu helfen. Dass es auch ein amerikanisches Cannabisproblem geben könnte, kam Porter 1925 noch nicht in den Sinn, denn die Debatten um den Marihuanakonsum der mexikanischen Migrant*innen waren eher lokaler Natur und weitgehend an ihm vorübergegangen.
Auch die anderen Delegierten waren zwar überrascht und vielleicht auch ein bisschen überrumpelt von dem ägyptischen Vorstoß, doch die meisten von ihnen hatten nichts dagegen einzuwenden. Nur der indische Delegierte telegrafierte nach Hause an seine Regierung und erhielt die Antwort, man könne Cannabis in Indien nicht so ohne Weiteres verbieten: Es sei in vielen Regionen ein wichtiger Bestandteil der sozialen und religiösen Bräuche. Außerdem wachse Cannabis wild, die Weiterverarbeitung zu Ganja sei kinderleicht, und man wisse nicht, wie man unter diesen Umständen ein Verbot durchsetzen solle. Die indischen Einwände konnten jedoch die Mehrheit der Delegierten nicht überzeugen. Kurzerhand nahmen sie das indische Hanf neben den Opiaten und Kokaprodukten in die Liste der Substanzen auf, die die Nationalstaaten laut Opiumkonvention zu kontrollieren hatten. Zusätzlich verabschiedeten sie strenge Exportregeln und ersannen einen Mechanismus, nach dem es auch in Zukunft möglich sein sollte, neue Substanzen in die Verbotsliste der Opiumkonvention aufzunehmen.
Cannabis hatte es damit offiziell auf die Liste der »bösen« Drogen geschafft. Allerdings waren die USA deshalb noch nicht dazu verpflichtet, Cannabis zu verbieten, denn sie weigerten sich, die Opiumkonvention von 1925 zu ratifizieren. Das lag nicht etwa daran, dass Washington seinen Prohibitionskurs inzwischen überdacht gehabt hätte – im Gegenteil. Der US-Delegierte Stephen Porter hatte die Konferenz von Anfang an mit sehr weitreichenden Forderungen bombardiert, bei denen er kaum Kompromissbereitschaft zeigte. Porters Haltung führte zu wochenlangen Blockaden, bis die amerikanische Delegation Genf am Ende unter Protest und ohne Kompromiss verließ. Selbst dem altgedienten Drogenmissionar Brent, der ebenfalls Teil der amerikanischen Delegation war, wurde Porters Position im Lauf der Verhandlungen zu eisern. Ausführliche Gespräche mit britischen Kollegen nährten bei Brent den Verdacht, dass die Sache mit den Drogen doch komplizierter sein könnte, als es ihm in den vergangenen Jahren bewusst gewesen war. Porters Blockaden irritierten den zweifelnden Drogenmissionar zunehmend. So zog Brent sich nach dem amerikanischen Walk out von 1925 vollständig aus der Drogenpolitik zurück – etwas peinlich berührt angesichts der eigenen Verbohrtheiten der Vergangenheit, wie Drogenhistoriker William McAllister vermutet. Porter hingegen blieb bei seiner Betonposition und isolierte damit die USA in der internationalen Drogenpolitik, die nun zunehmend eine Sache des Völkerbundes wurde.
Das Abkommen, nach dem die Nationalstaaten den Cannabiskonsum nur noch zu medizinischen Zwecken erlauben durften, galt also für die USA nicht. So durfte der Gebrauch von Hanf dort zunächst zu jedem Zweck legal bleiben. Erst später sollten Harry Anslinger und sein FBN dafür sorgen, dass Cannabis auch in den USA seinen festen Platz in der ersten Reihe der »bösen« Drogen einnahm.
Der neue FBN-Commissioner Harry Anslinger begann 1930 seinen Kampf gegen die Drogen mit einer kleinen Behörde und bescheidenen Ressourcen. Im Jahr vor seinem Amtsantritt war in New York am »Schwarzen Donnerstag« (der in Europa wegen der Zeitverschiebung als »Schwarzer Freitag« bekannt wurde) die Börse zusammengebrochen und hatte so die schwerste Weltwirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts ausgelöst und das Land in die Große Depression gestürzt. Der amerikanische Staat musste nun überall sparen, und Anslinger fürchtete, dass auch das FBN dem Rotstift zum Opfer fallen würde. So hatte seine Arbeit von Anfang an vier Prioritäten: Er kümmerte sich um die Verfolgung von Drogendelikten, um die Regulierung der Pharmaindustrie, um die internationale Drogendiplomatie – und darum, dass die Öffentlichkeit erfuhr, wie gefährlich und deswegen wichtig das Drogenproblem sei.
Um sich die öffentliche Aufmerksamkeit zu sichern und auf die Relevanz seiner Behörde hinzuweisen, konzentrierte Anslinger sich in den frühen 1930er-Jahren auf Cannabis. Diese Wahl hatte mehrere Gründe: Erstens gab es hier schon seit dem 19. Jahrhundert eine gewisse Skepsis, auf die er seine Kampagne aufbauen konnte. Zweitens hatte 1920 die mexikanische Regierung ein Cannabisverbot verabschiedet, das laut dem Hanfhistoriker Isaac Campos mit dazu beitrug, die Droge in den USA in Verruf zu bringen. Und drittens brauchten die USA Seile.
Seit 1934 führte die US-Regierung eine Liste mit Rohstoffen, die im Fall eines Krieges nur schwer zu bekommen sein würden. Einer dieser Rohstoffe war der sogenannte »Manila-Hanf«, der ausschließlich von japanischen Herstellern auf den (weiterhin amerikanischen) Philippinen produziert und für die Herstellung von Seilen für die Marine gebraucht wurde. Zu Beginn der 1930er-Jahre begann sich nämlich abzuzeichnen, dass Japan in Zukunft kein zuverlässiger Handelspartner mehr für die USA sein würde.
Seit Jahrzehnten arbeitete der Inselstaat daran, seine Machtposition in Ostasien auszubauen. Im Ersten Japanisch-Chinesischen Krieg hatte Japan 1884 Korea unter seine Herrschaft gebracht und China gedemütigt, in einem weiteren, dem Russisch-Japanischen Krieg, hatte es Russland 1905 aus der chinesischen Mandschurei vertrieben. 1931 nutzte nun die japanische Armee einen selbst inszenierten Zwischenfall als Anlass, die Mandschurei zu besetzen und dort den letzten Kaiser von China als neuen Herrscher zu installieren. Kaiser Puyi hatte als Kleinkind vier Jahre lang über das Reich der Mitte geherrscht und funktionierte nun als Marionette des japanischen Imperiums. Mit dem Aufbau des neuen »Kaiserreiches Mandschukuo« wurde nun immer deutlicher, dass die japanischen Expansionspläne keine Rücksicht auf den Weltfrieden nehmen würden. Als die USA und der Völkerbund sich weigerten, Mandschukuo als unabhängigen Staat anzuerkennen, trat Japan 1933 kurzerhand aus dem Völkerbund aus. Stattdessen verbündete es sich bald mit Deutschland, das seit Hitlers Wahl zum Reichskanzler im Januar 1933 ebenfalls begann, seine Expansionsbestrebungen immer rücksichtsloser zu verfolgen und dabei die internationalen Beziehungen mit Füßen zu treten.
