Zu dieser Zeit des Jahres schien der größte Vorteil des Lehrerberufs, abgesehen von den großzügig bemessenen Ferien, in den zahlreichen Weihnachtsgeschenken zu bestehen. Endlich hatte ich meine eigene Tasse mit der Aufschrift »Beste Lehrerin der Welt«, ganz zu schweigen von Duftseifen, Weihnachtsschmuck, hausgemachter Marmelade und so viel Schokolade, wie ein Mensch allein sie bewältigen konnte, und das war in meinem Fall jede Menge.
An Heiligabend übertrieb ich es ein bisschen, ich verdrückte eine ganze Schachtel. Irgendwann ließ ich mich vom Sofa auf den Boden gleiten und hielt mir den Bauch. »Das kommt von diesem Turkish Delight«, jammerte ich in die Stille hinein. Ein neues Jahr stand vor der Tür, und ich hatte seit September jede Menge gelernt, aber ganz offensichtlich nicht, wann ich genug Schokolade gegessen hatte.
Als die Bauchschmerzen nachgelassen hatten, kroch ich auf allen vieren zum Weihnachtsbaum und schaltete die Lichterkette ein. Ich wickelte mich in Lucilles Quilt und bewunderte meinen kleinen, dicht gewachsenen Weihnachtsbaum, den ich schlicht mit weißen Lichtern und roten Schleifen geschmückt hatte. Nachdem ich die anderen Lampen ausgeknipst hatte, lag ich im Halbdunkel da und sah den blinkenden Lichtern zu.
Um den Baum herum verteilt lagen drei einsame Gaben: ein großer Karton aus Australien, ein Umschlag von Sheila sowie ein plumpes, ungeschickt umwickeltes Päckchen, das mir am letzten Schultag vor den Ferien jemand auf den Schreibtisch gelegt hatte. Sheilas Brief war bereits vor zwei Wochen eingetroffen, aber ich hatte mich die ganze Zeit beherrscht und ihn mir für diesen Abend aufgehoben. Es würde merkwürdig sein, Weihnachten ganz ohne sie zu verbringen, vielleicht noch merkwürdiger als ohne Mum.
Ich sah die Geschenke an, schaute weg, dann wieder hin. Sie bettelten förmlich danach, aufgemacht zu werden. Nach einem kurzen inneren Kampf beschloss ich, dass ich Mums Geschenk guten Gewissens öffnen konnte, schließlich war in Australien schon der erste Weihnachtstag.
Ich riss die braune Verpackung auf und musste kurz lächeln, als darunter Geschenkpapier mit einem Weihnachtsmann auf einem Surfbrett zum Vorschein kam. Ich kämpfte mich durch Lagen aus Verpackungsmaterial, bis meine Hand etwas Hartes berührte.
Ich zog es heraus. Es war ein Bumerang. Ich lachte so sehr, bis mir der Bauch noch mehr wehtat als zuvor von dem Turkish Delight. Dad hätte dieses Geschenk bestimmt auch zum Lachen gebracht. Mir gefiel die Symmetrie der Geschenke, die Mum und ich gegenseitig ausgewählt hatten. Sie hatte mir ein Symbol Australiens geschickt und ich ihr ein Stück von Neufundland, in Form von Lucilles Teppich. Das Paket war, als Mum und ich zuletzt telefoniert hatten, immer noch nicht angekommen, doch hoffte ich, dass es endlich da sein würde, wenn sie mich am Weihnachtstag anrief.
Als ich den Bumerang unter den Baum legte, streifte ich mit den Fingern Sheilas Umschlag, und es war, als öffnete er sich praktisch von selbst – ich schwöre es! Allerdings war dann doch ich es, die die Karte hervorzog: »Dein Geschenk kommt am zweiten Weihnachtsfeiertag an. Sieh zu, dass Du zu Hause bist, damit Du es in Empfang nehmen kannst.«
Das würde bestimmt kein Problem sein, hatte ich ohnehin keine nennenswerten Pläne.
Das letzte Päckchen allein ungeöffnet unter dem Baum liegen zu lassen, ergab jetzt auch keinen Sinn mehr. Und als ich es umdrehte, entdeckte ich den Aufkleber, auf dem stand: »Für meine kleine Fiedlerin«. Ah, von Phonse also. Es war eine selbst zusammengestellte Musikkassette. Ich steckte sie in den Radiorekorder und erkannte auf Anhieb die Melodie wieder, die Eddie Churchill gepfiffen hatte, als er meine Reifen wechselte. Sonny’s Dream hatte er das Lied genannt. Ich lauschte dem Song, der davon handelte, dass Sonnys Mutter ihn anflehte, sie nicht zu verlassen.
Als er zu Ende war, drückte ich auf die Rückspultaste.
Sonnys klagende Mutter schien so gar nichts mit den Müttern gemeinsam zu haben, die ich hier kennengelernt hatte. Lucille, so stolz auf ihre Tochter Linda, die in Labrador als Lehrerin arbeitete; Cynthias Mutter, die deren Hoffnung auf ein Stipendium vollauf teilte; ja selbst Mrs Piercey, die sich für Calvin eine bessere Zukunft erhoffte.
Wieder und wieder spulte ich die Kassette zurück, bis ich den Text von Sonny’s Dream auswendig konnte. Als ich schließlich die Kassette weiterlaufen ließ und Sweet Forget Me Not erklang, musste ich lächeln. Die Sängerin war nicht so gut wie Beverley, die mich an dem Abend in Mardy so beeindruckt hatte. Ich nahm den Radiorekorder mit in mein Schlafzimmer und schlief bei der Musik ein.
Am Weihnachtsmorgen weckte mich Mums Anruf. Sie sei hin und weg von Lucilles Läufer, sagte sie und erzählte dann, sie habe den Feiertag am Strand verbracht.
