September 1985
Little Cove: 389 Einwohner
Das verbeulte Schild tauchte auf, als ich mit meinem Wagen eine Hügelkuppe auf der Schotterstraße erreichte. Nur 389 Einwohner? Verdammt! Ich hielt am Straßenrand an, stieg aus und atmete die feuchte Luft ein. Unten in der Bucht schaukelten Boote im Wind. Eine große Kirche beherrschte das Tal, daneben duckte sich ein niedriges rotes Gebäude mit dunklen Fenstern, die wie eine Reihe verfaulter Zähne aussahen. Das war höchstwahrscheinlich St. Jude’s, die Schule, in der am nächsten Tag meine Lehrerlaufbahn beginnen sollte.
»Verirrt?«
Ich wirbelte herum. Ein hagerer Mann um die sechzig war mit seinem Fahrrad neben mir zum Halten gekommen und stützte sich mit den Beinen seitlich ab. Er trug einen blauen Arbeitsoverall, das weiße Haar war ordentlich aus der Stirn gekämmt
»Probleme mit dem Wagen?«, fragte er weiter.
»Nein«, antwortete ich. »Es ist nur …« Meine Stimme versagte. Ich konnte mit diesem Fremden wohl kaum meine Bedenken teilen. »Ich bewundere die Aussicht.«
Er sah an mir vorbei auf den kühlen Nebel, der sich jetzt in der Bucht ausbreitete. Leichter Regen setzte ein, und schon begann mein sorgsam glatt gekämmtes Haar, sich zu lauter kleinen Schnecken zu kräuseln.
»Das Kompliment heben Sie sich mal besser für einen schönen Tag auf«, sagte er. Er hatte einen starken, aber angenehm trällernden Akzent. »Nicht für so ’ne Nebelsuppe wie heute.«
»Nebel… was?«, fragte ich, denn er sprach mit starkem Akzent.
»Nebelsuppe!« Er machte eine ausladende Geste. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und nahm mich genauer unter die Lupe. »Also«, sagte er dann. »Was macht eine junge Frau hier draußen?«
»So jung bin ich gar nicht«, gab ich zurück. »Ich bin die neue Französischlehrerin.«
Ein Lächeln überzog sein zerknittertes Gesicht. »Ach, extra aus Kanada angereist, was?«
Soweit ich wusste, gehörte Neufundland nach wie vor zu Kanada, aber ich nickte.
»Phonse Flynn«, sagte er und streckte mir eine schwielige Hand entgegen. »Ich bin der Hausmeister von St. Jude’s.«
»Rachel«, sagte ich. »Rachel O’Brien.«
»Hab schon gehört, Sie wohnen bei Lucille. Ich zeig Ihnen, wo das Haus ist.«
Mit erstaunlicher Beweglichkeit schwang er sich vom Sattel und ließ sein Fahrrad behutsam auf den Boden sinken. Dann deutete er auf einen Punkt jenseits der Bucht. »Lucille wohnt da drüben, sehen Sie?«
Oberhalb eines Anlegestegs schlängelte sich ein Pfad durch felsiges Gelände zu ein paar Häusern hinauf. Die Vorstellung, in einer Pension zu wohnen, hatte mich fasziniert – hatte irgendwie etwas von einem Dickens-Roman. Doch jetzt beschlich mich ein ungutes Gefühl. Was, wenn es doch ganz schrecklich war?
»Und Ihr Fahrrad?«, fragte ich, als ich sah, dass Phonse zur Beifahrertür meines Wagens ging.
»Ah, das liegt hier ganz gut«, erwiderte er. »Ich hol’s irgendwann ab.«
»Schließen Sie es nicht ab?«
Ich dachte an all die verwaisten Vorderräder in Toronto, die mit Schlössern an Fahrradständern festgemacht waren. Jake war stinkwütend, als sein Rennrad gestohlen worden war. Doch an Jake wollte ich jetzt nicht denken, ganz und gar nicht.
»Hier muss man nichts abschließen«, erklärte Phonse.
Ungeschickt versuchte ich, den Schlüssel ins Türschloss zu stecken – es war mir plötzlich peinlich, dass ich den Wagen aus reiner Gewohnheit abgeschlossen hatte.
»Soll ich Ihnen helfen?«
»Das Schloss klemmt ein bisschen«, erwiderte ich. »Aber ich bekomme den Dreh schon noch raus.«
Phonse wartete geduldig, während ich vergeblich mit dem Schlüssel kämpfte. Schließlich kam er zu mir herum und streckte die Hand aus. Ich gab ihm den Schlüssel, er steckte ihn ins Schloss, drehte ihn um und sofort sprang der Knopf an der inneren Türleiste heraus.
