Übers Wochenende versuchte ich mir die richtigen Worte zurechtzulegen, um mich bei Doug zu entschuldigen, aber als er am Montagmorgen vor mir auf den Parkplatz einbog, war ich mir immer noch nicht sicher, was ich sagen sollte. Ich beschloss, einfach zu improvisieren. Ich stieg aus, doch er war bereits am Schuleingang.
»Guten Morgen, Doug!«, rief ich, lief zu ihm und fasste ihn am Arm. »Hör zu, ich habe Patricks Masterarbeit gelesen und …«
Er schob meine Hand weg. »Ich habe jetzt eine Besprechung mit Patrick und bin schon spät dran.«
Er ging den Flur entlang und bog in die andere Richtung ab als die, die zu Patricks Büro führte. Ganz offensichtlich war er immer noch wütend auf mich. Ich musste mir etwas überlegen, wie ich die Sache wieder zurechtbiegen konnte.
Für eine so kleine Schule wie St. Jude’s gab es erstaunlich viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. Und Doug musste jeden Winkel kennen. Jedenfalls bekam ich ihn fast die ganze Woche über nicht zu sehen, und die wenigen Male, die wir uns begegneten, schien er mitten in einer angeregten Unterhaltung zu sein oder es eilig zu haben. Und sein Mittagessen nahm er auch immer auswärts ein. Am Freitag berief Patrick für die Mittagspause eine kurze Lehrerkonferenz ein. Ich legte meine Handtasche auf den Stuhl neben mir, um ihn für Doug zu reservieren, aber er setzte sich nicht, sondern aß sein Sandwich mit dem Rücken an die Wand gelehnt im Stehen.
Als am Nachmittag der Schlussgong ertönte, eilte ich so schnell ich konnte zu Dougs Klassenzimmer, aber es war niemand mehr da. An Anschauungsmaterial war nur ein Poster mit der menschlichen Anatomie zu sehen, das an der Pinnwand in der Nähe seines Schreibtischs befestigt war. In einer großen, kühnen Handschrift war eine Biologieaufgabe an die Tafel geschrieben worden.
Ich blickte in beide Richtungen des Flurs, aber da war niemand. Also ging ich zu Dougs Schreibtisch. Er war auffallend ordentlich, der Wochenplaner bereits zum kommenden Montag umgeblättert, und in den einzelnen Feldern hatte er stichwortartig den Unterrichtsplan notiert. Ich dagegen musste meine Stunden erst noch vorbereiten.
Auf der Fahrt zu Lucilles Haus versuchte ich, irgendeinen Radiosender hereinzubekommen. Kurz ertönte knisternd »Do You Really Want to Hurt Me« von Culture Club, und als ich das Radio ungeduldig ausschalten wollte, hielt ich plötzlich den Sendereinstellungsknopf in der Hand. Zur Hölle mit Doug! Hatte er noch nie einen Fehler gemacht? Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein. Mit der Religion mochte ich es nicht so haben, aber in Sachen Bibelzitate konnte ich locker mithalten.
Wütend machte ich die Haustür auf und hätte ums Haar Lucille umgestoßen.
»Du lieber Himmel, Mädchen«, sagte sie. »Sie kommen vielleicht krumm daher. Was is’n passiert?«
Krumm? Ich betrachtete mich im Spiegel im Flur und straffte die Schultern.
»Schlechten Tag gehabt?«, fragte sie.
Ich murmelte irgendetwas, dann schob ich mich missmutig an ihr vorbei und eilte die Treppe hinauf und in mein Zimmer, wo ich mich aufs Bett warf. Kurz darauf hörte ich Lucille im Wohnzimmer telefonieren. Bestimmt, um die ortswichtigen Instanzen vor meiner miesen Laune zu warnen.
Einige Zeit später, als es bereits dunkel war, klopfte es sanft an die Tür, und Lucille steckte den Kopf herein, um mir zu sagen, dass sie ausgehe.
Ich fragte mich, wie ich einen weiteren Freitagabend allein überstehen sollte. Ich setzte mich so abrupt auf, dass das Bett gefährlich wankte.
»Wohin gehen Sie freitagabends immer, Lucille?«
»Zum Knüpfen«, sagte sie. »Wollen Sie mich begleiten? Würd’ Ihnen vielleicht guttun, wenn Sie ’n bisschen rauskommen.«
»Lucille, was knüpfen Sie denn so?«
»Wir knüpfen Teppiche und Läufer, auf traditionelle Weise.«
»So wie den da?« Ich tippte mit der Fußspitze auf den gemütlichen Bettvorleger.
