8

Nachdem ich am Vortag den Kampf mit Calvin um die französische Toilettenpause gewonnen hatte, wollte ich mich jetzt auf den Rest meiner aufsässigen Neuntklässler konzentrieren. Vor Unterrichtsbeginn ging ich zu Patrick, um ihn um Rat zu bitten, wie ich am besten vorgehen sollte. Er riet mir, jeden Störenfried ein Arbeitsblatt ausfüllen zu lassen. Das widersprach allen pädagogischen Methoden aus dem Lehrbuch, aber die Elfenbeinturmtheoretiker hatten sich ganz offensichtlich noch nie mit Schülern vom Kaliber einer Trudy Johnson abmühen müssen.

»Und sagen Sie ihnen, sie müssen die Arbeitsblätter in meinem Büro ausfüllen«, fügte Patrick hinzu. »Sie werden sich wundern, wie schnell sie die Lektion gelernt haben werden.«

Ich stellte mich an den Matrizendrucker und machte Abzüge von Arbeitsblättern zu allen möglichen Themenfeldern, die einer Französischlehrerin so einfielen: Vokabular, Tempus, Verneinung. Während mir die berauschenden Dämpfe in die Nase stiegen, hoffte ich, sie seien der Vorgeschmack eines weiteren Triumphs.

Als ich später das Klassenzimmer betrat, schwenkte ich den Blätterstapel über dem Kopf und erläuterte den Schülern das Verhalten, das ich in Zukunft von ihnen erwartete, und mit welchen Strafen alle rechnen müssten, die nicht mitmachten. Trudy war die Erste, die ich aufrief, doch sie ignorierte mich einfach. Ich wiederholte die neuen Regeln und dass sie, sollte sie mir nicht antworten, ein Arbeitsblatt von mir bekäme.

Auch nachdem ich meine Frage nochmals auf Französisch gestellt hatte, antwortete Trudy nicht, also ließ ich ein Aufgabenblatt auf ihren Schreibtisch segeln.

»Das mache ich nicht«, sagte Trudy.

Ich legte ein zweites Blatt darauf, woraufhin sie etwas Unverständliches brummte. Wir wiederholten diese Arbeitsblattnummer ein drittes Mal. Dann nahm ich alle drei Blätter und schob sie demonstrativ zu einem ordentlichen kleinen Stapel zusammen.

»Oh«, sagte ich und lächelte süß, während ich ihn auf ihren Schreibtisch platzierte. »Ich hatte ganz vergessen zu erwähnen, dass die Aufgaben in Mr Donovans Büro ausgefüllt werden müssen. Er meinte, er kann es nicht erwarten zu erfahren, wer ihm wohl als Erstes Gesellschaft leisten wird. Nun, das bist offensichtlich du, Trudy.«

Das Mädchen wurde mit einem Mal ganz blass. »Ja, Miss«, sagte sie, »ich meine, oui.«

Es war das erste Mal, dass in meinem Beisein ein französisches Wort aus ihrem Mund kam. Ich hoffte, es war nicht das letzte Mal.

Durch kleine Etappensiege wie diese, die ich teils aus eigener Kraft erreichte, teils mit Patricks Hilfe, überstand ich den ersten Monat an der St. Jude’s irgendwie. Ich fand heraus, dass Patrick überhaupt zu unkonventionellen Methoden neigte. Statt der üblichen Elternabende hielt die Schule am letzten Freitag eines jeden Monats eine informelle Zusammenkunft ab.

»Wir locken sie mit Tee und Kuchen her«, erklärte Patrick und rieb sich die Hände wie ein Zauberer, der Böses im Schilde führt. »Und wenn sie da sind, entkommen sie uns nicht mehr, dann reden wir einfach mit ihnen über ihre Kinder.« Judy hatte mir erzählt, dass die Eltern meist nur mit den Lehrern der Hauptfächer, vor allem Mathematik und Naturwissenschaften, sprechen wollten, die Teilnahme jedoch auch für die anderen Lehrer verpflichtend sei.

Am ersten dieser Freitagabende stand ich allein in der Cafeteria herum, während sich die Eltern und ein paar Schüler um Doug, Judy, Patrick und sogar Schwester Mary Catherine scharten. Mein Namensschild, das ich am T-Shirt befestigt hatte, hing lose herunter, als wollte es ebenfalls nichts mit mir zu tun haben. Während ich es wieder zurechtrückte, fragte ich mich, wozu ich eigentlich ein Namensschild tragen musste, wo doch alle im Umkreis von achtzig Kilometern zu wissen schienen, wer ich war, auch wenn sie meinen Nachnamen nicht richtig aussprechen konnten.

