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»Bonjour, Mademoiselle.«

Ein Mädchen in Jeans und Sweatshirt streckte den Kopf in mein Klassenzimmer herein. Ich trank gerade eine Tasse Kaffee, also winkte ich sie zu mir. Auf dem Weg zu meinem Schreibtisch redete sie munter drauflos und erzählte mir in fließendem Französisch, sie heiße Cynthia und besuche die zwölfte Klasse.

»Bonjour, Cynthia«, sagte ich. »Ich glaube, ich habe schon deine Mutter kennengelernt. Sie arbeitet an der Tankstelle, stimmt’s?«

Sie nickte. »Ja, sie hat es mir erzählt. Oh, ich liebe Französisch, Miss«, sprudelte sie hervor. »Es ist mein absolutes Lieblingsfach.«

»Da haben wir was gemeinsam.« Wir lachten beide.

»Ich möchte auch Französischlehrerin werden«, fuhr sie fort. »Ich möchte versuchen, ein Stipendium für die Uni zu kriegen, so wie Doug.« Sie schlug sich die Hand vor den Mund. »Mr Bishop, meine ich. In der Schule dürfen wir ihn nicht Doug nennen.«

»Moment«, sagte ich. »Ist Do… stammt Mr Bishop aus Little Cove?«

Sie nickte. »Seine Familie wohnt zwei Häuser weiter. Aber ich komm bestimmt nicht nach Little Cove zurück, so wie er. Ich möchte die Welt sehen.«

Die Pausenglocke ertönte, und ich sagte zu Cynthia, wir würden uns dann später im Unterricht sehen. »Kann es nicht erwarten, Miss«, erwiderte sie.

Während ich auf meine Neuntklässler wartete, überflog ich den Unterrichtsplan. Ihr Lachen und lautes Rufen kündigten sie an. Der Lärm ebbte auch nicht ab, als sie ihre Stühle im Klassenzimmer einnahmen. Calvin hatte sich wieder halb waagrecht auf seinen Stuhl gefläzt, und Trudy formte gerade eine überdimensionale Kaugummiblase. Ich wünschte, sie würde platzen und ihr ganzes Gesicht zukleben, aber Trudy zog sie geräuschvoll in den Mund zurück.

»Trudy«, sagte ich. »Wirf deinen Kaugummi weg!«

Betont langsam ging sie an mir vorbei zur Ecke, beugte sich über den Papierkorb und spuckte den Kaugummi hinein. Mit einem lauten Plopp traf der Klumpen auf dem Metallboden auf.

»Miss«, sagte Trudy. »Darf ich was sagen?«

Anscheinend hatte sie das Zeug zur Lehrerin, denn im Handumdrehen hatte sie die Aufmerksamkeit aller erlangt.

»Ja, was denn?«

»Bertha Peddle hat gesagt, Sie sind ein richtiges Luder.«

Ich hörte selbst mein empörtes Schnauben, während gleichzeitig wieherndes Gelächter ertönte, und als ich mich umsah, erblickte ich lauter aufgerissene Münder.

»Raus mit dir«, sagte ich mit bebender Stimme.

»Aber Miss …«, protestierte sie.

»Jetzt. Sofort.« Ich deutete auf die Tür, die Hand ausgestreckt wie ein Degen. »Du gehst sofort zu Mr Donovan, und wag es ja nicht, hinter dir die Tür zuzuknallen.«

Ich drehte mich zur Klasse um und knurrte: »Holt eure Bücher raus und macht ein paar Übungen.«

»Welche?«, fragten ein paar der Schüler.

»Ist egal. Fangt einfach an zu arbeiten. Ich will jetzt kein Wort mehr von euch hören. Von niemandem.«

Ich mochte ja gut in Französisch sein, aber mit diesen ungezähmten Teenagern wurde ich nicht fertig. Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und starrte auf das Blatt, auf dem ich am Vorabend so sorgfältig ein Lernziel ausgearbeitet hatte. »Die Schüler werden lernen, die Verneinung richtig zu bilden.« Also, in dieser Hinsicht hatte Trudy eigentlich eine gute Note verdient.

Es klopfte an der Tür, und Judy trat, die Hand auf dem Türknopf, ins Klassenzimmer. »Miss O’Brine, kann ich Sie kurz draußen auf dem Flur sprechen?« Ihre Stimme hatte einen spröden Klang, doch als ich hinausging und die Tür hinter mir schloss, schlug sie einen weicheren Ton an.

»Patrick möchte Sie in fünf Minuten in seinem Büro sehen«, sagte sie im Flüsterton. »Ich übernehme so lange Ihre Klasse.«

Ich machte einen Umweg über die Toilette. Meine Wangen waren gerötet, Tränen quollen mir aus den Augen. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht und rieb es mit einem Papiertaschentuch trocken. Dann atmete ich tief ein und begab mich in Patricks Büro, bereit, meine Ehre zu verteidigen.