1934 begannen nun vor diesem Hintergrund die USA damit, sich auf einen möglichen Weltkrieg einzustellen. Mit dem japanischen Manila-Hanf von den Philippinen konnte dazu jedoch nicht mehr gerechnet werden. Um diesen Rohstoff zu ersetzen, entschloss man sich Mitte der 1930er-Jahre, den Hanfanbau in den USA anzukurbeln. Gleichzeitig wollte man verhindern, dass dadurch der Marihuanahandel und -konsum gleich mit in Schwung kam, und brauchte deshalb plötzlich ein Gesetz, das explizit zwischen dem Nutzen der Stängelfasern und dem Missbrauch der psychoaktiven Pflanzenteile unterschied. Doch die Versorgung der Marine mit Seilen war 1934 zwar eine Frage der nationalen Sicherheit, aber kein Thema, das öffentlich besprochen worden wäre – war doch keineswegs ausgemacht, ob, wann und in welcher Form sich die USA an einem möglichen neuen großen Krieg beteiligen würden. So argumentiert Historiker William McAllister sehr überzeugend, das amerikanische Cannabisverbot sei tatsächlich nicht ausschließlich durch Anslingers machtpolitische Ambitionen motiviert gewesen, sondern habe handfeste sicherheitspolitische Hintergründe gehabt. Das schließt jedoch nicht aus, dass der FBN-Chef die Marihuanakampagne hervorragend auch für seine Öffentlichkeitsarbeit zu nutzen wusste.
Zu der Zeit, in der die US-Regierung Hanf als heimischen Rohstoff zu fördern plante, begann das FBN eine kleine Medienoffensive, die die erste amerikanische Marihuanagesetzgebung vorbereiten sollte. In dieser ging es mit keinem Wort um Seile oder Weltkriege. Vielmehr bemühte sich Anslinger, in dunklen Farben auszumalen, wie gefährlich Marihuana für die Gesellschaft und besonders für die Jugend sei. Sein öffentlicher Feldzug gegen die Marihuanablüten erregte auch deshalb so viel Aufsehen, weil sich der oberste Drogenbekämpfer dabei nur sehr lose an die Fakten hielt.
In seinem Nachlass ist eine Akte überliefert, die unter Drogenhistoriker*innen gern als »Gemetzelakte« (»gore file«) bezeichnet wird. Dort findet sich eine ganze Reihe von Horrorgeschichten über Cannabiskonsum. Sie alle haben gemeinsam, dass sie das Kiffen verteufeln: Sie berichten von afroamerikanischen oder mexikanischen Konsument*innen, von der Gefahr, die Marihuana für (weiße) Kinder und Jugendliche bedeute, und von brutaler Gewalt, angeblich begangen von bekifften, wahnsinnig gewordenen (typischerweise männlichen) Tätern. Eine genauere Untersuchung der einzelnen Fälle durch den Historiker Bob Beach hat gezeigt, dass die hier gesammelten Vorkommnisse vermutlich mit realen Begebenheiten in Beziehung stehen, wobei unklar ist, ob Anslinger sie von Polizeibehörden zugespielt bekam oder ob seine Mitarbeiter sie einfach aus der Zeitung abschrieben. Bei genauerem Hinsehen belegen diese Fälle jedoch nur, dass manchmal derselbe Mensch Cannabis konsumiert und ein Verbrechen begeht. Einen direkten Zusammenhang zwischen Konsum und Kriminalität kann Anslinger mit diesen Geschichten nicht belegen, und in den meisten Fällen ist dieser Zusammenhang nur mit viel Fantasie und schlechtem Willen konstruierbar. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, immer und immer wieder genau diesen Zusammenhang zu behaupten.
Regelmäßig griff Anslinger in seinen Reden und schriftlichen Äußerungen auf die Geschichten aus seinem gore-file-Fundus zurück, um seine Warnungen vor Marihuana mit anekdotischer »Evidenz« zu untermauern. Mit ihrer Hilfe zog er in den Dreißigerjahren systematisch eine Angstkampagne auf, in der er Marihuana zur neuen großen Drogengefahr erklärte und immer wieder eindringlich vor dessen Folgen warnte. Seine Gruselgeschichten verbreitete er dabei auf verschiedenen Wegen. Die wirksamsten Veröffentlichungen in diesem Zusammenhang waren zwei Filme.
Der erste und bekanntere hieß Reefer Madness, was so viel heißt wie »Joint-Wahnsinn«, und erschien 1936. Im Vorspann des Films wird eine schriftliche Warnung eingeblendet, die Anslingers Haltung zu Marihuana auf den Punkt bringt: Was nun gezeigt werde, könne erschreckend wirken, doch anders sei es nicht möglich, angemessen die schreckliche neue Drogengefahr zu beschreiben, die die amerikanische Jugend zerstöre. Marihuana sei eine gewaltvolle Droge, eine unbeschreibliche Plage, es sei: Der wahre Staatsfeind Nummer eins! (»The Real Public Enemy Number One!«) Es folgt eine Beschreibung des Marihuanarausches: Zuerst komme heftiges, unkontrollierbares Gelächter, dann gefährliche Halluzinationen, fixe Ideen, emotionale Verwirrung, die totale Unfähigkeit, seine Gedanken zu kontrollieren. Dann verliere man die Fähigkeit, physischen Gefühlen (»physical emotions«) zu widerstehen – was auch immer das sein mag. Letztlich führe der Konsum zu schockierenden Gewalttaten und münde in unheilbarem Wahnsinn. Der Vorspann endet mit dem dramatischen Appell: Etwas muss getan werden, um diese grässliche Bedrohung auszulöschen. »Denn Marihuana kann als Nächstes nach deinem Kind greifen… oder nach deinem… oder nach DEINEM!«
Es folgt zunächst ein Vortrag vor einer Versammlung von Eltern. Ein schulmeisterlicher Dozent informiert über den Drogenhandel und die Gefahr von Marihuana, verliest dabei einen Brief des FBN und hat dabei die Hauptrolle in der möglicherweise unelegantesten Informationsszene der Filmgeschichte. Dann beginnt der Plot, der angeblich auf Forschung zur Wirkung von Marihuana beruht und Anslingers Behauptungen geschickt dramatisiert: Ein skrupelloses, verlottertes Paar verkauft Marihuana an Schülerinnen und Studenten, einer von ihnen fährt im Rausch einen Passanten zu Tode, ein anderer betrügt unter Einfluss von Marihuana seine Freundin, ein Dealer vergewaltigt seine jugendliche Marihuanakundin, deren (ebenfalls bekiffter) Freund will ihr zur Hilfe kommen und gerät in eine Schlägerei mit dem Dealer, bei der am Ende das junge Mädchen erschossen wird. So und ähnlich geht es weiter, bis ein weiterer Drogendealer totgeschlagen, seine Komplizin aus dem Fenster gesprungen und ein anderer Dealer auf Lebenszeit in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen ist. Zum Schluss erscheint noch einmal der Schulmeister aus der Einleitung und droht, es könne jeden treffen. Zu dramatischer Streichermusik wird zu guter Letzt die Botschaft eingeblendet: »TELL YOUR CHILDREN«. Mit den realen physiologischen und psychischen Auswirkungen von Marihuana hat dieser Film nichts zu tun. Doch die dramatischen Verzerrungen, die er produziert, kamen Anslinger sehr gelegen: Sie machten Angst vor Cannabis, und es entstand der Eindruck von einem schwerwiegenden Problem, das dringend gelöst werden müsse.
Der zweite Propagandafilm gegen Marihuana erschien 1937, hieß Assassin of Youth (»Mörder der Jugend«) und teilte diesen Titel mit einem Aufsatz von Anslinger selbst, in dem er von Todesfällen im Zusammenhang mit Marihuana berichtete. Der Titel spielt auf die von Anslinger gern wiederholte Anekdote an, das Wort »assassin« (Mörder) stamme von dem Wort »Haschisch« ab. Die Etymologie ist hier jedoch nur teilweise auf Anslingers Seite. Tatsächlich geht der Begriff »assassin« auf den Geheimbund der Assassinen (englisch: »assassins«) zurück, dessen Mitglieder im 13. Jahrhundert in Persien und Syrien eine Reihe von politisch motivierten Morden begingen. Ob jedoch die Assassinen, von denen sich das englische Wort »assassin« ableitet, tatsächlich nach der Droge Haschisch benannt wurden, ist unklar.