»Tja, Hausmeister eben«, sagte er. »Es braucht ’n bisschen Öl, mache ich gern, wenn Sie wollen. Aber wie gesagt, kein Grund, hier abzuschließen. Außerdem – bei der Farbe, wer würde den denn klauen?«
Ich hatte das Auto telefonisch gekauft, zum einen wegen des Preises, zum anderen wegen der Farbe. Grün war Dads Lieblingsfarbe gewesen, und als der Verkäufer sagte, der Wagen sei moosgrün, hatte ich mir ein üppiges, dunkles Grün vorgestellt. Doch stattdessen erinnerte die mit Rostflecken verzierte Karosserie an eine Schüssel Minz-Schokosplitter-Eis. Trotzdem schien er genau hierherzupassen. Im Vorbeifahren musterte ich die Häuser: grellorange, leuchtend grün, schreiend gelb. Vielleicht war irgendwo ein Farbenausverkauf gewesen.
Als wir an der Kirche vorbeikamen, bekreuzigte sich Phonse, seine Finger glitten von der Stirn zur Brust, dann zu jeder Schulter. Ich dagegen ließ beide Hände fest auf dem Lenker.
»Wo ist denn der Ortskern von Little Cove?«, fragte ich.
»Genau hier.«
Da war nichts außer einer Tankstelle und einem Takeaway-Imbiss namens MJ’s; davor hing eine Gruppe rauchender Teenager herum. Ein großer, dunkelhaariger Junge deutete auf meinen Wagen, woraufhin sich alle umdrehten und ihn anstarrten. Ein Mädchen in einer Holzfällerjacke hob die Hand. Ich winkte zurück, bis mir klar wurde, dass sie mir den Stinkefinger zeigte. Peinlich berührt sah ich zu Phonse hinüber. Falls er etwas davon mitbekommen hatte, ließ er es sich nicht anmerken.
Auch wenn Phonse mein Fahrgast war, musste ich an die Szene aus Anne auf Green Gables denken, in der Matthew Cuthbert Anne Shirley auf dem Weg nach Green Gables durch Avonlea kutschiert. Nicht dass ich die Besonderheiten dieser Gegend mit romantischen Namen belegen würde wie die junge Romanheldin. Annes Kirschbaum, den sie »Schneekönigin« nannte, oder ein »See der glitzernden Wasser« waren weit und breit nicht zu sehen. »Verkümmerte Fichte« oder »See der grauen Wasser« passten deutlich besser. Außerdem war ich keine Vollwaise; es fühlte sich nur so an.
Auf einer Anhöhe deutete Phonse nach rechts zu einer schmalen Schotterauffahrt. »Da isses.«
Ich hielt vor einem kleinen violetten Haus, das von einem schiefen Holzzaun umgeben war. Ein verrosteter Öltank lehnte schutzsuchend gegen das Haus. Als ich ausstieg, rümpfte ich wegen des fischigen Geruchs die Nase. Phonse kam zu mir ans Wagenende, um mein Gepäck aus dem Kofferraum zu holen.
»Heiliger Strohsack«, knurrte er. »Was haben Sie denn da alles reingepackt? Backsteine?« Meine Hilfe schlug er aus, und so humpelte er vollbeladen vor mir her auf das Haus zu.
Der Inhalt meiner beiden Koffer musste für das ganze Jahr reichen, aber jetzt fing ich an zu zweifeln: Badeanzug und Schwimmbrille? In diesem Meer würde ich wohl kaum meine üblichen Bahnen schwimmen. Ich sah auf meine schlammverklebten Turnschuhe hinab und bedauerte, die in Seidenpapier eingeschlagenen Wildlederstiefel eingepackt zu haben. Aber ich wusste, bei anderen Dingen hatte ich goldrichtig gelegen: bei dem Regenmantel, dem tragbaren Kassettenrekorder, den selbstgemixten Kassetten, dem Haarglätter und dem Bücherstapel.
Phonse schob die Haustür auf und rief: »Lucille? Ich hab dir die neue Lehrerin mitgebracht. Bestimmt ist sie müde von der langen Reise.« Während er meine Koffer in den Flur stellte, erschien eine untersetzte Frau in Blümchenschürze und Pantoffeln im Eingang: Lucille Hanrahan, meine Pensionswirtin.
»Phonse, mein Junge, sei so gut und bring die Koffer nach oben«, sagte sie.