Er stand hinter seinem Schreibtisch auf und wies auf den Besucherstuhl; dann reichte er mir einen dampfenden Becher Tee, der auf einem Nebentisch bereitgestanden hatte.

»Wo ist Trudy?«, fragte ich in der Hoffnung, er hatte sie nach Hause geschickt oder, noch besser, der Schule verwiesen.

»Sie ist wieder in der Klasse«, sagte er. »Aber ich habe ein Wörtchen mit ihr gesprochen, und um fair zu sein: Sie hat nur wiederholt, was Bertha Peddle gesagt hat.«

Ich stellte den Becher auf den Schreibtisch, um nichts zu verschütten. »Dann ist es also okay, wenn eine Schülerin mich ein ›richtiges Luder‹ nennt?«, fragte ich mit gepresster Stimme.

Patrick verschluckte sich und prustete aus Versehen ein wenig Tee auf den Schreibtisch. »Heiliger Strohsack«, sagte er. »Jetzt dämmert mir, warum Sie sich so aufgeregt haben.«

»Tja, soll ich mich darüber freuen?«

Patrick stellte seinen Becher hin. »Ich verstehe jetzt, warum Sie sie hinausgeworfen haben, aber das war ein Missverständnis, junge Frau. Bertha hat es nicht so gemeint, wie Sie denken: Im hiesigen Dialekt bedeutet das Wort einfach nur eine garstige Frau.«

Das war auch nicht viel besser.

»Das bin ich auch nicht, wenn jemand garstig war, dann diese Bertha.«

»Das mag ja sein«, sagte er. »Aber Sie müssen sich hier anpassen, nicht umgekehrt.«

Hinter Patricks Schreibtisch stand ein Sideboard, auf dem ein paar ordentliche Papierstapel lagen. Darüber hing eine Pinnwand mit einem Jahresplaner und einer To-do-Liste, und einer der Punkte war, wie ich erkennen konnte: »Probezeitgespräche mit Rachel und Doug«.

Ich konnte mir vorstellen, wie sein Fazit bislang lautete: »Ist schnell beleidigt; hat Schwierigkeiten, ihre Schüler zu verstehen; hat ihre Klassen nicht unter Kontrolle.« Ich vergrub das Gesicht in den Händen.

»Kopf hoch, junge Frau. Die ersten paar Wochen sind schwer, aber Sie bekommen den Dreh schon noch heraus, Sie werden sehen.«

»Aber was sage ich in unserer nächsten Stunde zu Trudy?«

»Gar nichts, um Himmels willen.«

»Und wenn sie mich nochmals auf die Sache anspricht?«

Patrick trank geräuschvoll seinen Tee aus. »Glauben Sie, Sie sind die erste Lehrerin, die wegen einer Lappalie in die Luft gegangen ist?«

Ich dachte an meine eigene Zeit als Teenie, daran, dass ich selbst oft einen frechen Spruch auf den Lippen hatte. Um ehrlich zu sein, hatten die Nonnen, wenn sie wegen Sheila und mir ausgerastet waren, meistens einen triftigen Grund.

Nachdem der Glockenton das Ende des Schultags verkündet hatte, blieb ich noch lange an meinem Schreibtisch sitzen. Die Schülerinnen und Schüler polterten laut schwatzend über den Flur, manche in Eile, um ihren jeweiligen Bus zu erwischen, der sie in die umliegenden Dörfer brachte. Allmählich verebbten die Schritte, Autotüren wurden zugeschlagen, Motoren angelassen, und dann trat wohltuende Stille ein. Ich legte den Kopf auf den Schreibtisch und ließ in Gedanken das Gespräch mit Patrick Revue passieren. Sie müssen sich hier anpassen, hatte er gesagt. Ja, aber wie?

Irgendwann wurde mir bewusst, dass ich mit dem Fuß den Takt zu einer Musik klopfte, die entfernt zu hören war. Ich hob den Kopf. Es klang wie eine Geige, aber die Melodie war viel munterer als die Stücke, die ich kannte. Sie steigerte sich zu einem Crescendo, dann fuhr der Bogen nochmals beherzt über die Saiten, und es wurde still. Hatte ich es geträumt? Doch gleich darauf setzte eine langsame, melancholische Melodie ein – der Soundtrack zu meiner Stimmung. Ich folgte ihr den Flur entlang und um eine Ecke herum bis zu einer Tür, die mir bislang noch nicht aufgefallen war.

Ich spähte in einen kleinen Raum, kaum größer als ein begehbarer Schrank. In einem ausgeblichenen, aber blitzsauberen grünen Overall saß Phonse auf einem Stuhl, die Augen geschlossen, während sich sein Spielarm hin- und herbewegte. Wischmopps, Eimer, Besen und andere Putzutensilien standen ordentlich aufgereiht um ihn herum. Als die Melodie endete, klatschte ich behutsam, worauf er die Augen aufriss.

