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»Und, wie war Ihr erster Tag?«, rief Lucille aus der Küche, noch bevor ich die Haustür zugemacht hatte.

Nicht schlecht, abgesehen von dem netten kleinen Hassbrief, dachte ich, sprach es aber nicht aus.

Sie drehte gerade Bettlaken durch eine Kaltmangel, das Gesicht rot vor Anstrengung. Ich hatte so ein Gerät bislang nur im Museum gesehen.

»Bin gleich wieder da«, sagte sie. »Es geht gerade ein so schöner Wind, da will ich die Laken schnell aufhängen.«

Ich bot ihr meine Hilfe an, aber sie lehnte ab und deutete auf den Tisch, wo eine Tasse Tee und ein Heidelbeer-Muffin auf mich warteten. Nach einer Weile kam sie wieder herein, setzte sich mir gegenüber, zündete sich eine Zigarette an und wandte sich ihrem halb gelösten Kreuzworträtsel zu.

»Und, Unterricht war gut?«, fragte sie.

Ich überlegte, ob ich ihr von der Robbenepisode erzählen sollte, aber dann fragte ich mich, ob sie mir nicht auch eine Fangfrage gestellt hatte. Hatte Patrick nicht gesagt, dass alle in Little Cove immer über alles Bescheid wussten? Im Übrigen war der Übeltäter, wenn mich nicht alles täuschte, ihr Neffe. Also würde ich mir diese Anekdote lieber für Sheila aufsparen. Und vielleicht auch für Doug, obwohl ich mir bei ihm auch noch nicht sicher war. Also erschien es mir fürs Erste am sichersten, zu beteuern, alles sei so weit gutgegangen. Lucille musste ja nicht wissen, dass in der Familie O’Brien »so weit gutgegangen« das Codewort für »Ich möchte jetzt nicht darüber reden« war.

»Tja, wen wundert’s, mit Pat Donovan am Ruder«, sagte sie. »Mit ihm auf der Kommandobrücke ist das Schiff sicher, auch bei hoher See. Ach, wollte Ihnen noch was zeigen, Augenblick.« Sie drückte die Zigarette aus und verschwand in ihrem Schlafzimmer, das neben der Küche lag, um kurz darauf mit einem gerahmten Foto wieder zurückzukommen. Sie rieb mit dem Schürzenzipfel über das Glas, dann reichte sie mir das Bild.

Es zeigte eine jüngere, schlankere Version von Patrick und eine Lucille ohne Lockenwickler, mit dunklem, kurzem Haar und einer Urkunde in der Hand.

»Das ist meine Linda«, sagte Lucille. »An dem Tag, als sie ein Stipendium für die Uni gekriegt hat. Sie war in dem Jahr die Einzige, die zur Uni gegangen ist. Jetzt ist sie Lehrerin, genau wie Sie. Oben in Labrador.«

»Ach ja? Wie alt ist sie?«, fragte ich.

»Fünfundzwanzig. So alt wie ich, als ich sie bekommen hab.«

Ich verbarg meine Überraschung hinter einem Husten. Lucille war im gleichen Alter wie meine Mutter, sah aber gut zehn Jahre älter aus.

»Dann ist sie zwei Jahre älter als ich«, sagte ich und warf einen letzten Blick auf das Foto, ehe ich es Lucille zurückgab. Ich hatte ein ähnliches Foto von meiner Abschlussfeier auf der Kommode oben in meinem Zimmer stehen. Nur Sheila und ich sind darauf zu sehen. Dad war bereits gegangen, und Mum war an diesem Tag in Washington, wo sie auf einer Konferenz eine Rede hielt.

Lucille legte das gerahmte Foto auf den Tisch und wandte sich wieder ihrem Kreuzworträtsel zu.

