Lucilles Badewanne war ein großes klauenfüßiges Ding. Mit den Zehen am Wasserhahn ließ ich zweimal heißes Wasser nachlaufen, und ich versuchte, möglichst langsam zu lesen, um länger etwas von meinem Roman zu haben. Wenn ich nicht schleunigst eine Bibliothek auftrieb, würde ich bei meinem Lesetempo bald auf die Bibel zurückgreifen müssen. Erst nachdem Lucille mehrmals nach mir gerufen hatte, zog ich den Stöpsel aus der Wanne. Als ich hinunterkam, lauerte Unsere Frau des Immerwährenden Qualms auf dem Flur und kaute geradezu auf ihrer Zigarette.
»Jesus, Maria und Josef«, sagte sie mit aufgeregter Stimme. »Was machen Sie denn so lang da oben? Wir sind schon viel zu spät dran.«
»Wofür?«
Sie sperrte die Augen auf und vergaß ganz, den Rauch auszustoßen. Nach einem ausgiebigen Hustenanfall krächzte sie: »Für die Messe!«
Ich sah zuerst Lucilles rote Rüschenbluse und den schwarzen Rock an und dann meine ausgeleierte Jogginghose und lief schnell wieder hinauf. Mist! Dads Beerdigung war das erste Mal seit fünf Jahren gewesen, dass ich eine Kirche von innen gesehen hatte. Aber selbst einer abtrünnigen Katholikin wie mir hätte klar sein müssen, dass man in einer so kleinen Gemeinde wie Little Cove dem Herrn nicht entrinnen konnte.
Lucille rief die Treppe hinauf: »Los, beeilen Sie sich. Wir müssen gehen!«
Ich schnappte mir meinen Trenchcoat. Ein Kleidungsstück, das alle möglichen Sünden verbergen kann, wie Mum zu sagen pflegte. Und ich hatte weiß Gott etliche zu verbergen, jedenfalls nach den Maßstäben der Kirche.
In Little Cove waren alle Wege kurz, daher fuhr ich langsam. Dennoch umklammerte Lucille mit der einen Hand den Haltegriff und stemmte sich mit der anderen am Handschuhfach ab. Ich sah verstohlen auf ihre Frisur. Die Lockenwickler waren verschwunden und hatten einer toupierten Lockenfrisur Platz gemacht, auf der das Haarspray glänzte wie Morgentau. Selbst ein Tornado würde ihr nichts anhaben können.
Die Holztür der Kirche stand offen, und der kleine Parkplatz davor war belegt. Als wir auf Höhe der Kirche ankamen, bekreuzigte sich Lucille und deutete dann zu einer kleinen Haltebucht am Straßenrand.
»Parken Sie hier. Wo die Nachzügler stehen. Nächsten Sonntag trödeln wir aber nicht so herum.«
Dann eilten wir die Stufen hinauf und schlüpften genau in dem Moment durch die Tür, als Phonse sie schließen wollte. »’n Abend, die Damen«, sagte er zwinkernd. Lucille funkelte ihn an, und ich schämte mich ein bisschen, weil ich sie so in Verlegenheit gebracht hatte.
Die Steinplatten im Mittelgang waren ziemlich abgewetzt, und ich sah, dass die Bänke zu beiden Seiten fast voll waren. Deshalb wollte ich mich in die letzte Reihe setzen, aber Lucille zog mich weiter nach vorn bis zur ersten. Überall verteilt saßen Schüler, die jüngeren bei ihren Eltern, die Teenager dicht an dicht weiter hinten. Ich blickte stur geradeaus, aber aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Ellbogen in Rippen gestoßen wurden und sich Köpfe in unsere Richtung drehten.
