16

Der November war im Nu vorbei, und pünktlich zum 1. Dezember schneite es. Wir sahen zu, wie vor dem Klassenzimmer der Schnee herabrieselte, sanft und gleichmäßig. Ich war fast genauso hibbelig wie die Schüler. Nach Schulschluss stürzten alle in den Hof. Vom Fenster aus sah ich zu, wie Calvin mit nackten Händen einen großen Schneeball formte und Cynthia um meinen Wagen herumscheuchte. Als er sie eingefangen hatte, stopfte er ihr den Schneeball in den Mantelkragen. Sie kreischte ohrenbetäubend, grinste aber dabei. Im Gegenzug schnappte sie sich seine Mütze und stürmte los, sah über die Schulter zurück und lachte, als er beim Versuch, sie einzuholen, im Schnee ausrutschte. Der erste Schneefall im Jahr sorgte dafür, dass selbst Calvin und Cynthia, die ungleicher nicht hätten sein können, zusammen Spaß haben konnten.

Als ich später die Schule in der dunkelblauen Abenddämmerung verließ, hatte jemand meine Windschutzscheibe vom Schnee befreit. Ich lächelte, stellte mir vor, wie Phonse ihn mit einem Besen weggefegt hatte. Aber als ich auf den Fahrersitz schlüpfte, bemerkte ich einen Zettel, der ans Lenkrad geklebt wurde: »Clayville ist nicht weit genug. Verpissen Sie sich dahin zurück, wo Sie hergekommen sind.«

Ich bekam ein flaues Gefühl im Magen. Jemand war in meinem Wagen gewesen, hatte vielleicht sogar darin Platz genommen, um diese Botschaft zu hinterlassen. Ich haute die Faust so fest aufs Lenkrad, dass der Zettel entzweiriss. Ich packte die beiden Fetzen und warf sie auf den Beifahrersitz.

Zum Teufel mit diesem Ort und seinen Bewohnern. Ich bog vom Parkplatz auf die Straße ab und drückte aufs Gaspedal. Als ich Little Cove hinter mir ließ, war ich bereits zweimal ins Schleudern geraten – was mich so sehr erschreckte, dass ich langsamer fuhr.

Ungefähr eine Minute lang hielt ich den Blick geradeaus auf die Straße gerichtet, während die Scheinwerfer zwei bernsteinfarbene Tunnel in die Dunkelheit bohrten. Aber dann konnte ich nicht widerstehen und riskierte einen Blick auf die beiden Papierfetzen auf dem Beifahrersitz. War es dieselbe Handschrift wie beim letzten Mal? Und wenn ja, warum tat diese Person so etwas? Womit hatte ich das verdient? Ich schaute wieder auf die Straße und merkte, dass mein Wagen auf die andere Straßenseite abgedriftet war und zwei Scheinwerfer direkt auf mich zukamen. Ich machte einen jähen Schlenker nach rechts und trat auf die Bremse; zu spät erinnerte ich mich daran, dass man das auf einer glatten Fahrbahn auf keinen Fall tun darf. Prompt geriet das Auto ins Schleudern und landete im Straßengraben.

Ich hörte das Zuschlagen einer Wagentür, dann rief jemand: »Miss O’Brine?«

Meine Fahrertür wurde aufgerissen, und ein runzliges Gesicht unter einer Mütze spähte herein.

»Jesses Maria«, sagte der Mann. »Haben Sie mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Alles okay mit Ihnen?«

Ich öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus. Nur für ein Daumen-hoch-Zeichen reichte es. Der Mann griff über mich hinweg, löste den Sicherheitsgurt und half mir, aus dem Wagen zu steigen und die Böschung hinaufzuklettern.

Ich sog tief die kalte Luft ein. Als sich meine Atmung wieder normalisiert hatte, bedankte ich mich bei meinem Retter. Er stellte sich mir als Eddie Churchill vor und meinte, Phonse hätte ihm viel von mir erzählt.

Ich ließ mich mit dem Rücken gegen seinen Lastwagen sinken. »Sie kennen Phonse.«

»Kennen? Er ist mein Cousin und Nachbar, besser kann man ihn nicht kennen.«

Er holte eine Taschenlampe aus seiner Manteltasche hervor, mit deren Hilfe er sich meine Reifen besah. »Aha, keine Winterreifen drauf«, sagte er. »Kein Wunder, dass Sie von der Straße abgekommen sind.«

»Ich wollte sie demnächst in der Werkstatt in Clayville aufziehen lassen«, antwortete ich. An dem Tag, an dem ich die Reifen besorgt hatte, hatte die Werkstatt keine Aufträge mehr angenommen, und seitdem war ich nicht wieder dort gewesen.