»Yis. Und Quilts machen wir auch, wie die da, auf dem Sie sitzen.«
»Wer ist wir?«
»Die Putzengel.«
»Die was?«
Lucille lachte. »Na, das sind wir Frauen, die die Kirche zusammen putzen«, sagte sie. »Keine Ahnung, woher der Name kommt, aber ich gehöre schon seit zwanzig Jahren dazu.«
»Sie machen das umsonst?«
»Die Kirche kümmert sich um uns. Da ist es nur recht, dass wir auch ein bisschen was für sie tun.«
Ich sagte, ich würde sie gern begleiten, und so marschierten wir im Dunkeln los. Lucille stürmte voraus, und ich trödelte hinter ihr her, weil ich immer wieder die zahllosen Sterne am Himmel bewundern musste, die wie Pailletten auf einem schwarzen Samtcape schimmerten.
Schließlich drehte sich Lucille um und rief den Hang hinauf: »Nun beeilen Sie sich, wenn Sie mitkommen wollen.«
Ich lief schneller und holte sie kurz darauf ein. »Tut mir leid«, sagte ich aus unerfindlichen Gründen im Flüsterton. »Aber in Toronto haben wir nicht einen so schönen Sternenhimmel.«
»Sterne sind Sterne«, sagte sie.
Während ich immer wieder den Kopf in den Nacken legte und fasziniert den Himmel betrachtete, musste ich Lucille innerlich vehement widersprechen. Diese Sterne waren wie die über unserem Sommer-Cottage. Sie hatten etwas Magisches.
Vor einem kleinen orangen Haus mit weißem Lattenzaun blieben wir stehen.
»Und da drinnen wird bitte schön nicht geschmollt«, sagte Lucille. »Diese Frauen sind meine liebsten Freundinnen, fast wie Schwestern.«
Bei ihren Worten zuckte ich kurz zusammen – Lucille hatte mir gerade die Leviten gelesen. Wobei ich zugeben musste – ein bisschen hatte ich es verdient.
Ich folgte ihr zum Nebeneingang; ohne anzuklopfen, schob Lucille energisch die Tür auf und trat ein. In der Küche saßen drei Frauen inmitten von bunten Wollfäden und Stoffstreifen. Jede hatte einen hölzernen Knüpfrahmen auf dem Schoß.
»Hallo, ihr Gänse«, sagte Lucille. »Ich hoffe, ihr habt heute viel Geduld, denn ich hab euch Rachel mitgebracht.«
»Das ist aber nett von dir«, erwiderte die Frau neben der Tür in breitestem Akzent. Eine Seite ihres Gesichts war von einem riesigen violetten Muttermal überzogen, das an Gorbatschows Feuermal erinnerte, aber was mir am meisten an ihr auffiel, war ihr einladendes Lächeln. »Hallo, Rachel«, sagte sie, »ich bin Biddy Cormack, und ich wohn’ hier. Lucille und ich ham zusammen die Schulbank gedrückt. Lassen Sie sie einfach reden.«
Lucille zog ihren Mantel aus und hängte ihn an einen Haken. Ich tat es ihr gleich. Dann stellte mir Biddy die anderen beiden Frauen vor, Flossie und Annie, die, wie man unschwer erkennen konnte, Schwestern waren.
»Gut, Rachel«, sagte Biddy. »Wollen Sie was eigenes anfangen oder uns erst mal zuschauen und ’n bisschen mit uns plauschen?«
Ich erwiderte, ich wolle erst mal zuschauen, und setzte mich neben Lucille auf das Tagesbett. »Wie geht das denn?«, fragte ich und sah interessiert auf ihren Knüpfrahmen.
»Zwischen Unter- und Oberseite ist ein Stück Sackleinen, sehen Sie?« Sie berührte das gitterartige Gewebe, das auf ihren Rahmen gespannt war. Das untere Drittel war mit verschiedenen Blauschattierungen bedeckt, dazwischen hie und da ein grauer Tupfer. Im oberen, noch unbearbeiteten Bereich war die große Skizze eines Anglers zu erkennen, der mit dem Rücken zum Betrachter in einem kleinen Fischerboot stand.