»Ich kann sie selbst hinauftragen«, warf ich rasch ein, aber Lucille scheuchte mich buchstäblich in den Flur, indem sie mit ihrem Küchentuch wedelte. »Ach was, Mädchen«, sagte sie. »Sie müssen fix und fertig sein nach der langen Fahrt von Kanada. Erst müssen Sie einen Happen essen, bevor Sie in die Schule zu Mr Donovan rübergehen.«
Patrick Donovan, der Rektor, hatte das Vorstellungsgespräch telefonisch mit mir geführt. Ich konnte es kaum erwarten, ihn persönlich kennenzulernen.
»Oh, hat er angerufen?«, fragte ich.
»Nein.«
Lucille strich die Schürze über dem Bauch glatt und rief dann die Treppe hinauf, ob Phonse auch eine Tasse Tee wolle. Man hörte langsame, schwere Schritte die Stufen hinab. »Nee, heute nicht«, erwiderte dieser. »Aber Lucille, dieser Zaun muss endlich gerichtet werden.«
Lucille machte eine abwinkende Handbewegung in seine Richtung. »Ach, bleib mir weg mit dem Zaun«, sagte sie. »Wenn’s nach dir geht, wär er schon vor zwanzig Jahren zusammengefallen.« Aber nachdem sie ihn hinausbegleitet hatte, standen die beiden noch eine Weile zusammen und sprachen über eine mögliche Reparatur. Sie gestikulierten und deuteten mal hierhin und mal dahin, offenbar unbeeindruckt von dem Regen.
Ein Schlammklümpchen hatte sich von meinem Turnschuh gelöst, also hockte ich mich auf die unterste Treppenstufe und zog die Schuhe aus. Kurz darauf kam Lucille zurück, packte sie, klatschte sie vor der Tür zusammen, um den restlichen Schlamm abzuklopfen, und stellte sie dann neben ein Paar robust aussehender Stiefeletten.
Ich folgte ihr den Flur entlang in die Küche und zählte die Lockenwickler auf ihrem Kopf, rosa Außenposten auf einem schwarz-grauen Feld.
»Setzen Sie sich da drüben hin, Schätzchen«, sagte sie und deutete auf einen Tisch mit Stühlen am hinteren Fenster. Beim Klang ihrer Stimme zuckte ich zusammen – ein typisches Zwei-Packungen-Zigaretten-pro-Tag-Krächzen.
Der Nebel war dichter geworden, daher war vor dem Fenster nichts zu erkennen; wie graues Bildrauschen nach Sendeschluss. In der Tischdecke aus PVC gab es das ein oder andere Zigarettenbrandloch und im Linoleumfußboden hie und da eine abgeschabte Stelle. An der Wand hing ein Kirchenkalender, auf dem der heutige Tag rot umkringelt war. Das Pin-up des Monats September war die Jungfrau Maria, deren Schleier die gleiche Farbe hatte wie Lucilles Haus. Ich bin in einem erzkatholischen Landstrich, wurde mir klar. Und hoffte, ich ginge noch immer als Katholikin durch.
»Haben Sie weitere Pensionsgäste?«, fragte ich.
»Ich nehm immer nur einen«, erwiderte Lucille. »Sie sind die Erste vom Festland.«
Der Holzherd gab eine beständige Hitze ab, und der Duft frisch gebackenen Brots überlagerte beinahe den schalen Zigarettengeruch, der in der Luft hing. Lucille ließ einen Teebeutel in einen Becher fallen, hob einen großen Wasserkessel hoch und goss kochendes Wasser darüber. Dann knallte sie den Becher vor mich hin, zusammen mit einer Dose Kondensmilch. Die kannte ich nur vom Sehen.
»Zucker?«
Ich schüttelte den Kopf, folgte Lucilles Beispiel und träufelte etwas von der Milch in meinen Becher. Ich nahm einen vorsichtigen Schluck und wand mich innerlich vor dem eklig süßen Geschmack.
»Zu heiß, was?«, fragte Lucille.
Ich nickte.
Als sie ein paar Scheiben von einem großen, weißen Brotlaib abschnitt, knurrte mein Magen zustimmend. Dann schob sie ein Glas mit hausgemachter Heidelbeermarmelade und einen Becher Margarine herüber, bevor sie sich hinsetzte und sich eine Zigarette ansteckte, den Kopf drehte sie zur Seite, um den Rauch auszupusten. Die vertraute Geste und der Zigarettenrauch waren wie eine Ohrfeige für mich. Es war viel zu wenig Zeit vergangen seit Dads Tod. Aber ich war nun einmal in Lucilles Haus, und sie konnte nichts von Dad wissen, also spülte ich meine Empörung mit Tee herunter.
