Am Tag nach der Rettungsaktion fühlte ich mich wieder fit genug, um selbst nach Clayville zurückzufahren. Lucille bestand darauf, mir ein Essenspaket mitzugeben – ein Laib Brot und Erbsensuppe in einem Einweckglas. Ich sagte, Milch bräuchte ich nicht.
Am Montag wollten alle Schüler über das Ereignis am Wochenende reden. Als ich vorschlug, en français darüber zu sprechen, waren sie plötzlich nicht mehr so erpicht darauf.
Ich setzte den kleinen Holzvogel, den Calvin mir geschenkt hatte, neben meinen Hefter auf den Schreibtisch. Calvins Verhalten war in letzter Zeit tadellos, aber er beteiligte sich kein einziges Mal am Unterricht; er ließ ihn einfach über sich ergehen. Für mich war klar, dass er auch dieses Jahr in Französisch durchfallen würde, und nachdem ich mich im Kollegenkreis umgehört hatte, stellte sich heraus, dass das Gleiche auch für die anderen Fächer galt.
Als ich in der Bibliothek nach Möglichkeiten forschte, wie Cynthia an ein Stipendium gelangen könnte, stieß ich auf eine Aktenmappe, die mit »Berufswege« beschriftet war. Ohne große Erwartungen blätterte ich in den eselsohrigen Broschüren, die verschiedene Ausbildungsberufe, ein paar Universitäten in den am Atlantik gelegenen Provinzen und Karrieremöglichkeiten in der nationalen Polizei und der kanadischen Armee aufzeigten. Ganz hinten in der Mappe befand sich ein Flyer vom Kunstcollege in Nova Scotia. Ich überflog ihn und machte mich sofort auf zu Judy.
»Calvin verplempert seine Zeit auf der Highschool«, sagte ich. »Er ist siebzehn und könnte jetzt von der Schule abgehen, wenn seine Mutter ihn ließe.« Ich wedelte mit dem Flyer. »Den habe ich in der Bibliothek gefunden. Hast du die Schnitzarbeit gesehen, die er mir geschenkt hat?«
Judy nahm ihn und legte ihn auf ihren Schreibtisch, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. »Calvin kann kein Kunst-College besuchen«, sagte sie. »Weder in Nova Scotia noch anderswo. Aber in St. John’s gibt es eine Gewerbeschule, dort könnte er eine Schreinerausbildung machen.«
»Nein! Calvin ist zu talentiert, um Schreiner zu werden.«
»Ich dachte dabei auch weniger an Calvin selbst als an seine Mutter. Er muss einen Beruf erlernen, damit sie zufrieden ist, damit sie weiß, dass er gut davon leben kann. Sie braucht diese Garantie einfach.«
»Du bist ein Genie, Judy!
»Ich weiß. Aber könntest du vielleicht Bill mal daran erinnern?«
»Also soll ich es mal bei dieser Gewerbeschule versuchen?«, fragte ich.
»Was immer dabei herauskommt«, sagte sie, »meinen Segen hast du. Aber das ist nicht der, den du brauchst.«
Ich rief bei der Schule an und unterhielt mich lange mit dem Direktor. Ein paar Tage danach traf mit der Post ein großer, dicker Umschlag für mich ein, und ich bat Calvin, nach Unterrichtsschluss zu mir zu kommen.
Er klopfte an und warf dann einen skeptischen Blick ins Klassenzimmer.
Ich bat ihn herein, und nachdem er auf dem Stuhl neben meinem Schreibtisch Platz genommen hatte, erzählte ich ihm von der Schule.
»Ich denke, das könnte etwas für dich sein. Du kannst dich auch ohne Highschool-Abschluss bewerben.«
Calvin sagte nichts. Ich wartete, bis er jeden einzelnen Knöchel hatte knacken lassen, dann schob ich ihm den Umschlag hin.
»Schau dir die Unterlagen in Ruhe an«, sagte ich. »Ich habe auch schon mit dem Direktor gesprochen. Der Schwerpunkt ist die Schreinerausbildung. Aber es gibt auch Kurse für Möbeldesign, Holzschnitzerei und …« Meine Stimme verebbte. Calvin saß da und hielt den Umschlag von sich weg. Dann schob er ihn mir wieder hin. »Danke, Miss, aber das möchte Mutter bestimmt nicht. Sie will, dass ich meinen Abschluss mache.«
»Aber du bekommst dort einen Abschluss. Einen sehr nützlichen sogar.«
Er scharrte nervös mit dem Fuß auf dem Boden. Am liebsten hätte ich ihn aufgefordert, damit aufzuhören.