»Und, wie war das?«
»Komisch. Aber auch schön. Anders.«
Wir erzählten einander, wie es uns in der letzten Woche ergangen war, und tauschten Lesetipps aus. Wir bemühten uns um einen leichten Plauderton und vermieden es beide zu erwähnen, wie sehr wir Dad vermissten.
»Du verbringst den Feiertag hoffentlich nicht allein, oder?«, fragte Mum.
»Nein«, sagte ich. Und das stimmte auf gewisse Weise auch. Ich würde ihn in Gesellschaft von Mr Rotwein, Mrs Taschenbuch und meinen besten Freunden Cashew und Chocolate verbringen.
Nachdem wir aufgelegt hatten, machte ich mir Frühstück: einen Toast mit gebratenem Speck und Käse und dazu eine Riesenkanne Kaffee. Beim Essen versuchte ich, nicht an Dads Grab zu denken, das jetzt von einer dicken Schneeschicht bedeckt war, und daran, dass kein Besucher sich dorthin verirren würde. Doch was mich betraf, war Dads Geist auch nicht dort unter der Erde. Er war in Büchern und Musik und Vögeln. Dennoch trieb mich eine innere Stimme dazu an, mich warm einzupacken und den verlassenen Friedhof hinter meinem Haus zu erkunden.
Die meisten Grabsteine waren verblichen und von Flechten überzogen, die unter dem Schnee hervorlugten. Auf einem stand schlicht: »Liebe Mutter«. Andere wiederum gaben detaillierte biografische Informationen preis. Viele der hier Bestatteten waren ertrunken oder auf See geblieben; ich musste an Lucilles Mann und Dougs Vater denken. Zwei Brüder waren im Ersten Weltkrieg im nordfranzösischen Beaumont-Hamel gefallen, als das gesamte Royal Newfoundland Regiment dort nahezu ausgelöscht wurde. Auf ihrem Grabstein stand: »Ein Teil Frankreichs wird für immer englisch sein.« Ich brauchte eine Weile, um diese Inschrift zu entziffern, bis mir einfiel, dass Neufundland erst 1949 zu einer Provinz Kanadas geworden war. Und plötzlich wurde mir auch klar, dass Lucille und Phonse noch den schmerzhaften Prozess erlebt hatten, bei dem Neufundland mit knapper Mehrheit gegen die Unabhängigkeit und für den Anschluss an Kanada stimmte.
Wieder im Haus, nahm ich ein ausgiebiges Bad und machte mir hinterher nicht die Mühe, die Haare zu glätten, sondern läutete nahtlos die gemütliche Pyjamazeit ein. Ich lag im Dunkeln vor dem Fernseher, trank Rotwein und sah mir Ist das Leben nicht schön? an. Irgendwann nickte ich ein und träumte, Calvin sei Clarence, der Engel, der endlich seine Flügel kriegen wollte.
Ein Läuten weckte mich, und ich hätte beinahe gerufen: »Er hat seine Flügel bekommen!« Bis mir klar wurde, dass es die Türglocke war. Im Haus war es kalt, und mir tat der Nacken weh, weil ich so krumm auf dem Sofa eingeschlafen war.
»Niemand da«, grummelte ich und wickelte mich enger in den Quilt.
Aber wer es auch war, klopfte immer wieder an die Tür, und dann fiel mir ein, dass Sheila mich gebeten hatte, am zweiten Weihnachtsfeiertag zu Hause zu sein. Eingemummelt in die Decke, stapfte ich zur Tür, zog sie auf und schaute in das vertraute, geliebte Gesicht. Ich brach in Tränen aus und schlang die Arme um Sheila.
»Dafür ist gleich noch Zeit!«, sagte Sheila, schob sich an mir vorbei und stellte ihren Koffer auf dem Boden ab. »Mir ist eiskalt!« Sie stampfte mit den Füßen, um den Schnee von ihren Stiefeln zu klopfen. »So, und jetzt können wir uns umarmen«, sagte sie. Und das taten wir.
»Wie bist du …? Und wann?« Ich stellte die gleiche Frage in ungefähr fünf Varianten, bis ich schließlich »Und wie war deine Reise?« hervorbrachte.
»Einfach nur ätzend. Im Flieger ab Halifax ein schreiendes Baby neben mir. Dann das zwielichtige Bed and Breakfast in St. John’s und auf der dreistündigen Fahrt hierher ein durchgeknallter Taxifahrer … Aber der Albtraum war es wert, allein nur um diesen Ausdruck in deinem Gesicht zu sehen, als du die Tür aufgemacht hast.«
»Wie hast du einen Flug ergattert?«
Sheila stöberte im Küchenschrank herum, zog jede Tür und jede Schublade auf. »Mike hat seine Verbindungen spielen lassen.«
Sheilas Bruder war ein hohes Tier bei MusiCan, dem nationalen Videokanal, und kannte die richtigen Leute. »Mein Rückflug ist am ersten Januar«, fügte sie hinzu und ging in Richtung Treppe.
Ich folgte ihr ins Schlafzimmer hinauf, wo sie die Vorhänge zurückzog.
»Gehe ich recht in der Annahme, dass das …« Sie deutete auf den Friedhof hinunter, wo meine Fußabdrücke von meiner gestrigen Wanderung um die Grabsteine herum noch im Schnee zu sehen waren.
»Mhmh.«
»Und ich nehme all diese Strapazen auf mich, diese Odyssee, um dir Gesellschaft zu leisten und dich aufzumuntern, weil ich dachte, du kennst in dieser Einöde keine Menschenseele!«, sagte Sheila.
Sechs Tage voll derber Sprüche und schlechter Witze. Ich konnte mein Glück kaum fassen.