Ich war bei meiner zweiten Scheibe Brot angekommen, als Lucille sagte: »Sie wissen ja bestimmt, was mit der letzten Französischlehrerin passiert ist?«
»Nein.«
Einen Moment lang presste sie die Lippen zusammen, dann sagte sie: »Sie ist mit dem Pfarrer durchgebrannt.«
»Wie bitte?« Ich mochte zwar eine abtrünnige Katholikin sein, aber ein Pfarrer, der mit einem weiblichen Mitglied der Gemeinde durchbrennt, ist immer ein Skandal. Ich musste alle Details erfahren, und sei es nur, um Sheila bei unserem nächsten Telefonat haarklein davon erzählen zu können.
Aber Lucille stemmte sich vom Tisch hoch und meinte dann, es sei allmählich Zeit, dass ich zur Schule fuhr. »Wir haben nicht nur Sie als neue Lehrerin gekriegt«, fuhr sie fort, »sondern auch einen neuen Pfarrer. Kommen Sie ja nicht auf dumme Ideen – er ist schon Ende sechzig.«
Ich setzte zu einer feierlichen Erklärung an, keinerlei Interesse an einem Mann Gottes zu haben, egal welchen Alters, doch als Lucille mir belustigt zuzwinkerte, ließ ich es sein.
Auf der Fahrt zur Schule musste ich die ganze Zeit an den durchgebrannten Pfarrer denken. Kein Wunder, dass Patrick Donovan mich während des telefonischen Vorstellungsgesprächs über meinen katholischen Hintergrund ausgefragt hatte. Gleich zu Beginn hatte er betont, wie wichtig es sei, dass Lehrer an einer katholischen Schule gläubig seien. Dann hatte er hinzugefügt: »Sind Sie römisch-katholisch?«
Ich kreuzte zwei Finger hinter dem Rücken, bevor ich antwortete. »Getauft und gefirmt. Ich habe katholische Schulen besucht, und mein Vater hat dreißig Jahre lang an einer katholischen Highschool unterrichtet.«
Ich hatte seine Frage zwar nicht direkt beantwortet, aber auch nicht wirklich gelogen. Während er mir die frei gewordene Lehrerstelle beschrieb, ging ich zum Buchregal in der Küche hinüber, sodass sich die Telefonschnur hinter mir spannte. Ich blätterte rasch durch die abgenutzten Seiten von Dads altem Atlas, bis ich eine Karte von Kanada fand. Ich fuhr mit dem Finger die Strecke von Toronto nach Kingston nach, dann weiter nach Montreal und Québec City – östlicher war ich noch nie gewesen. Mein Zeigefinger tauchte in den St.-Lorenz-Strom und trieb weiter nach Neufundland, Kanadas zehnte Provinz, ein Ort, an den ich bislang kaum einen Gedanken verschwendet hatte, abgesehen von abgenutzten alten Witzen nach dem Muster: »Die Welt geht um zehn unter, in Neufundland um zehn Uhr dreißig.«
Jetzt war ich in Neufundland, auf dem Weg zu meinem ersten Treffen mit dem Mann, der mich hierhergeholt hatte. Die Clique vor dem MJ’s-Takeaway hatte sich zerstreut, nur wenige Menschen waren unterwegs. Als ich auf den Schulhof einbog und neben einem roten, von Straßenstaub bedeckten Pick-up parkte, tauchten zwei Mädchen auf. Sie waren schätzungsweise dreizehn und schlenderten untergehakt die Straße entlang. Während ich ausstieg, rief eine der beiden: »Hallo, Miss O’Brine«, ehe sie kichernd davonliefen.
Oh-Bri-en, sagte ich in korrekter Aussprache vor mich hin und betonte dabei alle drei Silben.
Ein großer Mann Anfang vierzig stand am Eingang der Schule, seine stämmige Gestalt füllte beinahe den Türrahmen aus. »Patrick«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. »Schön, Sie kennenzulernen. Hab Ihren Wagen gehört, als Sie auf den Kiesparkplatz eingebogen sind.«
Ich folgte ihm in die Eingangshalle, wo eine Geruchsmischung aus Bleichmittel und Matrizendruckerflüssigkeit in der Luft hing. Weiter vorn stand in einer Nische die Statue eines Heiligen mit einer Flamme auf dem Haupt. Er trug die obligatorische braune Kutte und Sandalen.
»Unser Namenspatron höchstselbst«, sagte Patrick, als er meinen Blick bemerkte. »Ich versuche schon, seit ich diesen Posten übernommen habe, ihn loszuwerden, aber bislang erfolglos.«
Ich beäugte den heiligen Unscheinbaren. In meinen Augen war nichts an ihm auszusetzen, wenn man mit dergleichen etwas anfangen konnte.