»Fünf waagrecht«, sagte sie. »Das ist was für Sie.« Sie schob das Heft in meine Richtung und deutete mit ihrem gelben Finger auf die zugehörige Frage: »Bedeutung von Schulterzucken (Französisch, 2,2,4,4).«

»Je ne sais quoi.«

»Sche ne sä was?«

Ich nahm ihr den Kugelschreiber aus der Hand und trug die Lösung in die Kästchen ein. Als sie sich mürrisch der nächsten Rätselfrage zuwandte, sagte ich: »Ich glaube, ich gehe ein bisschen spazieren.«

Lucille griff nach der Handtasche, die an der Rückenlehne ihres Stuhls hing. »Wenn Sie links die Straße runtergehen, kommt da ein kleiner Laden. Seien Sie so nett und bringen mir eine Dosenmilch mit.«

»Behalten Sie Ihr Geld, Lucille«, sagte ich.

Während ich meine Jacke vom Treppengeländer schnappte, fragte ich mich, ob es in dem Laden wohl auch frische Milch gab. Ein paar hundert Meter weiter die Straße hinunter kam ich an einer Frau vorbei, die Laken von der Wäscheleine abnahm.

»Hallo, Miss O’Brine!«, rief sie. »Schöner Tag, um Wäsche aufzuhängen. Wo wollen Sie hin?«

Als ich sagte, ich sei auf dem Weg zum kleinen Lebensmittelladen, rief sie mir zu, wo genau er sich befand, und kurz darauf kam ich an dem großen braunen Haus an, das sie weitaus besser beschrieben hatte als Lucille. Im Fenster hing ein Schild, das in handgeschriebenen Lettern verkündete: »Teebeutel erst wieder am Donnerstag.« Vor dem Laden standen ein paar Jugendliche und rauchten.

»H’llo, Miss«, sagte einer der Jungen.

Ich erwiderte den Gruß und ging die Stufen hinauf, während die Teenager hinter meinem Rücken tuschelten. Die Kasse war verwaist, aber die Tür dahinter war offen und führte anscheinend in eine Küche. In den wenigen, weiß gestrichenen Regalen fanden sich ein paar bunt zusammengewürfelte Lebensmittel: Toilettenpapier neben Dosensuppen; ein paar Pappkartons mit Kartoffeln, Karotten und Steckrüben. Außerdem gab es Zigaretten, Streichhölzer, Nähgarn und Schokoriegel. Ich hatte insgeheim gehofft, ein Magazin zu ergattern, vielleicht sogar eine Boulevardzeitung, aber es gab keine Zeitschriften, und ein Kühlregal mit frischer Milch war auch nirgends zu sehen. Also nahm ich seufzend eine Dosenmilch aus dem Regal. Als ich zur Kasse ging, betraten mehrere Mädchen laut lachend den Laden.

»Was kaufen Sie denn, Miss?«, fragte Trudy Johnson.

Ich suche Tampons, Trudy. Kannst du mir vielleicht eine bestimmte Marke empfehlen? Ich wedelte mit der Kondensmilch. Würde das jetzt das ganze Jahr so weitergehen? Würde ich auf Schritt und Tritt beobachtet und jeder meiner Einkäufe kommentiert werden? Ich betätigte die Tischglocke, woraufhin eine Frau aus der Küche trat und die sommersprossigen Arme verschränkte, als sie mich erblickte.

»Ah, Sie sind bestimmt diese neue Französischlehrerin vom Festland«, sagte sie. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Trudy mit dem Ellbogen ihre Freundin anstupste.

»Auf diese Stelle gehört eigentlich jemand aus Neufundland«, fuhr die Frau fort.

»Tja, dann hätte meine Vorgängerin halt nicht mit dem Pfarrer durchbrennen sollen.« Ich zuckte innerlich zusammen, wünschte, ich könnte meine Worte zurücknehmen.

Ich stellte die sogenannte Milch auf den Tresen, die Frau schnappte meinen Fünf-Dollar-Schein und gab mir das Wechselgeld heraus. Dann langte sie nach einem Besen und fegte damit vor sich her, während sie hinter der Kasse hervorkam; der Staub, den sie aufwirbelte, trieb mich noch schneller zur Tür hinaus.