Selbst wenn es so wäre, beweist es weder, dass die Assassinen tatsächlich Haschisch konsumierten, noch, dass dieser potenzielle Konsum irgendetwas mit ihrer Gewalt zu tun hatte. Im Widerspruch zu Anslingers Erzählungen vom Marihuanawahnsinn waren ihre Morde keineswegs Taten von Rausch, Enthemmung und Kontrollverlust, sondern sorgfältig geplante Tötungen von mächtigen Männern. Trotzdem nutzte Anslinger die Wortspielerei um »hashish« und »assassin« immer wieder. Er verknüpfte damit eine dezidiert negative Konnotation mit dem Wort »Haschisch«, erzeugte außerdem gezielt und ziemlich raffiniert den Eindruck, die gefährliche Wirkung von Marihuana sei schon seit Hunderten von Jahren bekannt. Der Umstand, dass wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit kaum einer seiner Zuhörer oder Leserinnen sich mit der Geschichte Persiens im 13. Jahrhundert auskannte, verstärkte noch die Bereitschaft, Anslingers vermeintlichen »Beweis« als solchen anzunehmen. Die orientalistischen Untertöne der Anekdote passten gleichzeitig zur Grunderzählung, dass Drogen etwas Fremdes, Unamerikanisches seien, gegen das man sich zu wehren habe. Als griffige Anekdote fand dieser Faktoid so bald Eingang in den Kosmos der urbanen Drogenmythen: »Did you know!? The word ›assassin‹ comes from ›hashish‹ …«
Anslingers Angstkampagne hatte Erfolg. 1937 wurde im Kongress der Marihuana Tax Act beschlossen, der Marihuanaprodukte besteuerte und festlegte, dass nur Apotheker, Ärzte und die Pharmaindustrie berechtigt seien, diese Steuer zu entrichten. Wer nicht zu diesen Gruppen gehörte und mit Marihuana erwischt wurde, konnte also dafür verurteilt werden, die Marihuanasteuer nicht gezahlt zu haben. Faktisch war die Droge damit aus dem Topf der »guten« Drogen in den Topf der »bösen« Drogen gewandert – Marihuana war kriminalisiert. Anslinger hatte damit seinen Kompetenzbereich deutlich erweitert und außerdem nebenbei dafür gesorgt, dass die Droge landauf, landab durch die Schlagzeilen gejagt wurde, und im Hintergrund die Versorgung der Marine mit Seilen im Kriegsfall sichergestellt.
In den USA gelangte Cannabis so in den 1930er-Jahren in den Fokus der Drogenpolitik. Anslingers Kampagne sorgte dafür, dass zwischen Marihuana, Kokain und Heroin in der öffentlichen Wahrnehmung kaum differenziert wurde. Dabei blieb Heroin als König der gefährlichen Drogen über Jahrzehnte das wichtigste Thema des FBN. An zweiter Stelle stand jedoch nun nicht mehr Kokain, für das sich Behörden und Öffentlichkeit seit den Dreißigerjahren immer weniger interessierten, sondern Marihuana – und das sollte jahrzehntelang so bleiben. Dass Cannabis einmal als harmloses Mittelchen in Form von Bonbons und Sirups verkauft worden war, geriet dabei schnell in Vergessenheit oder wurde für eine Torheit der Altvorderen gehalten.
Dass Anslinger den legalen Hanfanbau zur Seilproduktion angekurbelt hatte, erwies sich im Übrigen schon bald als sinnvoll. 1939 brach in Europa mit dem Zweiten Weltkrieg tatsächlich ein neuer großer Krieg aus, und 1941 wurden auch die USA mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour in diesen Konflikt hineingezogen. In den folgenden vier Jahren machten die Mitarbeiter der amerikanischen Drogenbehörde eine Erfahrung, die ihre Strategien in den folgenden Jahrzehnten prägen sollte: Durch den U-Boot-Krieg war der transatlantische Handel empfindlich gestört und damit auch der Heroinschmuggel, der bislang überwiegend zwischen Südfrankreich und der amerikanischen Ostküste stattgefunden hatte.
Die Folge war für die Heroinsüchtigen in den USA eine Katastrophe: Auf dem Schwarzmarkt war plötzlich so wenig Heroin zu haben, dass ihnen oft nur die Wahl blieb zwischen dem kalten Entzug und einem Einbruch in die Opiat-Schublade einer Apotheke, von denen es plötzlich ungewöhnlich viele gab. Dass die amerikanischen Drogenunternehmer*innen sich so schnell wie möglich nach Zulieferungen aus Mexiko umsahen, konnte so schnell auch nicht helfen. Es war der einzige Moment im 20. Jahrhundert, in dem der amerikanische Drogenkonsum tatsächlich durch die Drosselung des Angebots verringert wurde: Wo nichts verkauft wird, kann man nichts kaufen. Es war dieser Zustand, den Anslinger in den folgenden Jahrzehnten wiederherstellen wollte, und so wurde die Strategie der Angebotskontrolle (»supply control«) zum Leitstern seiner Politik. Doch weil der uneingeschränkte U-Boot-Krieg für das FBN keine Option war, blieb seine Vision von der drogendichten Grenze ein Wunschtraum.
Seit Harry Anslinger 1930 sein Amt als Commissioner of Narcotics angetreten hatte, gab es in den USA nun also eine Behörde, die sich mit Drogen beschäftigte. Diese Behörde war nicht etwa dem Gesundheitsministerium unterstellt, sondern dem Finanzministerium. Das lag einerseits daran, dass ihre Vorgängerorganisation, die Prohibitionsbehörde, ursprünglich mit dem Eintreiben von Alkoholsteuern beschäftigt gewesen war. Andererseits waren die Gesetze, auf deren Grundlage das FBN arbeitete, zum großen Teil Steuergesetze: Sowohl der Harrison Act als auch der Marihuana Tax Act führten zwar zur Kriminalisierung von Drogenhandel und Drogenkonsum, doch sie waren an sich keine Strafgesetze.
Das hinderte jedoch Harry Anslinger nicht daran, sich selbst in erster Linie als Cop zu verstehen und zu inszenieren. Tatsächlich leitete er ja eine Ermittlungsbehörde, deren Name nicht zufällig dem Namen der Bundeskriminalpolizei ähnelte: Das Federal Bureau of Narcotics beschäftigte wie das Federal Bureau of Investigation (FBI) Agenten, die gegen Verdächtige ermittelten, um sie vor Gericht zu bringen.
Rückblickend ist es nicht selbstverständlich, dass sich eine Ermittlungsbehörde um das Drogenproblem kümmerte, denn sicherlich wäre auch Experten (und später immer häufiger Expertinnen) aus anderen Fachbereichen wie Gesundheit, Bildung oder Sozialpolitik etwas zu dem Thema eingefallen. Doch Anslinger war spätestens seit der Heroindürre während des Zweiten Weltkrieges davon überzeugt, dass man dem Drogenproblem nur mit Strategien der Angebotskontrolle beikommen könne. Anstatt sich etwa damit zu beschäftigen, wie man wirkungsvoll den Konsum beeinflussen und so die Nachfrage eindämmen könnte (»demand control«), setzte er auf Abschreckung durch harte Strafgesetze und wollte ansonsten in erster Linie dafür sorgen, dass Drogen möglichst gar nicht erst ins Land und auf den amerikanischen Schwarzmarkt gelangten. Das hing vor allem auch mit seiner Antwort auf die Frage zusammen, wer am Drogenproblem eigentlich die Schuld trug.
Aus Anslingers Sicht gab es auf diese Frage drei mögliche Antworten. Erstens waren diejenigen am Drogenproblem schuld, die Drogen konsumierten – vor allem, wenn sie es mutwillig taten. Kriegsveteranen, ehemalige Patient*innen und andere, denen es gelang, ihre Abhängigkeit zur Krankheit zu erklären, waren von dieser Schuldzuweisung jedoch teilweise ausgenommen. Außerdem waren die Konsument*innen gleichzeitig Opfer des Drogenproblems und kamen deshalb als Feindbild nur dann infrage, wenn sie marginalisierten Gruppen angehörten.