»Kommen Sie«, sagte Patrick und ging mit großen Schritten weiter den Flur entlang. »Ich führe Sie ein bisschen herum.«
Es war eine kleine Schule: das Lehrerzimmer, ein paar Klassenzimmer, das war’s. Am Ende des Korridors, wo sich die Bibliothek befand, blieben wir stehen. Patrick zeigte sie mir.
»Als ich die Schule übernommen habe, gab es noch keine«, sagte er. »Das hatte für mich oberste Priorität.«
»Ich werde bestimmt ausgiebig Gebrauch davon machen«, erwiderte ich. Aber der Raum hatte kaum etwas mit den gut ausgestatteten Bibliotheken zu tun, die ich von zu Hause kannte. Ich konnte mir nicht vorstellen, in den halb leeren Regalen irgendetwas Interessantes zu finden.
Die Führung endete in meinem künftigen Klassenzimmer. Patrick setzte sich auf ein Schülerpult und bedeutete mir, es ihm gleichzutun. Ich musterte verstohlen seine abgeschabte Cordhose und abgewetzten Arbeitsstiefel und zwang mich dann, mich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Er zeigte mir Klassenlisten, Blätter mit Richtlinien und Regeln, und einen riesigen Zeitplan.
»Ich hoffe, es gefällt Ihnen bei uns«, sagte er. »Die meisten Kids lernen gern. Ein paar von ihnen wohnen in Little Cove, aber die meisten kommen mit dem Bus aus den kleinen umliegenden Dörfern. Vierundsiebzig Schüler verteilen sich auf die sechs Klassen. Nach der Neunten dürfen sie Französisch abwählen, da gibt es einen großen Knick, aber ich bin mir sicher, Sie werden dafür sorgen, dass sich das ändert, stimmt’s?«
Mein erstes Etappenziel schien also bereits festzustehen.
»In der neunten Klasse haben wir dieses Jahr ein paar schwarze Schafe«, fuhr Patrick fort. »Wenn es Probleme gibt, kommen Sie lieber gleich zu mir, bevor es zu spät ist. Und nehmen Sie sich vor Calvin Piercey in Acht – er kann eine richtige Nervensäge sein. Er wiederholt gerade die Neunte.«
»Calvin Piercey«, murmelte ich und notierte mir den Namen.
»Noch etwas.«
Ich wartete, den Stift schreibbereit. Patrick schwieg eine Zeitlang und rieb sich den sandfarbenen Bart, während er aus dem Fenster sah.
»Es gibt hier nicht viel Ablenkung für einen jungen Menschen wie Sie.«
Das war mir bereits klar geworden, ich sagte aber nichts.
»Und viel Privatsphäre hat man hier auch nicht«, setzte er hinzu. »Ich weiß zum Beispiel schon, dass Sie an der Tankstelle nach dem Weg gefragt haben. Und dass Sie ein paar Ansichtskarten gekauft haben.«
»Wer …? Wie bitte?« Ich war so perplex, dass ich nicht einmal eine richtige Frage zustande brachte.
Patrick lachte laut auf. »In Little Cove gibt es nur wenige Geheimnisse, meine Liebe. Bevor man sich die Zähne geputzt hat, wissen die Leute schon, was man zum Frühstück hatte.« Er wedelte mit dem Zeigefinger. »Also, schön brav bleiben, ja?«
Ich errötete. Hielt er mir etwa eine Moralpredigt? Aber dann erinnerte ich mich daran, was Lucille mir von der Französischlehrerin und dem Pfarrer erzählt hatte, und ich beschloss, es nicht persönlich zu nehmen.
»Haben Sie Verwandte hier in Neufundland?«, fragte Patrick dann.
Ich umklammerte den Kugelschreiber etwas fester. »Nun … nein, ich kenne ehrlich gesagt niemanden hier.«
Wir schwiegen eine Zeitlang, das Prasseln des Regens gegen die Fensterscheiben war das einzige Geräusch. Ich konnte die Frage hören, die im Raum hing; wusste, dass er darauf brannte, zu erfahren, warum ich diese Stelle so weit weg von zu Hause angenommen hatte.
