Obwohl Sheila nur wenige Tage bei mir gewesen war, fühlte ich mich nach ihrer Abreise einsam. Als ich im frisch angebrochenen Jahr 1986 zum ersten Mal zur Schule fuhr und Paul Youngs Every Time You Go Away im Radio erklang, wurde mir schwer ums Herz. Es war ja schön und gut, Wilf aus dem Café zu kennen, aber ich brauchte unbedingt ein paar echte Freunde in Clayville. Ich stellte einen anderen Sender ein, wobei es keinen großen Unterschied mehr machte. Weiter vorn kam schon die Abzweigung zu Bob’s Cove, und sobald ich daran vorbei wäre, würde ich ohnehin keinen Empfang mehr haben.
Ich hatte Lucille einmal gefragt, wie sie es geschafft hatte, Radioempfang zu haben, und sie hatte mir erzählt, sie habe einen Antennenverstärker auf dem Dach. Erst als ich mit Sheila bei Judy übernachtete, entdeckte ich, dass es in Little Cove sogar Kabelfernsehen gab. Judy meinte, Lucille habe keinen Anschluss, weil sie sich nicht viel aus Fernsehen mache und nicht wolle, dass ihre Pensionsgäste den ganzen Abend in ihrem Wohnzimmer herumlungerten.
Als ich auf den Schulparkplatz einbog, spürte ich ein Kribbeln im Bauch. Ich freute mich darauf, Doug wiederzusehen. Wir hatten auf Eddie Churchills Party kaum miteinander gesprochen. Er wartete in meinem Klassenzimmer auf mich, und ich beschloss, dass das ein gutes Omen war.
»Du warst also über Weihnachten gar nicht zu Hause in Toronto.«
Es war eine Anklage. Doug hatte die Arme vor der Brust verschränkt, seine Miene war verkniffen.
»Nein.«
»Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Ich habe es niemandem gesagt.«
»Aber dann tauchst du vermummt bei dieser Party auf und ignorierst mich den ganzen Abend.«
»Ich habe dich nicht ignoriert. Ich wollte mich mit dir unterhalten, aber dann hat Phonse mir die Fiedel in die Hand gedrückt. Im Übrigen«, sagte ich, »habe ich ein paar Tage danach bei dir zu Hause angerufen. Und deine Mutter sagte, du wärst beim Jagen.«
»Ach, was kümmert es mich.« Er rauschte an mir vorbei in Richtung Tür. »Kein Ahnung, warum ich mir überhaupt den Kopf darüber zerbreche.«
»Doug, warte«, sagte ich, aber er war schon zur Tür hinaus.
Ich rieb mir frustriert die Augen. Weil ich dachte, ich hätte die Wimperntusche verschmiert, ging ich zur Toilette. Während ich mein Augen-Make-up erneuerte, sprach ich zu meinem eigenen Spiegelbild.
»Ich weiß auch nicht, was es mich kümmert, schließlich hat er eine Freundin.«
»Sind Sie das, Rachel?«, rief eine Stimme aus einer der Kabinen. »Mit wem reden Sie denn da?« Die Toilettenspülung wurde betätigt, und Schwester Mary Catherine kam heraus.
»Stellen Sie sich vor, Schwester, ich habe mit mir selbst geredet. Ich dachte, ich wäre allein.«
Ich steuerte auf die Tür zu, aber sie stellte sich davor.
»Wir sind nie wirklich allein«, sagte sie. »Gott ist immer bei uns. Und er sieht, was Sie tun.« Sie fixierte mich mit ihrem bohrenden Blick. »Und ich auch.«
Ich stützte mich mit einer Hand an der Wand ab.
»Ich habe Sie und Mr Bishop zusammen gesehen, meine Liebe«, wobei sie das Wort »zusammen« wie eine faule Frucht ausspuckte.
»Ich fürchte, der junge Mann könnte sich in Sie verlieben. Wir können uns keinen zweiten Skandal an der St. Jude’s leisten.«
»Es gibt keinen Skandal.«
»Gut«, sagte sie. »Aber ich muss Sie trotzdem ermahnen, Ihrer Position als katholische Lehrerin gerecht zu werden.«
Die vielen Jahre meiner religiösen Erziehung hatten mich gelehrt, dass es darauf nur eine akzeptable Antwort gab.