Missmutig stapfte ich zu Lucilles Haus zurück. Der Wind hatte aufgefrischt und wehte mir Sand in die Augen. Ich blinzelte heftig. Zuerst dieser Rüpel Roy Sullivan, dann der Zettel mit der netten Botschaft unter dem Scheibenwischer und nun diese schreckliche Frau. Warum nur hatte ich diese Stelle angenommen?

Auf der Hügelkuppe angekommen, blieb ich stehen, um Atem zu holen. Hinter mir hörte ich eine Fahrradklingel.

»Ah, wen haben wir denn da«, sagte Phonse und hielt neben mir. »Wie geht es ihr denn so?«

Ich wandte schniefend den Blick ab und sah in die Ferne.

Sich mit den Füßen links und rechts abstützend, balancierte er auf dem Fahrradsattel und griff in die Brusttasche seines Pullunders. Wie ein Magier brachte er ein sauberes weißes Taschentuch zum Vorschein.

»Ach, es ist nur der Wind«, sagte ich schluchzend und tupfte mir die Augen ab.

»Ja, Mädel, heute weht ’ne steife Brise.« Er sah an mir vorbei auf den Ozean hinaus, während er mit seinen knotigen Händen die Lenkergriffe umklammerte.

»Kann ich Sie was fragen, Phonse?«

»Nur zu.«

Ich blickte auf meine Füße hinunter.

»Schießen Sie los!«

»Haben die Einheimischen etwas gegen meine Anwesenheit?«

Er strich sich über das Kinn. »Ein paar vielleicht.«

»Was ist mit der Frau im Laden?«

»Bertha?« Er schnitt eine Grimasse. »Achten Sie nicht auf die. Sie mag Leute vom Festland nicht, wegen ihrem Sohn.«

»Hat er seinen Job wegen jemandem vom Festland verloren?«

»Schlimmer.« Er grinste jetzt so breit, dass seine Augen nahezu zwischen den Falten verschwanden. »Er hat eine vom Festland geheiratet. Er ist vor vier Jahren in den Westen gezogen und seither nicht mehr zurückgekommen.«

»Und ist das meine Schuld?«

Phonse stellte einen Fuß auf ein Pedal und radelte wieder los. »Scheint fast so!«, rief er über die Schulter zurück. »Kopf hoch, Mädchen.«

Zurück in Lucilles Haus, fragte ich mich, wo ich die Dosenmilch hinstellen sollte. In den Kühlschrank wohl kaum. Lucille telefonierte im Wohnzimmer. Ungefähr alle fünfzehn Sekunden sagte sie: »Ich weiß, meine Liebe.« Nachdem sie irgendwann aufgelegt hatte, kam sie zu mir in die Küche.

»Jesus, Maria und Josef«, sagte sie. »Das war Bertha Peddle. Sie hat mir glatt mit Ladenverbot gedroht. Sie wären frech zu ihr gewesen, hat sie gemeint.«

»Aber ich … sie …« Ich brach den begonnenen Satz ab, weil es in der Tat keine Entschuldigung für meine barsche Antwort gab.

Doch dann sagte Lucille: »Das soll sie mal versuchen, mir Ladenverbot erteilen!« Sie nahm mir die Dosenmilch ab und stellte sie in ein Regal. »Die hat mehr Dreck am Stecken als ein Schwein in den Borsten. Setzen Sie sich doch endlich, um Himmels willen. Wir müssen heute früher essen als sonst. Ich geh nachher zu einem Treffen in der Kirche.«