Nach einer Weile räusperte er sich und sagte: »Nun, ich kenne Ihre persönlichen Umstände nicht, aber vielleicht tun sie ja auch nichts zur Sache. Ich freue mich jedenfalls, dass jemand mit Ihren Referenzen zu uns gestoßen ist.«
Er stand auf und pochte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. »Dann bis morgen.« An der Tür drehte er sich nochmals um und sagte: »Schon als ich Ihren Namen gelesen hab, war mir klar, dass Sie die Richtige sind. Meine Frau hieß vor unserer Heirat auch O’Brine.«
Allein im Klassenzimmer, ging ich zwischen den Stuhlreihen umher und blickte aus dem Fenster. Dann setzte ich mich an den großen Lehrerschreibtisch – meinen Schreibtisch. Das Holz war narbig wie das Gesicht des Mädchens, das mir den Stinkefinger gezeigt hatte. Hatte meine Vorgängerin dort gesessen und von ihrem Pfarrer geträumt? Beim Gedanken daran schauderte ich.
Während ich die leeren Schülerpulte betrachtete, versuchte ich mir die jeweiligen Gesichter zu den Namen auf der Klassenliste vorzustellen.
Belinda Corrigan.
Cynthia O’Leary.
Calvin Piercey.
Erneut nahm ich meinen Kugelschreiber zur Hand und kringelte den letzten Namen ein. Er wusste es noch nicht, aber Calvin »Nervensäge« Piercey war im Begriff, zu meinem Projekt auserkoren zu werden. Dad hatte es mehr als einmal gesagt: Immer wieder begegnet man Schülern, bei denen es aussichtslos scheint, doch wenn man irgendwann Zugang zu ihnen bekommt, entdeckt man hinter dem ein oder anderen Störenfried einfach nur eine verlorene Seele. Und bei denen lohnt es sich, dranzubleiben, pflegte Dad zu sagen. Das sind diejenigen, die einen am meisten brauchen.
Dad. Wenn ich nur mit ihm hätte reden können. Ihm von der Schule erzählen, meinem Schreibtisch, Patrick. Ich griff in die Tasche meiner Cargohose und holte Dads silbernes Feuerzeug heraus. Ich fuhr mit den Fingern über die eingravierten Initialen: J. O’B. – Joseph O’Brien. Nachdem seine Kollegen ihm das Feuerzeug geschenkt hatten, bemerkte Mum, dass sich die Initialen auch als »Job« lesen ließen und eine Anspielung auf Dads unerschöpfliche Geduld mit seinen Schülern sein könnte. Seit seinem Tod trug ich es immer bei mir wie einen Talisman, in der Hoffnung, ein bisschen was von Dads Geduld würde so auf mich abfärben. Aber ein Teil von mir hasste das Feuerzeug, denn damit hatte Dad jeden Tag seine Zigaretten angezündet, und das Rauchen hatte ihn letztendlich umgebracht. Ich ließ es kurz aufflackern, dann steckte ich es wieder in meine Hosentasche.
Ich stand auf, schrieb in meiner sorgfältigen Lehrerhandschrift meinen Namen an die Tafel und drehte mich zu meinen unsichtbaren Schülern um. Sie waren außerordentlich aufmerksam, aber noch konnte ich keine Persönlichkeiten hinter ihren reglosen Mienen erkennen. Auch das Klassenzimmer machte einen öden Eindruck: Die einzigen Spuren von Leben waren winzige Nadelstiche in den Pinnwänden und vereinzelte Papierschnipsel an den Wänden. Die Kartons, die ich aus Toronto hierhergeschickt hatte, waren ordentlich in einer Ecke gestapelt: Es war an der Zeit, dass der Raum meine Handschrift bekam.
Eine Stunde später sorgten herbstlich bunte Schaubilder und bebilderte Vokabelposter für eine lebendige Atmosphäre. Doch dann entdeckte ich direkt über meinem Schreibtisch ein verirrtes rosa Band, das sich wie ein Schweineschwänzchen hoch oben an der Decke und außerhalb meiner Reichweite kringelte. Ich ging zum Unterrichtsschrank auf der hinteren Seite des Zimmers und blickte mich suchend darin um, fand aber nur Notizblöcke, Lineale, Radiergummis und, aha, einen Zeigestock. Damit würde ich dem störenden Band zu Leibe rücken, beschloss ich.
Ich kletterte auf meinen Schreibtisch und schlug etwas ungeschickt danach wie nach einer Piñata, aber das Band blieb hängen, als wollte es mich verhöhnen. Ich legte den Zeigestock weg und stieg mit einem Fuß auf den Stuhl. Als ich den zweiten Fuß auf der Kreideleiste der Tafel aufsetzen wollte, wackelte er gefährlich. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig auf die Leiste retten, bevor der Stuhl mit einem Krach umkippte, der in der Stille widerhallte. Mit gespreizten Armen und Beinen an der Tafel hängend, hatte ich keinen Schimmer, wie ich wieder hinunterkommen, geschweige denn dieses verflixte Band erwischen sollte.