»Ja, Schwester.«
Also war Doug wieder einmal sauer auf mich. Sonst noch was Neues? Ich verdrängte den Gedanken an ihn und ging zu Patrick, um mit ihm über den Französischtreff zu sprechen. Dann würde ich die Lorbeeren eben allein einheimsen.
»Großartige Idee, meine Liebe«, sagte Patrick. »Es gefällt mir, dass Sie sich so engagieren.«
Beim Gedanken, wie anders diese Unterhaltung ausgegangen wäre, hätte ich stattdessen einen Englisch-Förderkurs vorgeschlagen, rutschte mir das Herz in die Hose. Patrick meinte, ich solle mein Projekt gleich bei unserer Morgenversammlung präsentieren.
Zehn Minuten später umklammerte ich das Rednerpult und ließ den Blick über die vor mir sitzenden Schüler schweifen, um ihnen dann meinen Plan zu erläutern. Die allgemeine Reaktion in der Turnhalle war gelangweiltes Schweigen. Cynthia saß ganz vorn, den Kopf gesenkt, und spielte mit ihrem Mäppchen.
»Wir treffen uns jeden Mittwoch zur Mittagszeit«, sagte ich. »Jeder ist willkommen, auch die, die Französisch nicht gewählt haben. Wir beschäftigen uns mit französischer Kultur: Essen, Musik, Filme. Und ich werde mich bemühen, hin und wieder ein paar Gäste einzuladen.«
Niemand sah mich an. Niemand interessierte sich für meinen Vorschlag.
»Irgendwelche Fragen?«
Niemand hob die Hand.
»Und wir werden Rollenspiele machen. Wie man im Restaurant etwas bestellt, Vorstellungsgespräche führt …« Ich langweilte mich jetzt sogar selbst. »Also, ich hoffe, viele von euch zu sehen!«
Meine erste Unterrichtsstunde nach der Versammlung war Französisch in der zwölften Klasse, die fast nur aus Mädchen bestand. Ich rollte ein Bild von Francis Cabrel aus, auf dem er mit langen Haaren und Schnurrbart zu sehen war, und steckte es an der Pinnwand fest. »Nächste Woche werden wir im Französischtreff Musik von Francis Cabrel hören, hier schon mal eine kleine Kostprobe.«
Ich schob die Kassette in den Rekorder. »Das Chanson heißt Je l’aime à mourir, was ungefähr heißt: ›Ich würde für sie sterben‹.« Ich wartete auf ein kollektiv schmachtendes »Ah« und wurde nicht enttäuscht. Ich drückte den Startknopf, und Cabrel setzte zu seinem sentimentalen Chanson über seine große Liebe an.
»Oh, Miss, worüber singt er denn genau?«, fragte Beverley mit atemloser Stimme.
»Das erfahrt ihr am Mittwoch bei unserem Treff.«
Nach der Stunde bat ich Cynthia, kurz zu bleiben. Sie hatte ihre Hausaufgaben nicht gemacht und vor Weihnachten bei einem unangekündigten Test eine schlechte Note eingeheimst. Lauter Fehler, die sie hätte vermeiden können, fehlende Akzente und falsche Endungen. Ich war enttäuscht vom bisherigen Star unter meinen Schülern. Als ich sie fragte, was los sei, wich sie meinem Blick aus.
»Ich hatte vergessen, zu lernen«, sagte sie.
Die alte Cynthia hätte das nicht nötig gehabt. Sie hätte die Aufgaben aus dem Stegreif gemeistert.
»Ist wirklich alles okay mit dir, Cynthia?«, fragte ich.
»Alles bestens, Miss.«
»Ich frage nur, weil …«
»Kann ich jetzt bitte gehen, Miss?«, fragte sie in flehendem Ton.