Deshalb traten andere Verdächtige in den Vordergrund: Zweitens standen nämlich auch die Drogen selbst im Verdacht, am Drogenproblem schuld zu sein. Obwohl es sich um unbeseelte Substanzen handelte, die keinen eigenen Willen haben, traten sie Mitte des 20. Jahrhunderts häufig als Täter auf, denen eine Art eigene Handlungsmacht zugetraut wurde. Immerhin handelte es sich um Wirk-Stoffe, auf Englisch: »active ingredients«, also aktive Zutaten. Schon die Semantik deutete also auf das Eigenleben dieser Stoffe hin. Begründet wurde die Vorstellung von Drogen als Akteuren außerdem durch eine Reihe von Experimenten, bei denen in den 1950er-Jahren Laborratten in Käfige gesetzt wurden, in denen sie freien Zugang zu einem Morphium-Wasser-Cocktail hatten. Zuverlässig wurden diese Ratten morphiumabhängig, ohne dass man sie gezwungen hatte, dieses Wasser zu sich zu nehmen. Aus diesen Experimenten schlossen die Forscher, dass allein die Erhältlichkeit von suchtbildenden Substanzen dazu ausreiche, abhängig zu machen.
Inzwischen ist diese Vorstellung, die auch mit den Annahmen des 19. Jahrhunderts übereinstimmt und schon damals die moralische Verurteilung von Süchtigen befeuert hatte, widerlegt. In der aktuellen Forschung geht man davon aus, dass Substanzabhängigkeit deutlich vielschichtiger ist und immer durch mehrere Faktoren ausgelöst wird, nie aber durch den Kontakt mit einer Substanz allein. Experimente in den 1970er-Jahren haben gezeigt, dass auch Ratten durchaus nicht zwangsläufig süchtig werden, wenn man ihnen Morphium zur Verfügung stellt – außer, man sperrt sie allein in trostlose Käfige, in denen das Morphium die einzige Beschäftigungsmöglichkeit darstellt. Ratten, die gemeinsam in einem geräumigen Rattenparadies voller Spielsachen leben (»Rat Park«), lassen den Morphiumcocktail stehen – sie probieren zwar mal, entwickeln aber nur selten eine Abhängigkeit. Die Rat-Park-Experimente zeigten, dass es nicht das Morphium war, das eigenständig die Abhängigkeit erzeugte, sondern dass die Lebensumstände der Betroffenen für ihren Substanzkonsum eine wichtige Rolle spielten. Diese Beobachtung wurde in der Folge auch im Zusammenhang mit menschlichem Substanzkonsum immer häufiger gemacht und änderte langsam das Expert*innenwissen zu Abhängigkeit, ohne jedoch im kollektiven Bewusstsein die Vorstellung auszulöschen, manche Drogen hätten eine diabolische und unwiderstehliche Anziehungskraft und Wirkmächtigkeit, die zwangsläufig in den Drogensumpf führe.
Von den Erkenntnissen über Substanzabhängigkeit aus den 1970er-Jahren konnten Anslinger und seine Kollegen in den 1950er-Jahren jedoch noch nichts wissen. Wenn sie vermuteten, die Droge sei der wichtigste Faktor bei der Entwicklung einer Abhängigkeit, entsprach das dem aktuellen Wissensstand. Tatsächlich verwendete Anslinger deshalb einen großen Teil seiner Arbeitszeit darauf, gegen die Drogen selbst vorzugehen. Er versuchte, sie daran zu hindern, ins Land zu gelangen, er ließ sie aus dem Verkehr ziehen, wo er nur konnte, und er ging mithilfe von Diplomatie und Außenpolitik auch direkt gegen den Drogenanbau und die Drogenproduktion im Ausland vor.
Weil nun die Drogen selbst die Bösen waren, entstand während Anslingers Amtszeit die Ikonografie der Beschlagnahmung: Zuverlässig wurden bei Meldungen über erfolgreiche Drogenfahndung nun stolze Beamte mit Stapeln, Haufen oder Bergen von beschlagnahmtem Rauschgift abgelichtet. Sie wurden zum Äquivalent des sogenannten mugshots, also des erkennungsdienstlichen Fotos eines Verhafteten, das in Film und Fernsehen den Triumph der verhaftenden Behörde und die Niederlage des betroffenen Gangsters markierte. Die Bildsprache der konfiszierten Drogenberge passte hervorragend zu Anslingers drogenpolitischer Strategie, denn sie erzählte gleichzeitig von den immensen Erfolgen der Polizeibehörden und führte mahnend vor Augen, wie viele Drogen im Umlauf waren.
Abgesehen von den Konsument*innen und den Drogen selbst hatten Anslinger und sein FBN aber vor allem eine dritte Gruppe von Verdächtigen auf dem Zettel, der sie das Drogenproblem anlasteten und mit der sie sich besonders in den 1950er- und 1960er-Jahren schwerpunktmäßig beschäftigten. Diese Beschuldigten machten sich auf Pressefotos der Polizei ebenfalls gut und versorgten nebenbei die amerikanische Drogenpolitik mit einem Geflecht aus Erzählungen, das keine Zweifel an ihrer Relevanz zulassen sollte. Diese dritte Gruppe von Verdächtigen war: die Mafia.
Schon im frühen 20. Jahrhundert hatten die Drogenhändler*innen besonders im Fokus der Drogenpolitik gestanden, denn diejenigen, die am Drogengeschäft und damit mitunter am Leid der anderen verdienten und mutmaßlich sogar damit reich wurden, schienen ganz besonders verurteilungswürdig zu sein. Schon früh waren sie in den Erzählungen rund um das Drogenproblem in unterschiedlichem Gewand aufgetreten: Da waren die Betreiber der chinesischen Opiumhöhlen, die ihr Opium an unschuldige Amerikaner*innen verkauften. Da waren die Dope-Doktoren, die (möglicherweise auch noch gegen Bestechungsgelder) unrechtmäßige Rezepte ausstellten. Und da waren als böswillig vorgestellte Einzelgestalten, denen für die marihuanabefeuerte Eskalation des Wahnsinns die Verantwortung zugeschrieben wurde. Der karikaturhafte Auftritt des Dealerpärchens in Reefer Madness zeigt, wie schlecht das Image der Drogendealer*innen schon in den 1930er-Jahren war.
Im Lauf der 1950er-Jahre erweiterte sich nun das Gruselkabinett der Drogen-Feindbilder um eine weitere düstere Gestalt: den Mafiaboss. Auf der Bühne der Drogenpolitik erschien er mit der Hilfe eines aufstrebenden demokratischen Senators. Sein Name war Estes Kefauver, und von Mai 1950 bis Mai 1951 leitete er einen Untersuchungsausschuss des Senats, der sich mit dem organisierten Verbrechen beschäftigte. In 14 amerikanischen Städten befragten er und seine Kollegen Zeugen zu diesem Thema, trugen Informationen zusammen und verfassten einen Abschlussbericht.
Wer nun angesichts der Vokabeln »Untersuchungsausschuss« und »Abschlussbericht« zu gähnen beginnt, hat sich bei der Beurteilung der sogenannten Kefauver Hearings gründlich geirrt. Ziel der Anhörungen war nicht nur, den Strukturen des organisierten Verbrechens auf den Grund zu gehen. Vielmehr wollte Senator Kefauver die amerikanische Öffentlichkeit über dieses Thema aufklären und dabei so viel Aufmerksamkeit generieren wie nur irgend möglich.
