12

Am nächsten Morgen wurde ich vom Regen geweckt, der gegen das Fenster und auf den Dachvorsprung prasselte. Vom Badfenster aus sah ich ein grau aufgewühltes Meer. Die Sonntage waren immer besonders hart in Little Cove; einen verregneten wollte ich mir erst gar nicht ausmalen. Ich zog mich schnell an und ging hinunter. Lucille saß schon am Küchentisch und trank Tee.

»Ich bin ganz schön fertig von gestern Abend«, sagte sie. »Aber ich habe mich amüsiert, Mädchen.«

Ich sagte Lucille, dass ich kein Frühstück wolle und den ganzen Tag unterwegs sein würde.

»Und was ist mit der Messe?«, rief sie mir nach, aber ich war bereits zur Tür hinausgehuscht.

Eine Stunde später sah ich – genau in dem Moment, als es zu regnen aufhörte – das Hinweisschild für Clayville. Der Ort hatte 4500 Einwohner, also wesentlich mehr als Little Cove. Kurz nach dem Schild verwandelte sich die Schotter- in eine Teerstraße. Ich fuhr über die Nahtstelle, und das Geruckel hörte auf. Ich hatte es auf das Alter des Wagens zurückgeführt, aber jetzt schnurrte er gleichmäßig durch das Städtchen. Als ich mich einer Ampel näherte, schaltete sie auf Rot, und ich bremste gerade noch rechtzeitig: Es war zu lange her, dass ich an einer Ampel halten, geschweige denn durch lebhaften Verkehr fahren musste.

Ungefähr zwanzig Minuten lang kurvte ich durch Clayville, bis ich mich endlich zurechtfand und das berühmte Tony’s Pizza gegenüber einem Café ausmachte. Eine Parallelstraße weiter gab es einen Lebensmittelladen und eine Bibliothek – man stelle sich vor, eine Bibliothek! Beides war geschlossen, aber ich wusste, ich würde bei nächstbester Gelegenheit wieder nach Clayville kommen.

Ich fuhr in einem Bogen zurück und parkte vor dem Café. Es war klein, hatte nur fünf oder sechs Tische, und drinnen roch es nach frisch gebackenem Brot und Zimt. Ich ging zum Tresen und sah mir die Backwaren genauer an.

»Ein Dattelquadrat und einen Kaffee bitte«, sagte ich zu dem mittelalten Mann hinter der Theke. Er trug eine makellos weiße Schürze und ein Haarnetz.

»Sie sind nicht von hier, stimmt’s?«

Allmählich fragte ich mich, ob ich vielleicht eine Schärpe mit der Aufschrift »Festländerin« tragen sollte.

»Ich wohne in Little Cove und bin mit dem Auto hergekommen.«

»Sind Sie auf Urlaub hier?« Er blieb hartnäckig.

»Nein. Ich arbeite hier. Als Lehrerin.«

Es hätte mich nicht weiter gewundert, wenn er mich mit »Miss O’Brine« angesprochen und mir erzählt hätte, er sei Cynthias Onkel oder Calvins Bruder, dass er schon viel von mir gehört habe, und mich zum Schluss nach Lucilles Wohlergehen gefragt hätte. Aber er nickte einfach nur, dann schenkte er mir Kaffee ein, holte ein Dattelquadrat aus der Vitrine, gab den Betrag in die Kasse ein und druckte den Bon aus.

Ich setzte mich an den Tisch, der am nächsten zum Fenster stand, und nippte an meinem Kaffee. Er war köstlich. Ich schnupperte genüsslich daran und nahm einen weiteren Schluck.

»Entschuldigen Sie bitte!«, rief ich zur Theke hinüber. »Ist das frische Milch in meinem Kaffee?«

»Ja. Hätten Sie lieber die hier gewollt?«, fragte er und hob die allgegenwärtige Dosenmilch hoch.

»Um Himmels willen, nein!«, entfuhr es mir. »Ich frage mich nur, wo Sie die herhaben.«

Er sah mich misstrauisch an, als wollte ich ihn auf den Arm nehmen. »Aus dem Laden an der Ecke.«

»Dem Lebensmittelladen?«

»Nein, aber da kriegen Sie sie auch.«

»In Clayville?«, fragte ich hoffnungsvoll.

Wieder ein misstrauischer Blick. »Hmhm.«

Meine Geschmacksknospen jubelten.