»Nee, meine Liebe«, sagte er. »Das mache ich, und zwar gleich. Die Straße ist schon unter normalen Umständen miserabel, vereist ist sie die reinste Rutschbahn. Aber erst müssen wir den Wagen hochschieben.«

Er holte zwei Stück Karton hinten aus seinem Lastwagen. Wir kletterten in den Graben zurück, wo er je einen Karton unter die Hinterreifen platzierte.

»Meinen Sie, Sie können schieben?«, fragte er.

Ich nickte.

Er legte den Leerlauf ein und stellte sich neben mich an die hintere Stoßstange.

»Nun denn, Miss«, sagte er, »und jetzt heißt’s kräftig ruckeln.«

Wie schoben ein paar Mal vor und wieder zurück, bis wir den Wagen schließlich aus dem Graben bugsiert hatten.

Während ich die Taschenlampe hielt, holte Mr Churchill Reifen und Wagenheber aus dem Kofferraum und machte sich an die Arbeit.

»So, so, Sie unterrichten also Französisch«, sagte er. »Schade, dass ich nicht mit Ihnen parlieren kann.«

»Es ist nie zu spät, es zu lernen.«

Meine Finger wurden allmählich taub vom Halten der Taschenlampe, und ich musste immer abwechselnd eine Hand in der Manteltasche wärmen. Mr Churchill dagegen schien die Kälte nichts auszumachen. Er arbeitete mit routinierten Handgriffen und pfiff dabei munter vor sich hin.

»Was ist das für ein Lied?«, fragte ich irgendwann.

»Es heißt Sonny’s Dream. Phonse kennt’s bestimmt auch.«

Zu guter Letzt kurbelte er den Wagenheber herunter und verstaute ihn mit den Sommerreifen im Kofferraum. »Die können Sie jetzt wegräumen, wenn Sie zu Hause sind«, sagte er. »Die werden Sie lange nicht brauchen.«

»Vielen, vielen Dank, Mr Churchill.«

»Nennen Sie mich Eddie«, sagte er und blies sich in die Hände, dann rieb er sie kräftig.

Ich öffnete die Handtasche. »Wie viel schulde ich Ihnen, Eddie?«

»Nee, dafür kann ich nichts annehmen«, sagte er. »Erstens war’s nur ein Fünf-Minuten-Job.«

»Wohl eher fünfundvierzig Minuten.«

»Und zweitens würde Phonse mir den Kopf abreißen. Sie sind doch jetzt eine von uns, stimmt’s?«

Wer immer mir diese Botschaften schickte, schien da anderer Meinung zu sein, aber während ich langsam und vorsichtig bei dichtem Schneetreiben nach Hause fuhr, wärmten mir die Worte »eine von uns« das Herz.

Als ich am nächsten Morgen in die Schule kam, schaufelte Phonse auf den Eingangsstufen den Schnee weg.

»Morgen, Rachel«, sagte er. »Hab schon von Ihrem kleinen Reifen-Zwischenfall gehört. Wo Sie jetzt so oft hin- und herfahren, sollten Sie ihn vielleicht bitten, ’n bisschen auf Sie achtzugeben.«

»Wen? Eddie Churchill?«

»Nee, Mädel.« Phonse deutete auf die Statue gleich hinter der Tür. »St. Jude. Der Schutzpatron für hoffnungslose Fälle. Und wenn was hoffnungslos ist, dann diese Straße.«

Bei meiner Ankunft vor ein paar Monaten hatte ich nicht genau gewusst, was es mit dem Schutzheiligen der Schule auf sich hat. Aber als Phonse jetzt sagte, er sei der Schutzpatron der Hoffnungslosen, schob sich Calvins trotziges Gesicht vor mein inneres Auge. Nach diesem flüchtigen Moment während Judys Visite, als er sich am Unterricht beteiligt hatte, war er wieder zu seinem üblichen mürrischen Selbst zurückgekehrt. Kein Wunder, dass Patrick von dieser Statue in der Eingangshalle nicht allzu viel hielt.