Als der wütende Roy Sullivan von der Tankstelle den Raum betrat, sträubten sich mir die Nackenhaare, und ich atmete auf, als er schnurstracks auf Doug zusteuerte und die beiden sich sogleich in eine angeregte Unterhaltung vertieften. Im Geist ging ich die Namen meiner Klasse durch. In der zehnten war ein Sam Sullivan, ein schüchterner Junge. Konnte dieser Kerl dort sein Vater sein? Nein, bestimmt nicht. Dann entdeckte ich auf der anderen Seite des Raums Calvin, der leicht vorgebeugt dastand und aufmerksam einer Frau in mittleren Jahren lauschte. Irgendwann sah er zu mir herüber und wandte schnell wieder den Kopf ab. Aber die Frau war seinem Blick gefolgt, und schon kam sie, ihren Sohn im Schlepptau, zu mir herüber.

»Miss«, sagte Calvin. »Meine Mutter möchte mit Ihnen reden.«

Ohne Umschweife kam sie zur Sache. »Sagen Sie, benimmt sich mein Sohn im Unterricht?«

Calvin sah verschämt auf die Spitze seines abgewetzten braunen Schuhs hinab, mit der er auf dem Boden herumstocherte. Unschlüssig betrachtete ich kurz den ordentlichen Rock seiner Mutter, die robusten Schuhe und die ausgeblichene, aber sorgfältig gebügelte Bluse. Schließlich gab ihre hoffnungsvolle Miene den Ausschlag.

»Nun, Calvin gibt sich Mühe«, sagte ich. Vergeblich, hätte ich am liebsten hinzugefügt.

Er hob den Kopf, sah mich erstaunt an und formte mit den Lippen ein lautloses »Danke«.

»Calvin, sei so gut und lass uns kurz allein«, sagte seine Mutter. »Du musst ja nicht alles mitbekommen, was wir zu besprechen haben.«

Wir beobachteten, wie er davontrottete, dann sagte Mrs Piercey: »Calvin ist das letzte meiner Kinder, das noch in die Schule geht. Und nun sagen Sie mir, Miss O’Brine, wird es dieses Jahr heißen, aller guten Dinge sind drei?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, erwiderte ich.

»Na, dass er wieder sitzenbleibt. Calvin ist jetzt schon zum dritten Mal in der neunten. Und Französisch ist eines der Fächer, an denen er immer wieder scheitert.«

»Wie alt ist Calvin?«

»Siebzehn.«

Wie brachte sie ihn nur dazu, weiter die Schule zu besuchen, während er bei mir nicht einmal Bonjour sagte? Mrs Piercey verfügte ganz offensichtlich über eine große Überzeugungskraft.

»Mr Donovan wollte ihn eigentlich dieses Jahr in die Zehnte versetzen, aber ich bin der Meinung, der Junge muss das aus eigener Kraft schaffen.«

Mir schien, als wäre Calvin schon vor langer Zeit die Kraft ausgegangen.

»Mrs Piercey.« Ich rang um die richtigen Worte. »Glauben Sie, es ist in Calvins Interesse, dass er weiter die Schule besucht? Einen besonders glücklichen Eindruck macht er nicht.«

»Glücklich?« Sie runzelte die Stirn. »Glücklich oder nicht – das hilft ihm auch nicht, einen Job zu kriegen. Calvin geht zur Schule, bis er endlich diesen Wisch in der Hand hat, was anderes kommt nicht infrage.« Sie fasste mich am Arm. »In unserer Straße wohnt ein junger Kerl, der die Schule geschmissen hat, und wissen Sie, was der jetzt macht?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Er transportiert Holz, tagein, tagaus. Nee, aus Calvin soll mal was Besseres werden.«

Ich bewunderte sie für ihre Entschlossenheit, aber zum ersten Mal tat mir Calvin leid. Ein Highschool-Abschluss schien einfach unerreichbar für ihn, und mir fiel auch kein einziger anspruchsvoller Beruf ein, für den er qualifiziert wäre. Aber ich versprach ihr, alles in meiner Macht Stehende zu tun. Sie verabschiedete sich und ging wieder zu Calvin, der auf der anderen Seite des Raums auf sie wartete. Lächelnd sah er zu ihr hinab, hängte sich bei ihr ein und führte sie wie ein richtiger Gentleman hinaus.