»Heiliger Jesus«, sagte er, »haben Sie mich erschreckt, Mädchen. Ich dachte, alle wären weg.«

»Ich wusste nicht, dass Sie Geige spielen«, sagte ich.

»Tue ich auch nicht.« Er hob sein Instrument hoch und zeigte es mir. »Das ist eine Fiedel.«

»Wie auch immer, jedenfalls spielen Sie wunderschön.«

Er neigte den Kopf nach unten. »Na ja, ich hab’s schon als kleiner Knirps auf Vadders Knien gelernt. Spielen Sie auch ein Instrument?«

Ich dachte an all die Tränen und Wutanfälle, die meine Geigenstunden begleitet hatten. Diese Stunden am Donnerstagnachmittag musste ich noch lange ertragen, obwohl ich längst keine Lust mehr auf das Instrument hatte.

»Na, Sie sind mit Ihren Gedanken wohl ganz woanders«, sagte Phonse.

Ich schüttelte den Kopf, um meine Erinnerungen zu vertreiben. »Tut mir leid. Ja, ich habe früher Geige gespielt.«

Er drückte mir die Fiedel in die Hand. »Die Schwester der Geige«, sagte er. »Versuchen Sie’s doch mal.«

»Haben Sie Noten?«

Phonse tippte sich mit dem Bogen an den Kopf. »Alles hier drin, Mädchen.«

Dann reichte er mir den Bogen und sagte: »Probieren Sie’s aus.«

Ich fuhr mit dem Bogen über die Saiten und verzog das Gesicht angesichts des schrillen Gekrächzes, das ich hervorbrachte.

»Klingt, als würde einem Huhn der Hals umgedreht«, sagte Phonse.

Ich wollte schon aufgeben, aber dann erinnerte ich mich an Patricks Worte, dass ich versuchen müsse, mich anzupassen. Also versuchte ich es erneut, und das Gekrächze verwandelte sich allmählich in eine Melodie. Und plötzlich war es mir wieder gegenwärtig: der »Frühling« aus Vivaldis Vier Jahreszeiten, das letzte Stück, das ich gelernt hatte, bevor ich mit dem Geigespielen aufgehört hatte. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich, spielte schneller und machte immer weniger Fehler.

Als ich fertig war, ließ ich die Augen noch einen Moment lang geschlossen und rief mir in Erinnerung, wie Dad in seinem Sessel saß, die Zeitung neben sich, und meinem Spiel lauschte. Phonse’ leises Klatschen holte mich in die Gegenwart zurück.

»Das Lied kenne ich gar nicht«, sagte er, »aber es ist wunderschön.«

Ich spürte, wie ich leicht errötete, während ich ihm seine Fiedel zurückgab. »Mein Vater hat es geliebt, ich hab’s für ihn gespielt.«

»Also ein Hoch auf unsere Väter«, sagte Phonse. »Ich glaube, wir haben uns jetzt eine Tasse Tee verdient. Leisten Sie mir Gesellschaft?«

Dad pflegte immer zu sagen, dass Hausmeister unsere wichtigsten Verbündeten seien, und mir kam der Gedanke, dass er Phonse bestimmt gemocht hätte.

In einer Ecke stand auf einem wackeligen kleinen Tisch eine Heizplatte und daneben eine Dosenmilch. Als der Wasserkessel zu pfeifen begann, nahm er ihn von der Platte und goss das heiße Wasser in zwei Becher, in die er zuvor je einen Beutel getan hatte. Er reichte mir einen, und ich entdeckte den Spruch, der darauf stand.

»Der großartigste Lehrer der Welt«, las ich laut vor.

»Na, nun werden Sie mal nicht übermütig«, sagte Phonse. »Das ist Ihre erste Woche.«

Am Abend rief Mum aus Australien an, wobei es für sie ja bereits der nächste Tag war. Sie berichtete mir von ihrem Leben in Sydney – von den Kursen, die sie gab, dem Viertel, in dem sie wohnte, und von den Macken ihrer Wohnung. Sie stellte mir allerhand Fragen zu Little Cove, und ich versuchte, sie so neutral wie möglich zu beantworten, da Lucille in der Küche war und alles hören konnte. Es war keine besonders ergiebige Unterhaltung, aber es war ein Schritt, unsere Beziehung, die nach Dads Tod gelitten hatte – nicht zuletzt wegen meines in ihren Augen enttäuschenden Verhaltens in den Wochen danach –, auf eine neue Grundlage zu stellen. Bevor wir uns auf Wiedersehen sagten, versprach sie mir, mich regelmäßig anzurufen.