Während er sein erstes Ziel gründlich verfehlte, hatte er mit dem zweiten Vorhaben vollen Erfolg. Am 25. Januar 1951, als die Senatoren gerade in New Orleans waren und dort Zeugen befragten, unterbrach der einzige Fernsehsender der Stadt sein übliches Programm und übertrug eine Stunde lang live die Anhörungen zu Korruption und Kriminalität. Wie die lokale Tagespresse später berichtete, kam es zu einem regelrechten »Kefauver-Fieber«. Überall in der Stadt, in Geschäften, Büros und Wohnzimmern, strömten die schmutzigen Geschichten über das organisierte Verbrechen aus dem Anhörungssaal direkt unter die Leute. Zum ersten Mal in der Geschichte der USA war eine parlamentarische Anhörung live übertragen worden, und das atemberaubende Interesse der Bevölkerung führte dazu, dass auch bei den folgenden Sitzungen Kameras aufgestellt wurden. Anfang Februar in Detroit wurden bereits beide Anhörungstage in ihrer gesamten Länge ohne Werbepause übertragen, zwei Wochen später erweiterten die Fernsehmacher von St. Louis ihre Übertragungspläne auf Wunsch zahlreicher Zuschauer, in Los Angeles wurden alle 16 Stunden der Anhörungen live übertragen, und in San Francisco liefen die Hearings sogar auf zwei von drei Sendern – auch hier natürlich live. Den absoluten Höhepunkt des Fernsehereignisses bildeten jedoch die Anhörungen in New York City. Nicht nur fünf der sieben städtischen Fernsehsender übertrugen dort die Sitzungen, auch in 20 anderen US-amerikanischen Städten konnten die Zuschauer*innen die Hearings in Echtzeit mitverfolgen.
Und das taten sie auch. Schon im Lauf des Tages übertrafen die Einschaltquoten die durchschnittlichen Werte um das Zwanzigfache, und an den Abenden erreichten die Übertragungen Marktanteile von über 70 Prozent. So verfolgten, je nach Schätzung, zwischen 17 und 30 Millionen Zuschauer*innen die Anhörungen – und das zu einem Zeitpunkt, zu dem in den USA insgesamt erst ungefähr acht Millionen Fernsehapparate in Gebrauch waren. Anfang April berichtete das Magazin Life, noch nie habe es so etwas gegeben. In Detroit hätten die Telefongesellschaften berichtet, dass Telefonleitungen, die normalerweise ständig blockiert waren, am Tag der Anhörungen stundenlang frei gewesen seien. Tausende von Leuten seien ihren Jobs ferngeblieben. Kaufhäuser und Theater hätten leer gestanden. Doch auf den Straßen seien die Leute auch nicht gewesen. Stundenlang hätten sie vor den Bildschirmen gesessen und tagelang über kaum etwas anderes gesprochen.
Dass plötzlich ganze Städte mit offenem Mund dem bürokratischen Prozedere einer Kongressanhörung lauschten, hatte weniger mit einer plötzlichen amerikanischen Liebe zu den inneren Mechanismen der Demokratie zu tun als mit dem Gegenstand der Anhörungen. Tatsächlich war die Geschichte, die im Rahmen der Kefauver Hearings erzählt wurde, faszinierend. Sie handelte von einer unheimlichen kriminellen Organisation namens »Mafia«, die angeblich ihre Tentakel in alle Gemeinden des Landes ausgestreckt hatte. Sie bestand den Untersuchungsergebnissen zufolge überwiegend aus italienischen Einwanderern, die sich angeblich zu einem riesigen, sehr mächtigen hierarchischen Gebilde zusammengeschlossen hatten und in allen größeren Städten Amerikas Zweigstellen unterhielten. Gelenkt werde diese Organisation von Italien aus, und sie verdiene ihr Geld mit den Lastern der amerikanischen Bürger*innen, denn sie organisiere das Glücksspiel, die Prostitution und den Drogenhandel.
Es handelte sich bei dieser Geschichte um eine klassische Verschwörungstheorie: Da hatten sich im Verborgenen übelmeinende Kräfte gegen Amerika verschworen, und nun wurden sie von entschlossenen Politikern ans Licht gezerrt. Um sie noch etwas gruseliger und skandalträchtiger zu machen, war die Geschichte gewürzt mit einer ordentlichen Dosis Fremdenfeindlichkeit, denn die angeblichen Mafiosi kamen überwiegend aus dem fernen Italien und unterwanderten mit ihren Verbrechen die amerikanische Gesellschaft.
All das war Stoff für öffentliche Aufregung – doch die sensationellen Einschaltquoten erklärt es noch nicht. Diese waren vielmehr den Auftritten »echter Mafiosi« zu verdanken, die bei den Anhörungen vor laufender Kamera aussagten und damit zur eigentlichen Sensation der Veranstaltung wurden. Besonders großes Aufsehen erregte Frank Costello, der in New York aussagte.
Frank Costello hieß ursprünglich Francesco Castiglia und war 1895 als kleines Kind mit seiner Familie aus Süditalien nach New York City eingewandert. Er wuchs in Armut auf und wurde schon als Jugendlicher wegen erster Gewalt- und Eigentumsdelikte verurteilt. Zu einem einflussreichen Untergrundunternehmer wurde er, wie so viele seiner Kollegen, als er während der Prohibitionszeit Geld mit Alkohol verdiente, doch auch Schutzgelderpressung und illegales Glücksspiel zählten zu seinen Geschäftsbereichen. In den Vierzigerjahren hatte er es bereits als »America’s No. 1 Mystery Man« zu zweifelhaftem Ruhm gebracht – und nun sagte er bei den Kefauver Hearings vor laufender Kamera aus. Er war eine beeindruckende Erscheinung und trat den Senatoren trotz seiner kriminellen Vergangenheit voller Selbstbewusstsein entgegen. Auf die Frage, ob er sich immer an die amerikanischen Gesetze gehalten habe, antwortete er, er glaube schon – obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits mehrfach verurteilt worden war. Auf die Frage, was er in seinem Leben zum Wohlergehen der amerikanischen Gesellschaft beigetragen habe, schwieg er erst bedeutungsschwer. Dann sagte er, er habe seine Steuern gezahlt. Auch das stimmte nicht, und vielleicht hatte er gerade deshalb die Lacher auf seiner Seite.
Costellos Auftritt war der Höhepunkt einer ganzen Parade von mehr oder weniger wichtigen Exponenten der Unterwelt, die vor Kefauvers Komitee aussagten. Die öffentliche Befragung der kriminellen Prominenz vermittelte den Zuschauern einen Eindruck von Authentizität. Sie hatten das Gefühl, hautnah dabei gewesen zu sein, als Kefauver die Wahrheit über die Mafia aufdeckte. Das trug zu ihrer Bereitschaft bei, die Interpretationen des Kefauver-Komitees zu glauben – auch wenn für die Verschwörungsgeschichte von der weitverzweigten internationalen Verbrecherorganisation bei den Anhörungen keine stichhaltigen Beweise geliefert wurden und auch sonst bei genauerem Hinsehen nur Informationen wiederholt wurden, die Fachleuten schon zuvor bekannt gewesen waren. Am Ende der Anhörungen hatte sich in weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft der Eindruck eingestellt, es gebe eine italienische Mafia, die mit ihren kriminellen Machenschaften die amerikanische Gesellschaft bedrohe. In Kefauvers Abschlussbericht hieß es dann auch, Behörden und Bürger*innen müssten nun ständig wachsam sein und sich auf eine Festigung der privaten wie der öffentlichen Moral konzentrieren, um dieser nationalen Bedrohung zu begegnen.
Dass die Kefauver Hearings zu einem so eindrücklichen Medienereignis geworden waren, freute vor allem einen Mann: Harry Anslinger. Denn auch er hatte vor dem Komitee ausgesagt und als einer der ersten Zeugen die Bühne genutzt, um als Experte seine Interpretationen der Mafia und ihrer Verbrechen in die öffentlichen Debatten und politischen Deutungen einzuspeisen. Als Erstes hatte Anslinger bestätigt, dass die Mafia als internationale Verbrecherorganisation überhaupt existiere. Diese Annahme war in den Jahren zuvor von den Strafverfolgungsbehörden bezweifelt worden. Allen voran hatte FBI-Chef Edgar Hoover erklärt, eine Mafia würde es nicht geben. Anslinger behauptete nun das Gegenteil und warf das Gewicht seines Amtes in die Waagschale, um seiner Deutung Plausibilität zu verleihen: Die Mafia sei eine niederträchtige, grenzüberschreitende, geheimbündisch strukturierte Organisation, die der »Lasterkönig« (»vice king«) Lucky Luciano von Italien aus lenke. Das gefährlichste und lukrativste Geschäft dieser Organisation sei – selbstverständlich! – der Drogenhandel, und nicht etwa das Glücksspiel, wie bis dahin angenommen worden war.
