Ein paar Wochen nach unserem Pubbesuch sagte Lucille: »Ich dachte, wir könnten heute vielleicht wieder nach Mardy fahren. Johnny’s Crew spielt zusammen mit Phonse und den Jungs.«
Mir fiel kein guter Grund ein, der dagegensprach, aber bei dem Wort »wir« sträubte sich etwas in mir. Sosehr ich Lucille auch mochte, verbrachte ich doch jetzt schon die meisten Freitagabende mit ihr und den Knüpferinnen. Und die Samstagabende wollte ich ihr nicht auch noch überlassen. Andererseits hatte ich keine anderen Pläne, abgesehen davon, ein Buch aus der Bibliothek zu lesen oder Musik zu hören.
Lucille ging nach oben, um sich herauszuputzen. Meine Energie reichte gerade noch, um mir die Zähne zu putzen.
Aber beim Gedanken an die fröhliche Musik, die ich gleich zu hören bekäme, besserte sich meine Laune auf der Fahrt zum Pub. Als wir den Raum betraten, spielte sich Phonse auf der Bühne gerade ein und setzte sich ein bisschen aufrechter hin, als er mich bemerkte. Vielleicht dehnte er sich ja auch nur. Um ihn herum standen seine üblichen Mitspieler, doch vorne, in der Mitte der Bühne, erkannte ich drei mir bekannte Teenager.
Lucille ging zu einer Frau in der Ecke und plauderte mit ihr. Ich bestellte ihr am Tresen einen Drink und für mich ein Bier, dann schlenderte ich zur Bühne.
»Hey, Miss«, sagte Beverley, die gerade den Mikrofonständer justierte. Sie gehörte zu den wenigen cleveren Schülern der Abschlussklasse. Sie war zwar keine Cynthia, aber sie war nicht auf den Kopf gefallen. Hinter ihr stimmte Roseanne ihre Fiedel, und links von ihr stand Jerome mit einer Gitarre. Alle drei waren bei mir in Französisch.
»Hey, Leute!«, rief ich. »Ich wusste gar nicht, dass ihr Musik macht. Ich freue mich auf euren Auftritt.«
»Na, warten Sie mal ab«, sagte Beverley in ihrer typisch selbstzweifelnden Art, die ich inzwischen kannte.
Die Kneipe wurde zusehends voller, und Lucille winkte mir aufgeregt zu. Sie hatte wieder einen Tisch ergattert. Darin war sie unschlagbar. Ich ging zu ihr rüber und erzählte ihr von meinen Schülern, die gleich auftreten würden.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Das ist Johnny’s Crew, so heißt die Band.«
Ich hatte ganz vergessen, dass Lucille alles wusste.
Als die ersten Takte den Raum erfüllten, machte sie pscht und legte den Zeigefinger an die Lippen, obwohl sie diejenige war, die die ganze Zeit geredet hatte. Auf der Bühne begann eine barfüßige Beverley, die Augen geschlossen, den Folksong Four Strong Winds ins Mikrofon zu schmachten.
Im Unterricht war Beverley schüchtern und wurde schnell rot, wenn man sie aufrief. Aber jetzt, auf dieser Bühne, war sie ganz in ihrem Element, ihre Stimme umschmeichelte die Worte.
Natürlich hatte ich den Song schon unzählige Male gehört. Dad hatte die Version von Ian & Sylvia auf Platte, und in jüngerer Zeit hatte auch Neil Young eine Version herausgebracht. Aber ihn live zu hören, unterstrich auf eine Art die Bedeutung des Textes. Auf die Situation mit Jake passte er wie die Faust aufs Auge: Die guten Zeiten waren vorbei, und er war weitergezogen. Und vielleicht, aber nur vielleicht, war ich so weit, ihm vergeben zu können.
Lucille beugte sich herüber, und ich konnte ihren Zigarettenatem riechen. »Du bist so ruhig. Stimmt was nicht?«
»Nein, mir geht es gut«, sagte ich und tätschelte ihren Arm. Wir richteten beide unsere Aufmerksamkeit wieder auf Beverley, die sich sanft auf der Bühne wiegte und das Publikum vollkommen vergessen zu haben schien. Als sie beim letzten Refrain ankam, summten einige mit, und hie und da mischte sich auch ein Bariton unter den Gesang.
Während noch ausgiebig geklatscht wurde, hüpften Beverley und Jerome von der Bühne und schlängelten sich zwischen den Tischen und Stühlen hindurch. Roseanne und Phonse unterhielten sich noch. Sie schaute verstohlen in meine Richtung und nickte dann eifrig.