»Sehen wir uns am Mittwoch?«
»Für so etwas Albernes habe ich keine Zeit.«
Ich bemühte mich, mir ihren Kommentar nicht zu Herzen zu nehmen.
Zwei Tage später fand unser erster Treff statt. Die Poster, die ich auf den Fluren aufgehängt hatte, waren offenbar nicht auf besonders viel Interesse gestoßen. Ein paar Mädchen aus meiner Abschlussklasse erschienen, aber Cynthia nicht. Ich teilte Arbeitsblätter mit dem Wortlaut zweier Chansons von Cabrel aus, die wir uns mehrmals anhörten. Beim dritten Mal sang Beverley mit. Dann nahmen wir uns den Text vor.
Wie erhofft, machte es den Schülern mehr Spaß, sich anhand eines Liedes mit Grammatik und Vokabular zu beschäftigen – die Sprache wurde für sie so lebendiger. Wir beendeten unser erstes Treffen mit einem Rollenspiel über Musik; die Mädchen dachten sich Dialoge zu einem fiktiven Besuch in einem Musikladen und Gespräche über ihre Lieblingsbands aus. Obwohl die Schülerinnen fröhlich plaudernd das Klassenzimmer verließen, hatte ich nicht das Gefühl, dass dieser Nachmittag ein besonderer Erfolg gewesen war. Fünf Mädchen, denen Französisch ohnehin Spaß machte, hatten sich für die regelmäßige Teilnahme angemeldet. Ich würde noch eine Schippe drauflegen müssen.
Eine Woche darauf kam ich beladen mit mehreren Plastikschüsseln, Besteck und Tellern in der Schule an. Phonse stand am Eingang und nahm mir ein paar Sachen ab. »Kleine Personalfeier?«, fragte er. »Mr Donovan hat doch gar nichts gesagt.«
»Nein, Französischtreff«, sagte ich. »Die Liebe geht ja bekanntlich durch den Magen, und das klappt hoffentlich auch bei Französisch.«
Bevor der Gong ertönte, machte ich eine Runde durch sämtliche Klassenzimmer und verteilte selbstgebackene Schokoplätzchen. Ich sagte den Schülern, wenn sie zu unserem Treff kämen, würden sie noch mehr Leckereien erwarten.
Um die Mittagszeit räumte ich meinen Schreibtisch auf und breitete eine rotweiß karierte Decke darüber. Ich steckte eine kleine französische Flagge in eine Vase und schnitt einen Laib Weißbrot auf; daneben stellte ich ein Glas Marmelade. Dann goss ich Apfelsaft und roten Traubensaft in durchsichtige Plastikbecher und platzierte als pièce de résistance einen Kuchen in die Tischmitte.
Die fünf Mädchen vom letzten Mal trudelten herein, zusammen mit ein paar weiteren Schülern aus der neunten Klasse. Sam drückte sich verlegen im Türrahmen herum, kam aber näher, als ich ihn herbeiwinkte. Wie eine Kellnerin reichte ich jedem eine Menü- und Vokabelkarte. Die Spezialität des Tages war eine Armeleuteversion von Croissants mit Marmelade, Rot- und Weißwein, und dazu einen gâteau. Beverley spielte sofort mit und bestellte Rotwein und ein Stück Kuchen. Mit etwas gutem Zureden meinerseits folgten die anderen nach und nach ihrem Beispiel. Am Ende hatten fast alle auf Französisch ihre Bestellung aufgegeben und ruckzuck alles aufgegessen.
»Miss«, sagte Tim, ein Junge aus der Neunten. »Gibt’s noch Plätzchen, zum Mitnehmen?«
»Die waren eher als Bestechung … ich meinte Belohnung gedacht.«
»Die haben echt klasse geschmeckt.«
»Aber weißt du was: Wer von euch nächste Woche jemanden mitbringt, kriegt die doppelte Portion Plätzchen.«
Als die anderen hinausströmten, blieb Sam noch, um die leeren Plastikbecher ineinanderzustecken. Ich erzählte ihm, dass ich nächste Woche einen Gast mitbringen würde. »Einen Unteroffizier von der kanadischen Nationalpolizei in Clayville. Das wirst du dir bestimmt nicht entgehen lassen.«
»Ganz bestimmt nicht, Miss«, sagte er. »Merci!«
Zufrieden mit dem Fortschritt, den ich gemacht hatte, gab ich meinen Nachmittagsklassen keine Hausaufgaben auf. Ich würde mir diesen Abend freinehmen, und meine Schüler sollten das auch tun. Aber als ich nach Unterrichtsschluss den Schreibtisch aufräumte, hörte ich vom Flur her lautes Geschrei.