Kreidestaub kitzelte mich in der Nase. Was, wenn ich jetzt niesen musste? Würde ich dann rückwärts von der Tafelleiste stürzen? Über mir tickte die Uhr im Sekundentakt. Ich spürte, wie mir der Schweiß über den Nacken lief. Sollte ich einfach springen und riskieren, mir den Knöchel zu verstauchen? Oder könnte ich – nach Ninja-Art – elegant auf meinem Schreibtisch landen?
Ein fröhliches Pfeifen ertönte, und gleich darauf Schritte aus dem Flur. Phonse? Ein Hausmeister hatte eine Leiter. Aber wollte ich, dass mich irgendjemand, und sei es nur ein älterer Herr wie Phonse, wie eine zerquetschte Fliege an der Tafel klebend sah?
Die Holzleiste ächzte unter meinen Füßen und rückte die Prioritäten zurecht.
»Entschuldigung?«, rief ich.
Die Schritte kamen näher, dann dröhnte eine tiefe Stimme: »Ach herrjemine, was machen Sie denn da oben, junge Frau? Spielen Sie Spiderwoman?«
Es war nicht Phonse, doch egal, wer es war, ich hasste ihn bereits jetzt. »Ich falle gleich runter!«
Sofort spürte ich zwei mich sanft stützende Hände an den Hüften. Die Wärme, die von ihnen ausströmte, drang durch mein T-Shirt und mir wurde heiß.
»Gut, jetzt können Sie loslassen«, sagte er.
Aber es fühlte sich an, als klebte ich an der Tafel fest. »Ich kann nicht.«
»Entspannen Sie sich, ich hab Sie.«
Ich atmete tief ein und ließ los. Während er mich sanft an sich hinabgleiten ließ, roch ich Seife, Wolle und das Meer. Als ich mit den Füßen sicher auf dem Boden stand, löste er seinen Griff. Ich drehte mich um und sah als Erstes einen roten Pullover. Ich musste weit hinaufschauen, bis ich ein Gesicht entdeckte. Seine blauen Augen hielten meinem Blick stand, bis ich nach unten schaute und Kreidespuren von T-Shirt und Hose wischte.
»Arbeiten Sie hier?«, fragte ich.
»Ja, ab morgen.« Er hielt mir die Hand hin. »Doug Bishop. Lehrer für Naturwissenschaften und Sport.«
»Rachel O’Brien«, erwiderte ich. »Französischlehrerin.«
»Ah, die vom Festland«, sagte er. »Was, um Gottes willen, haben Sie denn da oben gemacht?« Er deutete in Richtung Tafel.
»Ich bin die neue Lehrerin, das hier ist mein erstes Klassenzimmer.«
Doug nickte, als wäre das eine einleuchtende Erklärung, und sagte: »Ich bin auch neu hier, hab aber keine Mitteilung erhalten, in der steht, dass ich die Stabilität der Tafelleiste überprüfen muss.«
Als ich ihn auf das nervige geringelte Band aufmerksam machte, stellte er meinen Stuhl wieder auf, stieg darauf und zog das Band herunter. Dann verbeugte er sich tief und überreichte es mir mit theatralischer Geste. Als ich die Hand danach ausstreckte, streifte ich beinahe seine schwarzen Locken.
Er drehte sich um, winkte und rief mir über die Schulter zu: »Und Klettern ab jetzt nur noch mit Sicherheitsnetz, okay, Spidey?«
Hoffentlich bleibt der Spitzname nicht hängen, dachte ich.
Als ich in die Pension zurückkam, wartete auf dem Tisch ein Teller mit kaltem Abendessen, zusammen mit einer Notiz von Lucille. Ich solle nicht auf sie warten, sie sei zu einer Nachbarin gegangen. Ich entfernte die Klarsichtfolie, unter der Hähnchenbrust, Kartoffelsalat und Krautsalat mit Mayonnaise zum Vorschein kamen. Das Radio lief leise; eine Countrysängerin sang mit klagender Stimme über einen Mann, der ihr Unrecht getan hatte, und ihr Song war der Soundtrack zu meinem einsamen Abendessen. Ich konnte sie nur zu gut verstehen.
Anschließend räumte ich Teller und Besteck in die Spüle und ging hinaus. Ich dachte an all die Straßengeräusche, die nicht zu hören waren, ganz anders als zu Hause in Toronto. Irgendwann fuhr eine blaue Limousine vorbei, der Fahrer winkte. Auf dem Beifahrersitz saß ein Junge, der den Hals reckte und mich anstarrte, bis die Rücklichter des Wagens hinter der Hügelkuppe verschwanden.