»Das war großartig«, sagte ich, als Beverley und Jerome an unseren Tisch kamen. »Ihr habt alle großes Talent.«
Beverley verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: Ach, dieser alte Schmachtfetzen.
»Miss«, sagte sie dann, »Phonse hat uns erzählt, dass Sie auch fiedeln. Wollen Sie nicht was mit uns spielen?«
»O nein, das kann ich nicht, Beverley. So gut spiele ich nicht.«
»Bitte, Miss«, flehte sie.
»S’il vous plaît, Mademoiselle!«, säuselte Jerome und klimperte mit den Wimpern.
»Ich habe keine Fiedel dabei«, sagte ich.
»Sie können Phonse’ Ersatzfiedel haben.«
»Ach ja?« Ich fing Phonse’ Blick auf und drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger.
»Nun kommen Sie schon, Miss, das macht bestimmt Spaß.« Beverley zog mich am Ärmel, und ich stand seufzend auf und ließ mich von ihr in Richtung Bühne führen.
»Hab gedacht, es ist Zeit, dass Sie zeigen, was Sie draufhaben«, sagte Phonse und reichte mir die Fiedel.
Während ich das Instrument kurz stimmte, wurde es im Pub still.
Beverley trat ans Mikrofon. »Auf besonderen Wunsch wird nun unsere Lehrerin, Miss O’Brine, etwas mit uns spielen.«
Aus dem hinteren Teil des Lokals donnerte eine männliche Stimme: »Lassen Sie’s krachen, Miss!«
Die Leute lachten und klopften mit ihren Flaschen auf den Tisch. Ich blinzelte in die Menge; nur freundliche Gesichter blickten mir entgegen. Ich beugte mich ans Mikrofon vor. »Nur ein Lied«, sagte ich und machte eine Kunstpause, bevor ich hinzufügte: »Mehr kann ich nicht.«
Wieder wurde gelacht, und ich nahm meinen Platz neben Phonse ein. Die letzten Male hatten wir ein Stück namens Sweet Forget Me Not geübt, das mir noch in frischer Erinnerung war. Ich war froh, dass er es für mein Bühnendebüt ausgewählt hatte.
Ich legte die Fiedel ans Kinn. Beverley zählte ein – drei, zwei, eins –, und als wir zu spielen anfingen, richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Phonse. Obwohl ich mich aufs Spielen konzentrierte, war ich fasziniert von dem Liedtext, den ich noch nie gehört hatte.
She’s graceful and she’s charming, like the lily in the pond
Time is flying swiftly by, of her I am so fond
The roses and the daisies are blooming ’round the spot
Where we parted, when she whispered: »You’ll forget me not.«
Die meiste Zeit hielt ich den Blick auf die Uhr hinter dem Tresen gerichtet, nur manchmal sah ich zu Phonse hinüber. Einmal fing er meinen Blick auf und zwinkerte mir zu, und als ich sein Lächeln erwiderte, wich es nicht mehr aus meinem Gesicht. Ich konnte mich nicht erinnern, beim Geigespielen je gelächelt zu haben. Danach, sicher, aber nicht während ich spielte. Trotz meiner Unerfahrenheit gefiel mir diese Musik und dieses Publikum hier wesentlich mehr als die Konzertauftritte, an denen ich als Jugendliche hatte teilnehmen müssen.
Als wir das Lied zu Ende gespielt hatten, wurde so heftig mit den Bierflaschen auf die Tische getrommelt, dass ich Angst hatte, sie würden kaputtgehen. Phonse klopfte mir auf die Schuler.
»Gut gemacht! Sie haben geübt.«
Ich war froh, ihn diesmal nicht enttäuscht zu haben.
»Aber warum haben Sie gesagt, Sie kennen nur ein Lied?«, fragte er. »Sie müssen inzwischen ein halbes Dutzend auf Lager haben.«
»Man soll immer dann aufhören, wenn’s am schönsten ist.«
Er schlug sich aufs Knie. »Haha, das stimmt wohl. Aber ich hoffe, Sie fiedeln bald mal wieder mit uns.«
»Und ob!«
Als ich an unseren Tisch zurückkam, trocknete sich Lucille mit einer Serviette die Augen. »Mein John hat dieses Lied auch immer für mich gesungen«, sagte sie. »Du hast uns stolz gemacht, Mädchen.«
Ich kannte Lucille nur als alleinstehende Frau und vergaß manchmal ganz, dass sie mit ihrer eigenen Trauer zu kämpfen hatte. Während die Band oben auf der Bühne das nächste Stück anstimmte, rückte ich meinen Stuhl näher an ihren heran.