Als Nächstes tauchte Cynthia auf, im Schlepptau die Kassiererin von der Tankstelle, die ich bereits kennengelernt hatte. Cynthia stellte uns in fehlerfreiem Französisch vor, und wir Frauen strahlten sie an.

»Ich habe keinen Schimmer, was sie gesagt hat«, meinte Mrs O’Leary lachend. »Aber alle Lehrer haben mir versichert, sie sind sehr zufrieden mit ihr. Scheint, als wäre dieses Stipendium tatsächlich in Reichweite, deswegen gehen wir jetzt feiern.« Als sie den Arm um Cynthia schlang, musste ich unwillkürlich an meine Mutter denken und daran, dass sie jetzt in Australien war, und das machte mich traurig. Ein Jahr ohne sie schien mit einem Mal sehr lang. Ich beschloss, ihr bei unserem nächsten Telefonat von Cynthia und ihrer Mutter zu erzählen.

»Wir fahren zu Tony’s in Clayville, Miss.« Cynthia strahlte übers ganze Gesicht. »Da machen se die beste Pizza.«

»Machen sie«, sagte ich.

»Was?«

»Sie machen die beste Pizza.«

»Das habe ich doch gesagt, Miss.«

In der Abschlussklasse gab es mehrere gute Französischschüler, aber Cynthia war ganz klar die Beste. Sie hatte eine gute Aussprache und beherrschte die Grammatik. Ihr Englisch dagegen stand wie bei den meisten Schülern hier auf einem anderen Blatt. Was hatte sie gesagt: Da machen se die beste Pizza.

Ich wünschte den beiden einen schönen Abend und verabschiedete mich dann von ihnen, aber in Gedanken war ich bereits bei etwas anderem. Als die letzten Eltern gegangen waren, hielt ich nach Doug Ausschau und traf ihn an seinem Schreibtisch an, wo er einen Apfel aß.

»Und, wie geht’s ihr so?«

»Ihr geht’s so ganz gut.«

Er grinste. »Hey, du lernst wirklich schnell.« Dann schnipste er das Kerngehäuse in den Papierkorb, schob seinen Terminkalender beiseite und hievte ein paar Stapel Schulhefte auf den Schreibtisch, offenbar machte er sich bereit, nach Hause zu gehen.

»Kann ich kurz was mit dir besprechen?«, fragte ich.

»Schieß los.«

»Ich habe darüber nachgedacht, vielleicht eine Englischgruppe zu gründen. Damit die Schüler weniger Fehler beim Reden machen, du weißt schon. Und beim Schreiben.«

Doug legte den letzten Stapel Schulhefte auf den Schreibtisch und schenkte mir dann seine volle Aufmerksamkeit. »Hast du schon mit Patrick darüber gesprochen?«

»Nein, noch nicht. Meinst du, er hält es für eine gute Idee?«

»Klar doch, sie ist großartig.« Doch da war ein schneidender Unterton in Dougs Stimme, den ich gar nicht an ihm gewohnt war. Er stand auf und schob mit einer heftigen Bewegung seinen Stuhl unter den Schreibtisch. Die Stuhlbeine schabten über den Boden.

»Ich dachte, du fühlst dich inzwischen wohl hier, Rachel. Ich dachte, du hättest es verstanden.«

»Was meinst du damit?«, fragte ich. »Was verstanden?«

Er machte den Mund auf, klappte ihn dann aber wieder zu, als hätte er Angst, die Worte auszusprechen.

»Doug, was verstanden?«

Er hob eine Hand, als wollte er meine Frage wegschieben. Und mich auch. Schließlich begann er in ruhigem, kontrolliertem Ton zu reden.

»Mir ist jetzt klar, wie du wirklich drauf bist. Die schlaue Festländerin, die uns armen dummen Neufundländern helfen will, ordentliches Englisch zu sprechen, stimmt’s?«

Prickelnde Hitze schoss mir in Brust und Gesicht. »Doug«, setzte ich an, »ich weiß nicht, was …«

Aber er fiel mir ins Wort. »Ich wette, du kennst unsere linguistische Geschichte nicht, weißt nicht, dass unsere Sprache in irischem und schottischem Gälisch wurzelt? Oder dass unser Dialekt Gegenstand akademischer Forschung von namhaften Ethnologen ist? Oder dass …«

»Doug, bitte.« Ich schlug die Hände vors Gesicht, und er hörte auf zu reden.