Als wir ganz vorn ankamen, fürchtete ich schon, Lucille wolle geradewegs bis zum Altar eilen, um die Messe zu lesen. Aber dann schob sie mich in die linke vorderste Bank. Sie kniete sich ächzend nieder, also machte ich das ebenso. Ich hatte meine Stelle angenommen, weil ich, als Dad erkrankte, die Jobsuche auf Eis gelegt und so den Rekrutierungsprozess für das neue Schuljahr in der Provinz Ontario verpasst hatte. Den katholischen Aspekt hatte ich dabei mehr oder weniger ausgeblendet und jedenfalls nicht damit gerechnet, dass zu meinen Pflichten auch der regelmäßige Besuch des Gottesdiensts gehören würde. Ich wusste nicht, ob ich das ein Jahr lang ertragen könnte, und beugte den Kopf, um für eine Lösung des Problems zu beten.
Der oder die Organistin stimmte ein mir vage bekanntes Kirchenlied an, und wie auf Kommando erhoben sich alle. Ich erkannte in den beiden Ministranten, die feierlich den Mittelgang entlangschritten, zwei unserer Schüler. Hinter ihnen tauchte Schwester Mary Catherine auf, die die Bibel wie einen Schild vor sich hertrug. Der beleibte Pfarrer in vollem Priesterornat bildete die Nachhut.
Während der Messe murmelte ich bei den Gebeten und Antworten, so gut ich mich erinnerte, mit. Hin und wieder sah ich mich verstohlen um. In der zweiten Reihe auf der anderen Seite des Gangs entdeckte ich Doug. Judy saß in der Reihe dahinter und grüßte mich mit einer unauffälligen Geste.
Zwar reihte ich mich in die Schlange für die heilige Kommunion ein, war jedoch weit entfernt vom Stand der Gnade. Aber es schien mir sicherer zu sein, den Zorn des Allmächtigen heraufzubeschwören, als mir Ärger und Tadel von Lucille einzuhandeln.
»Der Leib Christi«, intonierte der Pfarrer und sah mich eindringlich an, als wollte er meine Sünden erforschen.
»Amen«, krächzte ich und rückte den Kragen meines Trenchcoats zurecht, ehe ich mich wieder umdrehte.
Als ich in die Bank zurückkehrte und mich hinkniete, um die obligatorische Danksagung zu murmeln, kamen Erinnerungen an Dads Beerdigung in mir hoch. Er war ein überaus beliebter Englischlehrer und die Kirche voller Schüler gewesen, einige der Mädchen hatten geweint, die Jungen sich um Fassung bemüht. Mum und ich waren von alldem überwältigt gewesen. Ich zwickte in die Haut an der Innenseite meines Handgelenks und zählte lautlos rückwärts, um diesen Anflug von Traurigkeit zu verscheuchen.
Nach dem Gottesdienst wisperte Lucille mir zu: »Hochwürden Frank möchte mit Ihnen sprechen. Er hat gesagt, Sie sollen hier auf ihn warten. Wir sehen uns dann später zu Hause.«
Ich fragte mich, wie der Pfarrer diese Mitteilung bei der Hostienvergabe untergebracht hatte. Wie auch immer, ich setzte mich wieder und wartete, während sich die Kirche leerte. Durch die Buntglasfenster hinter dem Altar strahlte die Sonne herein. In einer Nische auf der rechten Seite flackerten Opferkerzen. Ich spähte verstohlen zur Eingangstür hinter mir, aber von dem Pfarrer war nichts zu sehen. Allmählich dachte ich, er hätte mich vergessen, doch dann trat er unvermittelt aus der Tür rechts vom Altar; er hatte sich umgezogen, trug jetzt sein schlichtes schwarzes Alltagsgewand.
Er kam auf mich zu, und sein stattlicher Bauch wölbte sich wie aufgequollener Hefeteig über seinen Gürtel. Abgesehen von ein paar spärlichen grauen Haarbüscheln war er nahezu kahl.
»Miss O’Brine«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Er trug einen breiten Goldring mit einem Rubin am Ringfinger, und einen Moment lang fragte ich mich, ob ich ihn küssen müsste.
»Rachel«, sagte ich und ergriff seine feuchte Hand.