Ich freute mich, dass Judy in einer Pause zu uns herüberkam. Sie stellte mir ihren Mann Bill vor, und wir plauderten ein wenig, bevor sie Bill eine Runde Drinks holen schickte.
»Das war etwas ganz Besonderes, Rachel«, sagte sie. »Ich wusste gar nicht, dass Sie so musikalisch sind. Ich hatte eigentlich vor, Ihnen nach Weihnachten das Jahrbuch aufzubrummen, aber jetzt habe ich eine sehr viel bessere Idee. Wie wär’s, wenn Sie ein paar Schüler zusammentrommeln, die bei unserem Gartenfest im Juni Musik machen?«
»Hm«, sagte ich, »ich weiß nicht, ich …«
»Klar macht sie das«, sagte Lucille. Und damit schien die Angelegenheit erledigt.
Lucille hatte bereits das Thema gewechselt: Sie sprach mit Judy und Bill über die bevorstehende Beerdigung von jemandem, den ich nicht kannte.
Auf der Bühne stimmte die Band ein neues, fröhliches Stück an, und sofort füllte sich die Tanzfläche. Ich spürte ein leichtes Tippen am Arm, und als ich mich umdrehte, stand ein braungebrannter junger Mann da, der mit seiner Bierflasche in meine Richtung wedelte und sagte: »Lust auf ’n Schlurf?«
Ich war inzwischen recht gut in Neufundländisch, aber »Schlurf« hatte ich noch nie gehört. Damit musste bestimmt ein »Drink« gemeint sein.
Ich wedelte mit meinem Bier zurück. »Danke, aber ich bin noch versorgt. Außerdem muss ich fahren.«
Als er kopfschüttelnd davonstapfte, brachen Judy und Lucille in Gelächter aus.
»Ein Schlurf ist ein Tanz, du Dummchen«, sagte Lucille. »Der nette Kerl wollte mit dir tanzen.«
»Oh.« Ich war froh, dass man meine roten Wangen in der schummrigen Beleuchtung nicht sah. »Vielleicht kann ich ja später mit ihm tanzen.«
Judy sagte: »Wenn Sie das machen, stehen bestimmt gleich alle Schlange.«
»Ich weiß sowieso nicht, wie man zu dieser Musik tanzen soll«, sagte ich und sah einem Paar zu, das nur ein paar Zentimeter entfernt an unserem Tisch vorbeiwirbelte.
»Ach, das ist doch ganz einfach«, warf Lucille ein. »Man spürt den Rhythmus, und los geht’s.«
Ich war noch nicht ganz überzeugt.
Kaum hörte die Musik auf, kam das Schülertrio der Band an unseren Tisch.
»Sie waren echt gut, Miss«, sagte Roseanne.
»Ach was, ich doch nicht, aber ihr drei, ihr wart wirklich großartig. Wie wär’s, wenn ihr eure Instrumente mal mit in die Schule bringt, dann könnten wir zusammen ein bisschen Musik machen.«
Jerome blickte auf seine Füße hinab. »Nee, wir spielen nur hier, weil wir müssen.«
»Warum das denn?«
»Der Pub gehört meinem Dad«, sagte Beverley. »Er ist ihr Onkel.« Sie deutete mit dem Daumen auf die anderen beiden.
»Wir würden viel lieber Rockmusik spielen, nicht diese ollen Kamellen«, erklärte sie und schaute so abfällig auf Roseannes Fiedel, dass ich das Instrument am liebsten getröstet hätte. »Aber Dad sagt, dass wir ab und zu hier auftreten müssen, und deswegen …« – sie zuckte die Schultern und hob dabei die Handflächen nach oben – »tun wir ihm halt den Gefallen.«
Roseanne fügte hinzu: »Aber für heute reicht’s. Kommt, holen wir uns was zu trinken.«
Nachdem sie gegangen waren, sagte ich zu Judy: »So viel zu Ihrer Idee.«
»Nee, nee«, erwiderte sie, »so schnell dürfen Sie nicht aufgeben. Das kriegen Sie bestimmt hin, ich zähl auf Sie.«
Kurz darauf kam Bill mit einer weiteren Runde Getränke zurück, und er, Judy und Lucille knüpften wieder bei ihrem Gespräch über die Beerdigung an. Ich zupfte am Etikett meiner Bierflasche herum. Ich hatte meinen Auftritt auf der Bühne genossen. Vielleicht gelang es mir ja doch, die drei dazu zu überreden, beim Gartenfest zu spielen. Ich musste nur herausfinden, wie.