Sie ging zum Herd und verteilte den Inhalt einer schmiedeeisernen Pfanne auf zwei Teller. »Fischfrikadellen«, erklärte sie und stellte einen Teller vor mich hin. Die Aussicht, schon zum zweiten Mal an diesem Tag Fisch zu essen, begeisterte mich nicht gerade. Doch die goldgelben, knusprig gebratenen Fischküchlein entpuppten sich als köstliches Gemisch aus Kartoffelbrei und Fisch. Ein warmes Gefühl strömte von meinem Magen aus in die Gliedmaßen. »Der Backfisch vom Takeaway heute Mittag war wirklich gut, aber diese Frikadellen hier« – ich zeigte auf meinen Teller – »sind ein Gedicht.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach wo.« Aber ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie nahm eine Packung Zigaretten vom Regal über dem Herd und zündete sich eine an. Dann hob sie mit einem Schürhaken den kleinsten Ofenring der Herdplatte hoch und warf das Streichholz in die Glut.

»Erzählen Sie mir ’n bisschen von Ihrer Familie«, sagte sie und setzte sich auf die Tagesliege an der gegenüberliegenden Wand.

Während sie eine lange blaue Rauchfahne in Richtung Decke blies, erschien mir dieser Moment nicht gerade geeignet, ihr zu erzählen, dass mein Vater vor wenigen Monaten an Lungenkrebs gestorben ist.

»Ach, Lucille, vielleicht ein andermal. Erzählen Sie mir doch lieber ein bisschen von meiner Vorgängerin an der Schule.«

Sie kratzte sich zwischen zwei Lockenwicklern am Kopf und seufzte. »Brigid Roche. Ihr Mann, Paul, ist letztes Jahr gestorben. Er war erst achtundzwanzig.«

»Oh Gott, was ist ihm denn zugestoßen?«

»Er ist mit Ron Drodge, Brigids Bruder, auf dem Heimweg von Mardy gewesen, und der ist gegen einen Baum gefahren. Ron hat nicht einen Kratzer abgekriegt, aber Paul ist auf der Stelle tot gewesen. Es heißt, Ron hätte an dem Abend getrunken, aber beweisen konnte man es nicht. Die Polizei ist erst Stunden nach dem Unfall hier eingetroffen.«

»Die arme Brigid«, sagte ich. »So jung und schon verwitwet.«

Lucille stand auf und räumte den Tisch ab, nachdem sie zuvor ihre Zigarette in einem Ketchupklecks auf meinem Teller ausgedrückt hatte. »Viele in unserer Gegend sind jung Witwe geworden, ich gehör auch dazu. Aber bin ich deswegen mit einem Pfarrer abgehauen?«

Sie kam mit einem Spüllappen zurück und wischte mit energischen Bewegungen den Tisch ab.

»An Ostern war Brigid völlig am Boden. Und alle sagten, Father Jim wäre ihr eine große Hilfe, würde sie in ihrer Trauer begleiten.« Sie schnaubte abfällig. »Ein Pfarrer als Trauerbegleiter? Pff! Man beerdigt seinen Mann, übergibt ihn Gott und macht weiter mit seinem Leben.«

Ich dachte an Mum, wie sie noch Wochen nach Dads Tod in seinem Ledersessel saß und immer wieder über die abgewetzten Armlehnen strich, taub gegenüber allen Versuchen, sich mit ihr zu unterhalten.

Lucille wischte nochmals energisch über den Tisch, auch wenn keine Krümel mehr zu sehen waren. Dann warf sie den Lappen in die Spüle.

»Glauben Sie, Brigid wird irgendwann wieder zurückkommen?«, fragte ich.

»Ich glaube, das wird sie schön bleiben lassen. Sie hat zu viel Schande auf unsere Pfarrgemeinde gebracht.«

Sie griff nach dem Schal auf der Tagesliege und wickelte ihn um den Kopf. »Ich gehe jetzt zu Father Frank«, sagte sie. »Er hat ein paar Flausen im Kopf, die man ihm wieder austreiben muss, und zwar besser gleich.«

Nachdem Lucille gegangen war, ging ich nach oben und holte Dads Sweatshirt mit dem Logo seiner Schule aus einer Schublade meiner Kommode. Ich zog es an, legte mich aufs Bett und dachte, dass Trauerbegleitung durchaus etwas Sinnvolles war.