»Wo ist dieses gottverdammte kleine Miststück, diese Französischlehrerin, die sich in alles einmischt?«
Während die Schritte näher kamen, blickte ich mich verzweifelt um. Dann packte ich meinen Zeigestab und verschanzte mich hinter dem Schreibtisch. Ein großer Mann in Jeans und Arbeitsstiefeln, eine Baseballkappe auf dem Kopf, marschierte herein. Es war Roy Sullivan.
»Sie mit Ihren hirnverbrannten Ideen«, sagte er wütend. »Sie haben meinem Sohn nichts zu sagen, was er außerhalb der Schule zu machen hat. Scheren Sie sich zum Teufel.«
»T-tut mir leid, ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen«, sagte ich.
»Sam hat mir verkündet, er kann mir am Mittwoch nicht mehr helfen, weil er zum Französischtreff geht. Sie haben nicht das Recht, ihn über Mittag hier zu halten. Wir brauchen ihn zu Hause. ’s gibt jede Menge zu tun jetzt, bevor die Fischereisaison wieder anfängt.«
»Ich dachte, es wäre gut für ihn, damit er …«
»Damit er was? Zur nationalen Polizei gehen kann?« Er verzog verächtlich den Mund. »Ich hab ihm schon zig Mal gesagt, er soll sich das aus dem Kopf schlagen. Hören Sie auf, ihm solche Flausen in den Kopf zu setzen, haben Sie mich verstanden? Er wird mit mir fischen gehen, genau wie ich mit meinem Vadder und der mit seinem. Lassen Sie gefälligst meinen Sohn in Ruhe.«
»Roy?« Patrick kam herein. »Was ist das denn für ein Geschrei?«
Sams Vater wedelte mit der Hand in meine Richtung. »Die da soll ihre Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken.« Und er marschierte an Patrick vorbei und hinaus.
Ich ließ mich zitternd auf den Stuhl sinken, den Zeigestab noch immer umklammert.
»Heiliges Kanonenrohr«, sagte Patrick, »mit dem Kerl ist nicht zu spaßen.« Er setzte sich auf meinen Schreibtisch und lächelte mich an. »Hören Sie, Rachel. Judy und ich sind sehr beeindruckt von Ihrem Französischtreff. Lassen Sie sich von diesem Idioten nicht entmutigen.«
Am nächsten Morgen kam Sam zu mir. »Ich bin völlig durcheinander, Miss. Hab ganz vergessen, dass ich Mittwochmittag daheim immer helfen muss, ich werd also nicht zu dem Vortrag von dem Unteroffizier kommen können.«
»Dein Vater war gestern hier«, sagte ich sanft.
Er wurde blass. »Tut mir leid, Miss. War er sehr böse zu Ihnen?«
»Die Fischerei liegt ihm wohl sehr am Herzen, nehme ich an.«
Sams Miene verdüsterte sich. »Ich hasse Fischen, Miss. Ich bin nicht wie mein Vater oder mein Bruder. Mir wird auf See schlecht.« Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, dann sagte er entschlossen: »Die können mich mal, ich komme trotzdem. Ich darf doch, oder?«
»Du bist jederzeit willkommen, Sam«, sagte ich.
Ich fühlte mich ermutigt, als ein flüchtiges Lächeln in seinem Gesicht aufschien, fragte mich zugleich jedoch, was passieren würde, wenn Sam nächste Woche wieder zum Treff käme. Auf einen weiteren Besuch seines Vaters konnte ich herzlich gern verzichten.