»So, und jetzt schön aufpassen«, sagte Lucille. »Ich nehm den Knüpfhaken, sehen Sie?« – sie hielt ein Werkzeug mit hölzernem Griff und Metallhaken hoch –, »und halt ihn wie ’n Bleistift oder, in Ihrem Fall, wie ’n Stück Kreide. Mit der anderen Hand halte ich ein Stück Wollfaden unten drunter.« Ihr Ton wurde noch ein bisschen herrischer. »So, Rachel, Mädchen, und nu kriechen Sie mal unter den Rahmen und schau’n sich die Sache von unten an.«
Ich kniete mich auf den Boden und spähte unter den Rahmen. Durch die winzigen Löcher in dem Gewebe schien das Licht. Als die Hakenspitze durch eines der Löcher fuhr, sagte Lucille: »Ich führ den Haken durch das Loch, sehen Sie? Und zieh ein Stück des Wollfadens auf die Oberseite.« Lucille war eine fantastische Köchin, und nun konnte ich mich davon überzeugen, dass sie auch eine ausgezeichnete Lehrerin und Kunsthandwerkerin war.
Ich setzte mich wieder neben sie. Mit der linken Hand hielt sie den Wollfaden und führte ihn geschickt zwischen ihren knotigen Fingern hindurch. Flink stach sie mit dem Haken durch das nächste Loch und brachte erneut eine Wollschleife zum Vorschein, und so ging es in rasantem Tempo weiter. Als sie am Ende des Wollfadens angekommen war, legte sie einen neuen unter den Rahmen und knüpfte eine weitere Reihe. Lucille arbeitete schnell und methodisch; während ihr Knüpfhaken von Loch zu Loch hüpfte, entstanden ordentliche, ebenmäßige neue Reihen.
»Ich nehme an, das ist das Meer?« Ich deutete auf den unteren Teil des Läufers.
»So isses.« Sie fuhr mit der Rückseite ihres Werkzeugs über die skizzierten Umrisse des Fischers. »Und das ist mein John in seinem Boot.«
»Möge seine Seele in Frieden ruhen«, murmelten die anderen Frauen prompt.
»Es ist ein Geschenk für Linda«, sagte Lucille. »Zu Weihnachten.«
»Sie hat ihren Dad sehr geliebt«, warf Biddy ein.
Ich wusste, wie sich das anfühlte. Ich rutschte auf dem Tagesbett weiter nach hinten und lehnte mich an die Wand.
»Er war so ein guter Mann«, sagte Lucille. Sie unterbrach ihre Arbeit und drehte ihren Ehering hin und her. »Er hat Linda jeden Morgen vor der Schule die Zöpfe geflochten, wisst ihr noch?«
Die anderen drei Frauen nickten. Dann sagte Biddy: »Er behauptete, er würde dabei Seemannsknoten üben, aber natürlich hat er es gemacht, damit sein Mädchen die hübscheste Frisur hatte. Ihre Zopfmuster waren immer die kompliziertesten von allen.«
Lucille seufzte. »Nach seinem Tod musste ich ihr die Haare abschneiden, sie bestand darauf.«
»Er musste viel zu früh gehen«, sagte Biddy.
»Wie ist es passiert?« Ich sagte es so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob man mich überhaupt gehört hatte.
»Er ist eines Morgens zum Fischen hinausgefahren und nicht mehr zurückgekommen«, antwortete Lucille in sachlichem Ton. »Genau wie sein Vater und sein Bruder vor ihm.«
»Wie zu viele«, fügte Biddy hinzu.
»Wie Dougs Vater«, sagte ich.
Die vier Frauen tauschten Blicke aus, und aus dem Augenwinkel sah ich, dass Lucille kaum merklich den Kopf schüttelte.
»Mein Vater ist dieses Jahr gestorben«, sagte ich und war selbst überrascht von meinen Worten.
»Ach, armes Kind.« Lucille legte ihre Handarbeit hin und zog mich an sich. »Warum haben Sie denn nie was gesagt? Ich dachte, er wäre mit Ihrer Mutter in Australien?«
Ich sagte nichts, denn ich spürte, wie die Tränen in mir hochkamen.
»Erzählen Sie doch ’n bisschen von Ihrem Vater«, fuhr Lucille fort und tätschelte mir die Schulter. »Trauer erträgt man am besten, wenn man sie mit anderen teilt. Ein bisschen so wie Lachen und Musik, nehm ich an.«
»Er war auch Lehrer«, sagte ich.
»Ist es nicht schön, dass Sie in seine Fußstapfen getreten sind?«, fragte Biddy. »Er sieht jetzt bestimmt auf Sie hinunter und ist mächtig stolz.«
Es fühlte sich wirklich gut an, mit diesen Frauen über Dad zu sprechen, wenngleich nur kurz. Bald nahm Lucille ihre Handarbeit wieder auf. Biddy fing meinen Blick auf und nickte mir zu, als wollte sie sagen: »Hier sind Sie sicher.« Ich stand auf, um mir auch ihre Läufer und die der anderen beiden Frauen anzusehen.