Irgendwo läutete das Telefon. Ich folgte dem Geräusch ins Wohnzimmer, wo zwei mit Blümchenstoff bezogene und mit Spitzendeckchen übersäte Sofas standen. Die Lampenschirme steckten noch in ihren original Plastikverpackungen.
Ich nahm ab. »Hallo?«, sagte ich.
»Rachel? Hier ist Sheila.«
Ich setzte mich. »Kenne ich eine Sheila??«
Sie spielte mit. »Ich helfe Ihnen auf die Sprünge. Beste Freundin? Seit dem Kindergarten?«
Einen kurzen Moment lang war ich wieder das schüchterne kleine Mädchen, das sich an Dads Hand klammerte, bis Sheila Murphy mich in die Verkleidungsecke des Raums zog, einen alten Schleier über mich warf und mich fragte, ob ich sie heiraten wolle. Ihr Teddybär führte die kurze Zeremonie durch.
»Ach so, ja, diese alte Schreckschraube!«
Sheila lachte. »Und, wie ist es?«
Ich erzählte ihr von Little Cove und dem recht überschaubaren Freizeitangebot. Und dann vom getürmten Dorfpfarrer.
»Wow! Ich wette, er sieht großartig aus. Unwiderstehlich.«
Typisch Sheila. In der zwölften Klasse hatte sie einen jungen Seminaristen angeschmachtet; und vor noch nicht langer Zeit hatten wir die Miniserie Dornenvögel zusammen angeschaut. Das hatte Sheilas Schwärmerei für Priester wiederbelebt und mich in meiner Abneigung gegen deren Scheinheiligkeit bestärkt.
»Woher soll ich wissen, wie er aussieht?«, fragte ich. »Er ist doch abgehauen.«
»Stimmt«, sagte sie, »genau wie du.«
Da ich nicht darauf einging, redete Sheila weiter.
»Morgen ist dein großer Tag. Bist du bereit?«
»Ich bin nervös«, sagte ich. »Nein, ich habe regelrecht Angst. Außerdem habe ich PMS.«
»Perfekt! Dann kannst du die fiese neue Lehrerin geben, die alle Kinder hassen.« Sie unterbrach sich kurz, ehe sie fragte: »Hast du was von deiner Mutter gehört?«
»Nein, aber das liegt bestimmt am Zeitunterschied.«
»Ich kann nicht glauben, dass sie wirklich nach Australien gereist ist.«
»Sie hat meinem Vater versprochen, dass sie ein Sabbatical nehmen wird«, sagte ich.
»Trotzdem.«
»Am Sterbebett, Sheila.«
»Ich weiß. Trotzdem.«
Meine Mutter war Juraprofessorin, arbeitete nebenbei aber auch als Anwältin. Ich wusste, Sheila hielt sie für egoistisch, weil sie so bald nach Dads Tod in ein Sabbatical ging, und teilweise stimmte ich ihr zu. Aber Dad hatte ihr (und mir) ein Versprechen abgenommen. Und nichts war mir so wichtig, wie Dads Wünsche zu respektieren.
Nachdem Sheila sich verabschiedet hatte, drückte ich den Hörer an die Brust, als könnte ich so die Verbindung noch ein wenig aufrechterhalten. Dann legte ich auf und ging nach oben, um auszupacken.
In meinem Zimmer herrschte eine penible Ordnung. Auf dem schmalen Bett lag eine schwere Patchwork-Tagesdecke, in deren Quadraten sich das Motiv eines immergrünen Baums wiederholte. Auf dem handgeknüpften Teppich auf dem Boden war ein Boot auf See abgebildet. Die Decke und der kleine Teppich waren die hübschesten Accessoires in dem Zimmer. An der Tür war ein Haken mit ein paar Kleiderbügeln angebracht, und ich hängte ein paar Sachen daran auf. Den Rest meiner Garderobe verstaute ich in der Kiefernkommode.
Als ich unter die Decke schlüpfte und mich in dem fremden Bett hin und her drehte, war Lucille immer noch nicht zurück. Mondlicht umschmiegte die Vorhänge, und in der Ferne bellte ein Hund. Ich schloss die Augen und versuchte mir vorzustellen, wie ich vor einem Klassenzimmer voller Schülerinnen und Schüler stand, die eifrig die Hände reckten. Aber stattdessen sah ich nur, wie ich unsicher auf der Tafelleiste balancierte und den Körper an die Tafel presste und von Doug gerettet werden musste. Ich hoffte inständig, er würde es nicht herumerzählen. Andererseits war ich nach dem, was ich im vergangenen Sommer mit Jake erlebt hatte, an öffentliche Bloßstellung gewohnt.