Stille breitete sich aus, hing schwer im Raum. Ungefähr nach einer Minute spähte ich zwischen meinen Fingern hervor. Doug stand mit ausgebreiteten Armen an die Tafel gelehnt da und sah auf den Boden. Ich nahm die Hände herunter, und er sah auf. Als sich unsere Blicke begegneten, bat er mich, ihm zu folgen.

»Komm, ich will dir was zeigen.«

Mit klopfendem Herzen ging ich hinter ihm den Flur entlang, ich musste fast rennen, um nicht zurückzubleiben. Als ich an der Bibliothek ankam, war er bereits hineingegangen und stand am Regal mit den Nachschlagewerken. Er zog ein Buch und eine Aktenmappe heraus und legte beides auf einen Tisch.

»Setz dich«, sagte er.

Ich tat es.

»Lies.«

Und bevor ich etwas erwidern konnte, war Doug zur Tür hinausgegangen, ohne sich zu verabschieden.

Als Erstes nahm ich das schwere, in gelbes Leinen gebundene Buch mit dem Titel A Dictionary of Newfoundland English zur Hand, überrascht, dass es für diesen Dialekt sogar ein eigenes Wörterbuch gab. Ich blätterte durch die Seiten und las den einen oder anderen Eintrag. Der zu arse – Arsch – zog sich über zwei Spalten, der für seal – Robbe – und damit verwandte Wörter und Ausdrücke nahm mehr als sieben Seiten ein. Bazz war ein Schlag oder eine Ohrfeige. To blear hieß, sich ausgiebig über etwas zu beschweren. Blearing – war es das, was ich tat, wenn ich über Little Cove und seine Bewohner sprach?

Ich las und las, und je länger ich mich in die Lektüre vertiefte, desto mehr staunte ich über die merkwürdigen, wunderbaren Worte. Nach einer Weile stand ich auf, nahm die beiden Werke mit in das verwaiste Lehrerzimmer und machte mir eine Tasse Tee, nachdem ich verblüfft festgestellt hatte, dass es schon nach zehn Uhr abends war. Aber das war egal, Lucille hatte ihren Damenabend und wartete nicht auf mich. Ich hätte das Wörterbuch von vorn bis hinten durchlesen können, so interessant fand ich es, aber irgendwann legte ich es zur Seite.

Bei dem anderen Werk handelte es sich um eine verblichene Aktenmappe, laut Beschriftung eine Masterarbeit, die an der Memorial University of Newfoundland eingereicht worden war. Eine Fußnote erklärte, dass der Anstoß für diese Arbeit ein in Toronto verbrachter Sommer gewesen sei, wo man sich unermüdlich über den Dialekt des Autors lustig gemacht hatte. Das Vorhaben zusammengefasst: »Ich beschloss, anhand einer ausführlichen Geschichte des Neufundländer Dialekts aufzuzeigen, dass unsere Art zu sprechen weder von Ignoranz zeugt noch falsch ist, sondern das Ergebnis unserer besonderen Geschichte, Kultur und Geografie. Unsere Sprache hat Bewunderung statt Spott verdient.«

Die Masterarbeit war eine anschauliche Analyse des einzigartigen Dialekts Neufundlands. Sie war gut und eingängig geschrieben; der Stolz des Autors auf die Kultur seiner Heimat sprach aus jedem Satz. Ich blätterte zur Titelseite zurück, um den Namen des Autors zu erfahren. Es war Patrick Donovan.

Als ich mir vorstellte, wie Patrick reagiert hätte, wenn ich ihm einen Englischtreff als eine Art Förderkurs vorgeschlagen hätte, überkam mich ein Gefühl der Scham. Langsam, als würde sich nach und nach der Nebel über der Bucht lichten, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, was mein Dilemma war: Meine leichtfertige Abneigung gegen die hiesige Sprechweise und meine mangelnde Anerkennung für den einzigartigen Dialekt der Neufundländer war kein bisschen anders als die Arroganz gegenüber dem Québecer Französisch. Ich war keinen Deut besser als die französischen Touristen, die sich, als ich vor ein paar Jahren in den Sommermonaten in einer Bar in Québec gejobbt hatte, über den Québecer Akzent mokiert hatten. »Ça vient du nez«, hatte ein Pariser abfällig gemeint. »Das klingt, als käme es aus der Nase.«

Damals wusste ich nicht, was ich ihm hätte erwidern sollen. Jetzt schon. Und das Gleiche galt für den Akzent und den Wortschatz von Neufundland. »Non. Ça vient du cœur. Es kommt von Herzen.«