Flossie und Annie saßen nebeneinander, und ihre Knüpfhaken tanzten nahezu synchron über ihre jeweilige Arbeit. Flossie knüpfte ein Muster, das ein kleines Haus mit dem obligatorischen Meer im Hintergrund zeigte. Das Muster von Annies Läufer war wesentlich detaillierter: Eine Frau in einem roten Kleid und weißer Schürze stand in einem grasbewachsenen Hinterhof und hängte Laken auf. Flossie und Annie gingen genau wie Lucille vor: Sie knüpften Reihe um Reihe. Nur Biddy pflegte einen eigenwilligen Stil. Ihr Muster zeigte eine Frau, die im Wald Blaubeeren sammelt. Ich bewunderte, wie sie ihren Knüpfhaken mal hierhin und mal dahin wandern ließ.
Als ich eine Bemerkung zu ihrer unkonventionellen Arbeitsweise machte, sagte sie: »Ach so, ja. Ist ja egal, wie man das Muster ausfüllt. Die Hauptsache, es wird fertig. Mir gefällt es einfach, mal hier ein bisschen zu knüpfen und dann dort.«
Während die Frauen wieselflink weiterarbeiteten, konnte ich dabei zusehen, wie sich ihre Muster entfalteten. Es erstaunte mich, dass sie aus einem Sackleinengewebe und mit Resten recycelter Wolle und ausgedienter Kleidungsstücke derart lebendige kunsthandwerkliche Arbeiten fertigen konnten. Und das sagte ich ihnen auch, aber sie wischten mein Lob einfach beiseite.
»Ach was«, sagte Lucille. »Ist doch nichts weiter als ein Fleck, auf dem man die Füße ausruhen lassen kann.«
»Reine Übung«, meinte Flossie.
»Das kann doch jeder«, fügte Biddy hinzu.
»Also, ich bestimmt nicht«, sagte ich. »Die geben großartige Weihnachtsgeschenke ab. Ich könnte Ihnen allen ein Stück abkaufen.«
»Ich hab ’n ganzen Haufen davon oben«, sagte Biddy. »Die können Sie alle haben, wenn Sie wollen.« Sie legte ihren Rahmen beiseite. »Kommen Sie mit, ich zeig sie Ihnen.«
»Gut, kleine Zigarettenpause«, sagte Lucille. Ich zuckte unwillkürlich zusammen, aber dann fiel mir wieder ein, dass ich nicht erzählt hatte, woran Dad gestorben war. Lucille steckte je eine Zigarette für Annie, Flossie und sich selbst an; sie sog den Rauch tief ein und blies ihn mit einem zufriedenen Seufzer wieder aus.
Ich war froh, Biddy in den ersten Stock hinauf folgen zu können. »Rauchen Sie nicht?«, fragte sie.
»Nein. Und Sie?«
»Nein. Das hat meinen Bruder umgebracht. Lungenkrebs.«
Ich umfasste den Handlauf. »Meinen Vater auch.«
Biddy blieb mitten auf der Treppe stehen. »Es ist ein schrecklicher Tod. Das tut mir sehr leid.«
Sie ging weiter, und ich folgte ihr.
»Macht es Ihnen nichts aus, wenn hier geraucht wird?«, fragte ich.
»Doch, schon. Aber sie haben ja so wenig Freude im Leben«, erklärte Biddy. »Sie sind alle verwitwet.«
»Sie aber nicht?« Unwillkürlich musste ich an die Liebeskomödie Drei Münzen im Brunnen denken.
Sie wartete am oberen Treppenabsatz auf mich und berührte das Muttermal auf ihrer Wange. »So ein Gesicht, wie ich es hab, liebt nur die eigene Mutter«, sagte sie. Aber das stimmte nicht, ich hatte es bereits ins Herz geschlossen.
Rechts vom Treppenabsatz ging ein kleines Zimmer ab, das fast ganz von einem schmiedeeisernen Bett eingenommen wurde. Auf einer rosa Chenille-Tagesdecke türmte sich ein Stapel selbstgeknüpfter Läufer. Ich besah einen nach dem anderen, fuhr mit der Hand über die verschiedenen Muster – Fische, Vögel, Fischerboote und ländliche Szenen.
»Einer schöner als der andere!«, rief ich aus.
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte sie. »Sie können ja nächsten Freitag wiederkommen, wenn Sie nichts anderes vorhaben.«
Was soll ich denn vorhaben?, hätte ich beinahe geantwortet.