Nachdem Anslinger diese Deutung ausgeführt hatte, folgte ein Werbeblock für die Arbeit des FBN: Man könne der Mafia nur mit Strafverfolgung beikommen, und das tue seine Behörde »effizient und effektiv«. Allerdings sei das FBN bedauernswert unterbesetzt und brauche dringend Verstärkung.[16] Bestätigt wurden Anslingers Deutungen von zwei seiner Agenten, die ganz in seinem Sinne aussagten und Akten des FBN als Anschauungsmaterial mitbrachten. Zwar handelte es sich bei diesen »Beweisen« ausschließlich um selbst fabrizierte Schriftstücke, die einfach nur die tatsächlich nicht so leicht zu beweisenden Ansichten des FBN zu Papier brachten. Doch immerhin waren es offizielle Dokumente, mit denen hier die Referate der Sachverständigen illustriert wurden, und so verliehen sie Anslingers Mafia-Erzählung weiteres Gewicht.
Von einem FBN-Agenten stammte auch die Geschichte von der Omertà, die den Mafia-Mythos noch geheimnisvoller und gleichzeitig plausibler machte. Sie ging so: Jedes Mafia-Mitglied musste dem FBN zufolge einen Verschwiegenheits- und Treueeid schwören. Jeder, der den Behörden gegenüber sein Schweigen breche, werde mit dem Tode bedroht, und auch seine Familienmitglieder seien nicht sicher vor der Rache der Mafia. Diese Geschichte erinnerte an das, was man über Geheimbünde bereits wusste, und steigerte den Gruselfaktor. Vor allem aber erklärte sie das lückenhafte Wissen der Behörden über die Mafia: Dass so wenig über diese Organisation bekannt war, deutete demnach nicht etwa darauf hin, dass es diese Organisation in der behaupteten Form möglicherweise gar nicht gab oder dass sie ganz anders funktionierte und aussah – sondern darauf, wie mächtig, geheimnisvoll und verschwiegen sie sei.
Es gelang Anslinger und seinen Agenten, die Senatoren von der FBN-Version des Mafia-Mythos zu überzeugen. Im Abschlussbericht der Kefauver Hearings liest sich die Definition des Mafia-Problems wie eine Zusammenfassung der politischen Ansichten des FBN-Chefs. Begeistert erklärte auch Kefauver höchstpersönlich in dem Buch, das er über die Anhörungen schrieb, niemand habe ihm bei seiner Mafia-Jagd so sehr geholfen wie das FBN.
Die explosionsartige Aufmerksamkeit, die die amerikanische Öffentlichkeit den Mafia-Anhörungen entgegengebracht hatte, machte Kefauver über Nacht in ganz Amerika bekannt und bescherte ihm einen glanzvollen Aufstieg innerhalb der Demokratischen Partei, sodass er 1956 als Vizepräsident bei den Präsidentschaftswahlen kandidierte. Dieser karrieremäßige Glücksgriff fand schnell Nachahmer, und das Thema des organisierten Verbrechens war noch lange nicht abschließend behandelt. So fanden im Lauf der Fünfziger- und Sechzigerjahre noch zwei weitere ausführliche Anhörungsserien statt, in denen es wieder um organisierte Kriminalität ging, bei denen weiter am Mythos der Mafia gestrickt wurde und bei denen ambitionierte Politiker wie zum Beispiel Bobby Kennedy ihre Karrieren in Schwung brachten.
Immer wieder ging es bei den Anhörungen darum, neue Beweise für die Existenz der Mafia vorzulegen und neue Einzelheiten über ihre Struktur und Arbeitsweise zu enthüllen. So beschäftigte sich zum Beispiel das sogenannte Watchdog Committee 1959 eingehend mit dem legendären Mafia-Treffen von Apalachin. Am 14. November 1957 hatte die Polizei in der kleinen Stadt Apalachin im Bundesstaat New York im Anwesen eines Mannes namens Joseph Barbara eine Versammlung unterbrochen und eine Reihe der Gäste verhaftet. Die meisten Anwesenden kamen aus New York oder New Jersey, und keiner von ihnen machte je eine Aussage darüber, was bei dem Treffen besprochen worden war.
Doch Joseph Barbara galt als einflussreicher Mafia-Boss, und schon bald legten sich Ermittler und auch die Abgeordneten bei den Anhörungen darauf fest, dass es sich bei dem Treffen um eine Art Vorstandssitzung der Mafia gehandelt habe. Die Mafia werde nämlich geleitet von einer nationalen »Kommission«, bestehend aus Mafia-Vertretern aus dem ganzen Land. Diese Kommission habe bei Mr Barbara getagt – und nun sei ihre Existenz endlich eindeutig bewiesen. Dass einer der zuständigen Ermittler die Stammbäume der Anwesenden verglich und zeigte, dass ungefähr die Hälfte der Anwesenden miteinander verwandt oder verschwägert waren, galt als Beleg für die These, die Mafia sei die Verschwörung einiger weniger, eng verknüpfter italienisch-stämmiger Sippen. Wieder trat in diesem Zusammenhang auch Anslinger auf. Er deutete das Treffen von Apalachin als Beweis für seine These, die Mafia sei eine uralte italienische Geheimgesellschaft.
Ein anderer »Beweis« für die Existenz der Mafia, den in den frühen Sechzigerjahren ein weiterer Untersuchungsausschuss vorlegte, kam von einem eindrucksvollen Kronzeugen. Sein Name war Joseph Valachi, und er inszenierte sich als wichtiges Mafia-Mitglied, das nun »auspackte« und damit sein Leben riskierte. Ausführlich berichtete er von den hierarchischen Strukturen der Mafia und von ihren kriminellen Machenschaften. Besonders eindrücklich war seine Erzählung von dem Treueeid, den er angeblich während seiner Initiation als Mafia-Mitglied hatte schwören müssen: In seiner hohlen Hand habe er ein Stück Papier gehalten, das der Mafia-Boss in Brand gesteckt habe. Dann habe er schwören müssen: »So werde ich brennen, wenn ich das Geheimnis der Cosa Nostra verrate.« Valachi lieferte mit dieser Geschichte einen Beleg für die Theorie der Omertà und fügte der Vorstellung von einem kriminellen Geheimbund anschauliche Details hinzu. Auch sonst bestätigte er manche der Theorien, die die Behörden im Lauf der vergangenen Jahre aufgestellt hatten: dass die Mafia aus 24 Familien bestehe, zum Beispiel, oder dass sie streng hierarchisch organisiert sei. Nicht zuletzt »verriet« Valachi den angeblich »wahren Namen« der Mafia, den Öffentlichkeit und Presse sofort bereitwillig übernahmen: La Cosa Nostra.