Ich klappte meine Handtasche auf, holte mein Buch, Der Report der Magd, heraus und machte es mir für eine ausgiebige Lektüre gemütlich. Gelegentlich sah ich aus dem Fenster. Draußen auf der Straße fuhren immer wieder Autos, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren, aneinander vorbei. Ein banaler Vorgang, aber hatte ich ihn je in Little Cove beobachtet? Und dann, und das schwöre ich, hörte ich ein Hupen. Zwei Männer in Anzügen waren auf dem Bürgersteig in ein angeregtes Gespräch vertieft. Eine Frau in einer hellgelben Regenjacke ging vorbei. Sie hatte eine Zeitschrift in der Hand, und die Titelschlagzeile lautete: »Madonna heiratet Sean«. Okay, diese Nachricht war schon ein paar Wochen alt, aber immerhin war es eine Nachricht. Und sie sah aus, als könnte man mit ihr Spaß haben. Die Frau da draußen, nicht Madonna. Unwillkürlich musste ich an Sheila denken. Was sie wohl gerade tat? Dann rief ich mir die Zeitverschiebung in Erinnerung. Vermutlich schlief sie noch oder war, das würde ihr ähnlich sehen, nach einer durchfeierten Nacht gerade auf dem Nachhauseweg.

Ich hatte das Café ganz für mich allein und war bereits bei meiner zweiten Tasse Kaffee, als eine Familie hereinkam. Nachdem sie bestellt hatten, setzten sie sich an den Nachbartisch. Zwei Mädchen, ungefähr sechs und acht, schlürften heiße Schokolade und erröteten, als ihre Eltern leise über das geringe Arbeitslosengeld und die hohen Ratenzahlungen für ihr Hausdarlehen zu reden begannen. Nach einer Weile stand die Familie auf, im Weggehen streifte der Mantel der Frau über eine Ecke des Tischs und fegte dabei eine Broschüre zu Boden. Bis ich mich gebückt und sie aufgehoben hatte, um sie ihnen nachzutragen, waren sie bereits zur Tür hinaus. Es war ein Informationsblatt über die Gottesdienste in der Holy Redeemer Catholic Church in Clayville: »Sonntagsgottesdienst: 10 Uhr«.

Meine Gebete waren erhört worden. In Zukunft würde ich sonntagmorgens dem Ruf Gottes nach Clayville folgen, ich würde die Kirche links liegen lassen und meine Andachten im Café abhalten. Ich steckte das Blatt in meine Handtasche. Von nun an würde es gut sichtbar die ganze Woche über auf dem Armaturenbrett meines Wagens liegen.

Ich dachte gerade über einen dritten Kaffee nach, als zu meiner Überraschung Doug hereinspazierte. Ein Schmetterlingsschwarm nistete sich unter meinem Pullover ein. Ob er immer noch sauer auf mich war?

»Was machst du denn hier?«, fragte er.

»Och, nicht viel.«

»Darf ich mich zu dir setzen?«

»Nur, wenn ich dich auf einen Kaffee einladen darf«, sagte ich. »Eine Art Friedensangebot.«

»Gilt eine heiße Schokolade auch?«

»Sicher.« Ich stand auf und rückte den anderen Stuhl für ihn zurecht.

»Mit Marshmallows bitte.«

»Du verhandelst ganz schön hart«, erwiderte ich und ging in Richtung Theke.

Ich kehrte mit zwei Bechern heißer Schokolade und einem Teller voll Buttertörtchen, Muffins und Plätzchen zurück.

Dougs Augen leuchteten auf. »Hab ich einen Kohldampf.«

Ich nahm ein Buttertörtchen – es war ja fast Mittagessenszeit, rechtfertigte ich mich vor mir selbst – und reichte den Teller Doug. Die heiße Schokolade war köstlich, und das Buttertörtchen eine perfekte Mischung aus pappig und mürbe, genau wie es sein sollte. Doug war bereits beim zweiten Blaubeermuffin angelangt, bis ich mir endlich ein paar Worte zurechtgelegt hatte.

»Dieser Englisch-Konversationstreff, das war eine dumme Idee von mir«, begann ich.

»Ach, mach dir deswegen keinen Kopf.« Er wischte sich ein paar Krümel von seinem Hemd. »Ich war ziemlich trotzig an dem Tag.«

»Na ja, aber recht hattest du jedenfalls.«

»Das habe ich meistens.« Da war es wieder, sein typisch schiefes Lächeln – endlich. Zwischen uns war es wieder wie vorher.