Wir gingen wieder die Treppe hinunter. Diesmal ging ich voraus, und Biddy tätschelte mir sanft den Rücken. »Sie können immer zu unseren Treffen kommen, wann immer Sie mögen.«
Wieder in der Küche bei den anderen Frauen, sagte Biddy in die Runde: »Und, wie kommt ihr voran? Zeit für ein Tröpfchen, oder was meint ihr?«
Nachdem ihr alle beigepflichtet hatten, holte Biddy eine Flasche Sherry aus dem Küchenschrank und stellte sie auf ein Tablett, auf dem bereits ein paar Gläser standen. Sie klirrten, als sie das Tablett über den Tisch schob. Lucille schenkte sich einen großzügigen Schluck ein und kehrte mit ihrem Glas zu ihrem Platz zurück. Flossie goss Sherry in zwei Gläser, indem sie vorsichtig zwischen den beiden Gläsern hin- und herwechselte, um sicherzustellen, dass in beiden gleich viel drin war. Dann reichte sie eins davon Annie. Biddy hielt mir die Flasche hin. »So, und jetzt genehmigen Sie sich einen ordentlichen Schluck.« Ich nahm die Flasche und ein Glas und bemühte mich, ein gutes Mittelmaß zu treffen, weder zu bescheiden noch zu großzügig zu sein, dann stießen wir an.
Ich nippte an dem Sherry und versuchte nicht zu schaudern, als ich von dem süßen Getränk probierte. Beim zweiten Schluck bekam ich es schon gut herunter.
»Und wie geht es Ihnen so in der Schule?«, fragte Biddy.
Da ich nicht wusste, in welchem Verhältnis die Frauen zur Schule standen – ob irgendwelche Großnichten oder Großneffen sie besuchten, antwortete ich ausweichend und beschränkte mich auf Allgemeines. Ich sagte, es sei gut, endlich die ganze Theorie, die ich mir am College angeeignet hatte, in der Praxis auszuprobieren. Weder erwähnte ich meine Schwierigkeiten noch, wie einsam ich mich fühlte, vor allem, seit Doug mich zu hassen schien. Ich erwähnte auch nicht, wie frustrierend es war, jemanden wie Calvin zu unterrichten, und mit welcher Freude mich Cynthias bezauberndes Französisch erfüllte.
Als eine kleine Gesprächspause entstand, kam mir in den Sinn, dass Calvin und Cynthia in der Tat das Yin und Yang meines Lehrerinnenalltags waren. Calvin waren Französisch, die Schule und ich zuwider, während Cynthia all das liebte. Calvins Weg war ungewiss, während Cynthia in eine goldene Zukunft blickte.
Plötzlich war ich wieder ganz Ohr. Flossie sagte gerade, sie habe gehört, jemand habe Brigid Roche in St. John’s gesehen – was, wenn sie nach Little Cove zurückkommen wolle?
»Es würde mich nicht wundern, wenn es sie mit ihren irischen Zahnschmerzen wieder hierher verschlagen würde«, sagte Annie und fuchtelte mit dem Glas in meine Richtung, weil sie es gern nachgefüllt haben wollte.
Biddy schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Also Annie, wirklich. Achten Sie nicht auf sie, Rachel.«
Lucille sagte: »Rachel, ich würde auch noch einen Schluck nehmen.«
Ich schenkte Annie nach, aber Flossie und Biddy lehnten ab, als ich fragend die Flasche in ihre Richtung hielt.
»Was sind denn irische Zahnschmerzen?«, fragte ich, während ich mir ebenfalls nachgoss.
Lucille stieß einen Schwall Rauch aus. »Ein Braten in der Röhre.« Sie beschrieb mit der Hand einen überdimensionalen Bauch.
»Aber was wird dann mit Rachel, wenn Brigid zurückkommt?«, fragte Flossie beharrlich.
Lucille drückte ihre Zigarette aus und griff erneut nach dem Knüpfhaken. »Rachel hat einen Einjahresvertrag«, antwortete sie für mich. »Wenn Brigid zurückkommt, wird sie wohl warten müssen, bis Rachels Jahr vorbei ist.«
»Apropos Braten in der Röhre«, sagte Annie. »Bei Georgie ist er fast gar.«
»Wie konnte sie nur so eine Sünde begehen!«, sagte Lucille.
Wut kam in mir hoch, und ich fragte mich, ob ich diese Frauen wohl falsch eingeschätzt hatte, die mich so freundlich aufgenommen hatten. Aber dann sagte Biddy: »Ja, ja. Sie muss die Schule verlassen, und Charlie darf bleiben. Das ist eine Sünde.«
»So war’s schon immer«, meinte Annie.
»Und wird’s immer sein«, erwiderte Flossie.
»Aber das sollte es nicht«, sagte ich, mehr zu mir selbst.