Begeistert waren von all diesen pikanten Details vor allem Autoren, die mit Werken des True-Crime-Genres ihr Geld verdienten. Gangsterfilme, Krimis, aber besonders Erzählungen, die angeblich auf wahren Geschehnissen beruhten, erlebten parallel zu den Mafia-Anhörungen einen Boom. Wie Joseph Albini und sein Kollege Jeffrey McIllwain gezeigt haben, sind die Übergänge zwischen Fakten und Fiktionen hier fließend: Die Autoren ließen sich von den Mafia-Anhörungen inspirieren, die Vorstellungen der Ermittler waren aber gleichzeitig geprägt von fiktionalen Stoffen zum Mafia-Thema – und auch die Verbrecher griffen bei ihrer Selbstinszenierung mitunter auf Muster zurück, die sie aus Film und Fernsehen kannten. Dieser »inzestuöse Zirkel«, wie Albini und McIllwain dieses chaotische Voneinander-Abschreiben nannten, führte dazu, dass bald die gängigsten Annahmen zum Thema Mafia so häufig wiederholt worden waren, dass sich die Gesellschaft darauf einigte, sie als Fakten zu behandeln.[17]
In diesem wilden Gemisch aus Gangstergeschichten, Ermittlungsergebnissen und Spekulationen geriet die Frage nach der Belegbarkeit früh aus dem öffentlichen Fokus. Dabei hatte es schon seit den Kefauver Hearings kritische Stimmen gegeben, die darauf hingewiesen hatten, wie wenig stichhaltig viele der »Beweise« waren, die Abgeordnete und Zeugen für die Mafia-Thesen anführten. Seit den 1970er-Jahren entstand dann ein ganzer kriminologischer Forschungszweig, der die Mafia-Theorien kritisch beleuchtete und Stück für Stück zeigte, wie Behörden und Regierung folgenschweren Fehlschlüssen aufgesessen waren. Trotzdem halten sich viele der Vorstellungen, die durch die Mafia-Anhörungen geprägt wurden, bis heute.
Das Hauptproblem der Mafia-Theorien war, dass sie von einzelnen ans Licht gekommenen Details in häufig blinder Verallgemeinerung auf ein großes Ganzes schlossen. Dabei wurde häufig der Wert der bekannten »Beweise« überschätzt, das Ausmaß des eigenen Unwissens aber gleichzeitig unterschätzt. An den Beispielen von Joseph Valachi und dem »Mafia-Treffen« von Apalachin lässt sich dieser Mechanismus gut zeigen. Valachis Aussage wurde nur von einem einzigen Zeugen bestätigt, nämlich von ihm selbst. Der Kriminologe Joseph Albini weist zu Recht darauf hin, dass das doch im Verhältnis zur Tragweite der daraus abgeleiteten Aussagen ein recht kleines Sample sei. Hinzu kommt, dass Valachi seiner eigenen Aussage zufolge kein großer Boss war, sondern eher auf einem der mittleren Hierarchiegrade einzuordnen wäre. Woher er von dieser Position aus einen so detailreichen Überblick über die gesamte Organisation der doch so geheimnisvoll agierenden Mafia gehabt haben soll, bleibt unerklärt.
Vor allem aber darf bei der Beurteilung seiner Aussagen nicht vergessen werden, dass für Valachi sehr viel davon abhing, wie er sich vor dem Untersuchungsausschuss präsentierte. Egal, ob stimmte, was er da aussagte – der Rückweg in eine kriminelle Karriere unter seinen alten Arbeitgebern war ihm nach seiner Aussage mit Sicherheit verwehrt. Seine Zukunft hing also nun weitgehend davon ab, wie sein Publikum ihn beurteilte, ob es ihm glaubte und für wie wichtig es ihn hielt. Unter diesem Druck mag Valachi sich Mühe gegeben haben, die Wahrheit zu sagen. Genauso plausibel wäre jedoch die Annahme, dass er versuchte, die von ihm angenommenen Erwartungen seines Publikums zu erfüllen und seine Aussage also an das anzupassen, was er aus Presse, Film und Fernsehen über die öffentlichen Erkenntnisse zur Mafia wusste. Weil die Behörden wenig Möglichkeiten hatten, seine Aussagen zu überprüfen, konnte er seiner Fantasie weitgehend freien Lauf lassen, ohne dass das jemand hätte merken können. Wie viel und welche Teile seiner Aussagen mit der Wirklichkeit übereinstimmen, lässt sich bis heute nicht klären.
Auch am Umgang mit der Geschichte von Apalachin lässt sich ablesen, wie bereitwillig die amerikanische Öffentlichkeit blinde Flecken der gesicherten Erkenntnis mit Fantasie füllte und sich das Ergebnis am Ende als »Enthüllung« verkaufen ließ. Denn dass sich in Apalachin eine Reihe von Männern getroffen hatte, von denen einige miteinander verwandt waren, beweist an sich gar nichts. Nur, wer darin unbedingt einen Beweis sehen will und von vornherein die Existenz einer Mafia voraussetzt, gerät in folgenden Zirkelschluss: Es gibt eine Mafia, und Joseph Barbara ist ein Mafia-Boss. Wenn sich dieser Boss jetzt mit anderen italienischstämmigen Männern trifft, sind die bestimmt auch Teile der Mafia, denn die Mafia ist schließlich eine italienische Verschwörerbande. Dass sie sich aber getroffen haben, beweist also, dass es diese Verschwörerbande tatsächlich gibt. Und dass niemand von ihnen verraten will, worüber dort gesprochen wurde, kann nur ein Beweis dafür sein, dass sie zur Mafia gehören, denn die Mafia verbietet schließlich ihren Mitgliedern, ihre Geheimnisse zu verraten.
Fantasievolle Fehldeutungen und großzügige Schlüsse vom Detail aufs große Ganze prägten insgesamt die Interpretation der Mafia, die in den 1950er- und 1960er-Jahren in den USA konstruiert wurde und zum Teil auch jenseits der einschlägigen Gangsterfilme bis heute überlebt hat. Immer wieder hatte Harry Anslinger dabei seine Finger im Spiel. Seine Autorität als Leiter der Drogenbehörde machte den Mafia-Mythos plausibel. Indem Anslinger erfolgreich behauptete, das Drogengeschäft sei der wichtigste Geschäftszweig der Mafia, gelang es ihm, sich selbst zum obersten Mafia-Bekämpfer zu stilisieren. Das hatte für ihn und seine Behörde viele Vorteile: Es sicherte ihm nicht nur die Deutungshoheit auf diesem Gebiet, sondern auch Aufmerksamkeit, politisches Gewicht und damit Ressourcen für seine Behörde, die angesichts der Mafia-Bedrohungen vor Etatkürzungen geschützt war und nun nach und nach zu wachsen begann.
Vor allem aber konnte Anslinger mithilfe der Mafia-Erzählung seine Handlungsspielräume in der Drogenbekämpfung erweitern: Es war der Kampf gegen die Mafia, vor dessen Hintergrund zwischen 1950 und 1970 eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet wurde, die es den Strafverfolgungsbehörden erleichterten, Drogenkriminelle zu verfolgen und zu bestrafen. 1951 wurde im Kielwasser der Kefauver Hearings der Boggs Act verabschiedet, der die Strafen für Drogendelikte massiv verschärfte und Mindesthaftstrafen für bestimmte Drogenvergehen festlegte. Mit diesem Gesetz erfüllte der Kongress die Wünsche von Anslinger, härter durchgreifen zu dürfen, hoffte auf eine abschreckende Wirkung und legte die Grundlage für Inhaftierungsraten, die in den folgenden Jahrzehnten immer weiter steigen sollten. 1968 wurde, ebenfalls im Zusammenhang mit den Anhörungen zum organisierten Verbrechen, die Grundlage dafür geschaffen, dass Polizeibehörden Verdächtige abhören durften. Das wire tapping, das bis heute für reale wie für fiktionale Drogenermittlungen eine wichtige Rolle spielt, griff massiv in die Privatsphäre der Betroffenen ein und erweiterte ebenfalls den Handlungsspielraum der Ermittlungsbehörden. Nicht zuletzt wurde 1970 mit dem Organized Crime Control Act ein Gesetz verabschiedet, das es erleichterte, Täter*innen zu verurteilen, die nicht selbst mit der Tat in Verbindung gebracht werden konnten, denen aber eine Zusammenarbeit mit den ermittelten Schuldigen nachgewiesen werden konnte.