Er setzte sich neben mich in die Bank und faltete die Hände im Schoß. »So, dann sind Sie also die neue Französischlehrerin«, sagte er. »Aber nun erklären Sie mir bitte eins: Wozu sollen die Kinder im abgelegenen Neufundland Französisch lernen?«
Bevor ich etwas sagen konnte, beantwortete er seine Frage selbst. »Also ich weiß nicht so recht, wozu das gut sein soll. Mir scheint, es gäbe sehr viel Wichtigeres, was man den Schülern beibringen könnte.«
»Ja, was denn?«
»Gutes Benehmen, zum Beispiel. Und Gottesfürchtigkeit.«
Er legte die Hände wie zum Gebet aneinander und hielt sie vor sich. »Als Lehrerin an einer katholischen Schule erwartet man von Ihnen, Miss O’Brine, ein einwandfreies moralisches Verhalten und dass Sie den jungen Gemeindemitgliedern ein Vorbild sind.«
»Ja, Pater.«
»Ein Problem, das mir zunehmend Verdruss bereitet, ist auch die nachlassende Enthaltsamkeit unter den jungen Leuten.« Er betonte das letzte Wort und bohrte seinen Blick in meinen, als suchte er dort das Eingeständnis meiner eigenen sexuellen Verfehlungen. »Wussten Sie, Miss O’Brine, dass es in unserer Gemeinde Mädchen gibt, die schwanger wurden und deswegen die Schule verlassen mussten?«
»Das ist in der Tat schockierend«, erwiderte ich absichtlich zweideutig.
Er sah mich scharf an, aber ich lächelte. Wenn mich all die Jahre meiner katholischen Schulerziehung eins gelehrt hatten, dann, wie wichtig es war, sich beim zuständigen Pfarrer einzuschleimen.
»Sie sind jung, Miss O’Brine«, fuhr er fort. »Daher werden sich ein paar der Mädchen an Sie wenden, weil sie in Ihnen eine Vertraute sehen.« Er richtete den Oberkörper auf. »Aber das ist meine Rolle in der Gemeinde. Sollte eins der Mädchen Sie aufsuchen, um Ihnen ein sexuelles Fehlverhalten zu beichten, müssen Sie sie unbedingt zu mir schicken.«
Nur wenn die Hölle zufriert, dachte ich bei mir.
»So, das hätten wir. Haben Sie irgendwelche Fragen bezüglich Ihrer Lehrerstelle?«
»Nein, Mr Donovan hat mich ausführlich über meine Aufgaben unterrichtet«, sagte ich und stand auf. »Wenn es sonst nichts mehr zu besprechen gibt, Herr Pfarrer, würde ich jetzt gern gehen, weil ich Lucille nicht länger warten lassen möchte.« Das war nicht ganz gelogen. Sie wartete wirklich auf mich, wenn auch zu Hause.
Vor der Kirche standen noch ein paar versprengte Grüppchen herum; Frauen, manche mit kleinen Kindern, die an ihren Händen zerrten, plauderten miteinander. Ich ging über die Straße zu meinem Wagen und seufzte tief, als ich wieder einen Zettel unter dem Scheibenwischer im Wind flattern sah. War es zu viel verlangt, wenigstens am hochheiligen Sonntag keine Hassbotschaften zu hinterlassen?
Aber auf dem Blatt stand nicht das, was ich erwartet hatte: »Hoffe, dass es nicht an der Begleitung lag, dass Dir schlecht wurde. Du wirst schon noch seetüchtig werden. Doug.«
Auf dem Weg zu Lucilles Haus schien über dem Hügel die Sonne aufs Meer, und ich sah ein Boot, das aus der Bucht hinausglitt; die Kielwasserfahne, die es hinter sich herzog, sah aus wie ein Brautschleier. Mit einem Mal schob sich eine Wolke vor die Sonne, und plötzlich erinnerte mich das Kielwasser an ein Totentuch. Mir fiel wieder ein, was Doug über die Rettungswesten gesagt hatte, und ich erschauderte.