»Na ja, vielleicht wäre ein Französisch-Konversationstreff die bessere Idee«, sagte Doug. Er biss in ein Buttertörtchen und kaute sichtlich zufrieden. »Was machst du denn in Clayville?«

Ich nippte an meiner heißen Schokolade. »Hab einfach mal einen Tapetenwechsel gebraucht.«

»Little Cove muss im Vergleich zu Toronto wirklich sehr klein sein. Meine Schwester konnte es nicht erwarten, von hier wegzukommen.«

»Ach ja, und wo ist sie hingegangen?«

»Nach Boston. Früher kam sie jeden Sommer zurück, aber inzwischen hat sie drei Kinder und war schon seit ein paar Jahren nicht mehr hier.«

Er nahm sich noch einen Muffin und lehnte sich dann zurück. »Und was ist deine Geschichte?«

»Der Report der Magd.« Ich hielt schelmisch das Buch hoch, sodass er die Titelseite sehen konnte.

Er ging nicht auf meinen Ablenkungsversuch ein. »Im Ernst. Was hat dich hierhergeführt?«

»Ach, verschiedene Gründe«, sagte ich. »Vom Tod meines Vaters habe ich dir ja schon erzählt. Dann ist meine Beziehung auf unschöne Weise in die Brüche gegangen, und meine Mutter ist für ein Sabbatical nach Australien gezogen.«

Doug legte den Kopf schief. Diese Geschichte von meiner Mutter gefiel den Leuten offenbar nicht. In Wahrheit wäre Mum, auch wenn Dad ihr nicht dieses Versprechen abgenommen hätte, so oder so gegangen. Sie war sehr karrierebewusst. Aber ich erzählte Doug dennoch von dem Versprechen am Sterbebett.

»Wie auch immer, jedenfalls hatte ich wegen Dads Tod nicht den Kopf, mich rechtzeitig um eine Stelle zu bemühen, und habe sämtliche Fristen verstreichen lassen. Und dann, plötzlich, ist mir beim Zeitunglesen die Anzeige für den Job an der St. Jude’s ins Auge gesprungen.«

»Ja«, sagte Doug. »Die Sache mit Brigid war für alle ein ziemlicher Schock, deswegen hat es eine Weile gedauert, bis die Schulleitung in die Gänge kam. Natürlich hatte die Suche nach einem neuen Pfarrer Vorrang. Und wie war das mit deiner Trennung?«

Eigentlich redete ich nicht gern darüber, aber Doug schien sich wirklich dafür zu interessieren, also erzählte ich ihm, dass Jake und ich uns an der Uni kennengelernt hatten.

»Als bei Dad Krebs diagnostiziert wurde, war Jake eine große Stütze. Mum konnte sich genauso auf ihn verlassen wie ich.« Ich sah aus dem Fenster und dachte daran, wie Jake das Laub gerecht und im Winter um unser Haus herum Schnee geschaufelt hatte.

Nach einer Weile fragte Doug: »Und warum ist es in die Brüche gegangen?«

Ich schaute weg, kaute an einem Nagel. Dann brachen die Worte aus mir heraus. »Er hat mich betrogen. Er hat etwas mit einer anderen angefangen, und die ist mitten in meine Abschlussparty reingeplatzt und hat ihn zur Rede gestellt.«

»Auweia.«

Ich nahm ein Zuckertütchen aus der Schüssel und schüttelte es. »Ja, ziemlich übel.«

»Und das war es dann?«

Ich warf das Tütchen auf den Tisch. »So ungefähr.« Ich wurde immer noch wütend bei der Erinnerung daran, wie Jake versucht hatte, seine Affäre zu rechtfertigen. »Weißt du, was er zu mir gesagt hat, als ich ihn gefragt habe, warum er mir das angetan hat?«

Doug sah mich erwartungsvoll an.

Tränen schossen mir in die Augen. »Er meinte, ihm habe der Spaß gefehlt. Dass ich immer traurig gewesen sei. Verdammt, mein Vater war gerade gestorben.« Beim Wort »gestorben« brach meine Stimme. Für einige Sekunden schwieg ich, dann sagte ich im Flüsterton: »Ich meine, wer sagt so etwas?«

»Ein Arschloch«, sagte Doug und reichte mir eine Papierserviette. »Man muss ein ganz schönes Arschloch sein, um so etwas zu sagen.«

Kurz dachte ich darüber nach und sagte dann: »Na ja, ein kompletter Arsch war er nun auch wieder nicht.«

»Klar«, erwiderte Doug, »sonst wärst du ja auch nicht mit ihm zusammen gewesen. Menschen machen immer wieder dumme Sachen. Aber irgendwann muss man auch vergeben können.«

Damit musste er mich und die Sache mit dem Englisch-Konversationstreff meinen. Denn auch wenn ich einräumen konnte, dass Jake nicht nur schlechte Eigenschaften hatte – ihm zu vergeben, dazu war ich noch nicht bereit.