Anslingers Strategie, den Mafia-Hype zu verstärken und in seinem Sinne zu lenken, ging also insofern auf, als er damit die Handlungsspielräume seiner Behörde und damit auch seine eigene Macht deutlich erweitern konnte. Gleichzeitig erwies Anslinger sich selbst, seiner Behörde und seinem Land jedoch mit seinen Mafia-Märchen einen großen Bärendienst. Denn leider entsprach seine Interpretation des organisierten Verbrechens nur sehr lose der Wirklichkeit, die viel komplexer und unordentlicher war.
Schon ein kritischer Blick in die FBN-Akten der Sechzigerjahre zeigt, dass es die eine Mafia nicht gab – jedenfalls nicht so, wie die Zeitgenoss*innen sie sich vorstellten. Das organisierte Verbrechen war mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit deutlich unorganisierter, als es die Stammbäume und Gangsterlisten der Ermittlungsbehörden suggerierten. Damit soll nicht behauptet sein, dass es das organisierte Verbrechen nicht gab. Kooperierende Kriminelle gab es durchaus, mit großer Wahrscheinlichkeit stammten viele von ihnen aus marginalisierten Milieus, und sicherlich waren auch italienische Einwanderer dabei, die aus ihrer Heimat bestimmte Methoden der Loyalitätssicherung und der Organisation von Schwarzmärkten mitgebracht hatten. Doch wie genau das organisierte Verbrechen operierte, darüber wussten die amerikanischen Behörden eben deutlich weniger, als sie selbst vermuteten. Die Strategien zur Bekämpfung von Mafia und Drogenhandel, die das FBN aus ihren Interpretationen ableitete, hatten dementsprechend wenig Erfolg.
Weil das FBN zum Beispiel davon ausging, dass es sich bei der Mafia um eine streng hierarchische Organisation handelte, wurde viel Zeit und Energie darauf verwendet, die Bosse dieser Organisation dingfest zu machen. Jahrelang trieb sich zum Beispiel der FBN-Agent Charles Siragusa in Italien herum, um den angeblichen »Boss aller Bosse« Lucky Luciano seiner Mafia-Tätigkeiten zu überführen – ohne jeden Erfolg. Die Hoffnung, dass durch die Verhaftung eines angeblichen Bosses die ganze Organisation zusammenbrechen und ihre Tätigkeiten einstellen würde, wurde nie erfüllt. Denn wie die kriminologische Forschung der folgenden Jahrzehnte zeigen sollte und wie auch ein genauerer Blick in die Akten des FBN nahelegt, waren das organisierte Verbrechen und vor allem auch der Drogenmarkt viel flexibler organisiert, als es die Mafia-Stammbäume des FBN nahelegten. Mühelos wurden verhaftete Funktionsträger durch neues Personal ersetzt, ohne dass das die flexiblen Netzwerke gestört hätte, in denen das Schmuggelgeschäft organisiert war. Ebenso mühelos gelang es den Drogenunternehmen, neue Schmuggelrouten und -methoden zu ersinnen, wenn alte aufgeflogen waren. Weil aber das FBN an seiner Interpretation der Mafia festhielt, hinkte es den innovationsfreudigen Geschäftsleuten auf den Schwarzmärkten immer einige Schritte hinterher.
Die Mafia-Mythen erfüllten also für Anslinger ihren Zweck, ohne dabei dafür zu sorgen, dass der Drogenhandel in nennenswertem Ausmaß eingeschränkt worden wäre. Auch für die amerikanische Gesellschaft hatte die Auseinandersetzung mit der Mafia zwiespältige Folgen. Zum einen war sie ein Grund, sich vor der kriminellen Verschwörung zu fürchten. Zum anderen aber lenkte diese Furcht von der noch viel größeren Angst vor der atomaren Vernichtung der Menschheit ab und hatte dabei den Vorteil, dass sie die amerikanische Gesellschaft angesichts dieser Bedrohung enger zusammenrücken ließ. Noch dazu war die Mafia-Gefahr deutlich unterhaltsamer und kinotauglicher als die Bedrohung durch den Kalten Krieg. (Was nicht hieß, dass man nicht auch James-Bond-Filme drehen konnte, die beides gleichzeitig verhandelten.)
Für die Entwicklung des Drogenproblems hatte der Mafia-Hype der 1950er- und 1960er-Jahre schwerwiegende Folgen, denn er führte dazu, Anslinger noch stärker als zuvor auf seine Strategie der Angebotskontrolle festzulegen. Jahrzehntelang floss der Großteil des Drogenbekämpfungsbudgets in Ermittlung, Strafverfolgung und Schmuggelbekämpfung. Alternative Strategien der Drogenpolitik wie zum Beispiel die Suche nach besseren Behandlungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten für Abhängige oder die Entwicklung von Aufklärungskonzepten konnten sich erst nach und nach durchsetzen, als Anslinger in den 1960er-Jahren in den Ruhestand ging und seine harte Linie etwas aufgeweicht wurde.
Harry Anslinger war als überzeugter Verteidiger von Drogenverboten aus der Prohibitionszeit hervorgegangen. Abschreckung, Repression und Angebotskontrolle hielt er für die richtigen Strategien im Umgang mit dem Drogenproblem und machte sie zu den zentralen Aufgaben des Federal Bureau of Narcotics. Er war ein überzeugter Hardliner und außerdem ein Machtmensch – nicht nur in seinem äußerlichen Erscheinungsbild, sondern auch in dieser Hinsicht erinnerte er stark an Benito Mussolini. Unter amerikanischen Drogenhistoriker*innen kursiert die unbelegte, aber vielsagende Anekdote, Anslinger habe einmal in einem Lokal keinen Platz bekommen – bis er sich als Duce zu erkennen gegeben habe, sodass sofort ein Tisch für ihn geräumt worden sei. Als bürokratischer Stratege mit felsenfesten antinarkotischen Überzeugungen und einem feinen Gespür für die Mechanismen der amerikanischen Herrschaftsstrukturen setzte er in den folgenden Jahrzehnten vieles daran, seiner Drogenbehörde und damit auch sich selbst möglichst viel Einfluss zu sichern.
Er spielte zu diesem Zweck gern mit den Ängsten der Gesellschaft. Das zeigte sich zum Beispiel in der Angstkampagne, mit der er das erste amerikanische Cannabisverbot vorbereitete, aber auch daran, wie er den Mafia-Hype der Fünfziger- und Sechzigerjahre nutzte, um sich als obersten Mafia-Bekämpfer zu inszenieren. In beiden Fällen interessierte er sich wenig für die Belegbarkeit seiner Aussagen. Vermutlich hatte er nicht gezielt vor, die Gesellschaft zu belügen. Vielmehr war er womöglich selbst so überzeugt von seinen Ansichten, dass er deren kritische Prüfung nicht für nötig hielt – die eine oder andere Übertreibung an passender Stelle hingegen für opportun und gerechtfertigt.
War der Konsum von Drogen ohne medizinischen Zweck noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein schillerndes, faszinierendes und insgesamt wenig beachtetes Randphänomen gewesen, so war vor allem der Drogenhandel bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Verbrechen geworden, das der amerikanischen Gesellschaft – besonders in Kombination mit dem Mafia-Gespenst – zunehmend Angst einflößte. Diese Angst war ein entscheidender Motor für die Institutionalisierung der Drogenpolitik: Wo Panik war, wurden besonders strenge Gesetze verabschiedet, für deren Durchsetzung dann auch bereitwillig Geld ausgegeben wurde. Paradoxerweise lag es deswegen nicht im Interesse drogenpolitischer Institutionen wie des FBN, die Gesellschaft über die drogenpolitische Lage der Nation zu beruhigen. Opportun war hingegen ein bewegliches Mischverhältnis aus Erfolgsgeschichten von verhafteten Mafia-Bossen und Horrorgeschichten von alten oder neuen Drogengefahren. Solange die Angst vor dem Drogenproblem lebendig blieb, konnten Anslinger und sein FBN die Helden der Stunde sein und die amerikanische Gesellschaft Jahr um Jahr vor den Gefahren des Drogenübels bewahren.