Dann sagte er: »Es hat keinen Zweck, Miss.«
»Und wenn ich mal mit deiner Mutter spreche?«
Das Scharren hörte auf. »Würden Sie das tun? Für mich?«
»Ganz besonders für dich.«
Er ließ den Kopf sinken, aber ich meinte, ihn lächeln gesehen zu haben. »Danke, Miss.«
»Kopf hoch, Calvin«, sagte ich. »Ich fahre dich jetzt nach Hause. Und weißt du was?«
Er hob die Schultern.
»Die Schule hat eine Basketballmannschaft.«
Calvin lotste mich zu dem kleinen Haus, das mit zwei anderen eine Reihe bildete, ungefähr auf halber Strecke nach Mardy. Mrs Piercey war draußen und fegte schmutzige Schneeklumpen vom Zugangsweg. Sie trat an die Fahrerseite, und ich kurbelte das Fenster herunter. »Gibt es Ärger mit Calvin?«, fragte sie. »Was hat er angestellt?«
»Nein, er hat nichts angestellt. Ich würde nur gern mit Ihnen über seine berufliche Zukunft sprechen.«
Sie strahlte mich an. »Das ist aber nett von Ihnen.«
Als ich ausstieg, stieß mich Ruthie mit der Schnauze an. Ich kraulte sie ausgiebig, dann stürmte sie um den Wagen herum und sprang an Calvin hoch. Nachdem er sie begrüßt hatte, liefen er und Ruthie zu einem verwitterten grauen Schuppen am Eingang des Hinterhofs.
»Das ist Calvins Werkstatt«, sagte Mrs Piercey. »Darin verbringt er seine ganze Freizeit und werkelt.«
Sie bat mich in die Küche, wo sie einen Nähkasten vom Tisch hob. Ich rief mir die ordentlichen Stiche auf Calvins Hemd in Erinnerung. Ihre Handarbeit war genauso makellos wie die ihres Sohns. Schnell ging sie zum Herd und stellte den Wasserkessel auf, um dann Teebeutel, Becher und Dosenmilch aus dem Küchenschrank zu holen.
Als sie sich neben mich setzte und Tee einschenkte, zog ich eine glänzende Broschüre aus dem Umschlag und legte sie auf den Tisch. »Die Berufsschule in St. John’s hat Kontakt mit unserer Schule aufgenommen«, sagte ich. »Sie werben um Schüler für die Schreinerausbildung.«
Ich schob die Broschüre in ihre Richtung. Sie trommelte mit den Fingern darauf, ohne sie sich anzusehen.
»Man braucht dazu keinen Highschool-Abschluss. Also selbst wenn Calvin es dieses Jahr …« – ich konnte mir gerade noch das Wort »wieder« verkneifen – »nicht schafft, würde es nichts ausmachen. Er könnte von St. Jude’s abgehen und im September an der Berufsschule beginnen.«
Mrs Piercey schaute aus dem Fenster, also redete ich weiter mit der Teekanne.
»Sie bieten dort auch Schnitzkurse an, und es gibt Stipendien für besonders begabte Bewerber. Ich habe dem Direktor von Calvins Tierskulpturen erzählt, und er würde ihn sehr gern kennenlernen.«
Mrs Piercey ließ den Blick zu ihrem Teebecher gleiten. Es war Zeit, eine andere Strategie zu wählen. »Aber vielleicht ist das Schnitzen bei Calvin ja nur eine vorübergehende Laune.«
Jetzt sah sie auf, und ihre Züge belebten sich. »Eine vorübergehende Laune? Oh nein, es ist eine Leidenschaft. Sein Opa hat es ihm beigebracht, da war er noch ein kleiner Junge. Er war sofort Feuer und Flamme, verstehen Sie?«
Sie nahm die Broschüre zur Hand, und ich versuchte, gleichgültig zu bleiben, kreuzte aber unter dem Tisch die Finger.
»Sie sagten, der Direktor hat sich mit der Schule in Verbindung gesetzt?«
Ich nickte. Das hatte er. Weil ich ihn angerufen hatte. Aber das brauchte sie ja nicht zu wissen.
Mrs Piercey trug eine Lesebrille an einer goldenen Halskette. Sie setzte sie auf. Dann las sie die Broschüre von Anfang bis Ende. Als sie fertig war, brachte ich die Antragsformulare zum Vorschein und legte sie auf den Tisch. Während wir die Köpfe darüberbeugten, kam Calvin mit Ruthie herein, die hinter ihm hertapste. Seine Mutter stand auf und drehte nervös ein Geschirrtuch zwischen den Fingern.
»Miss O’Brine hat mir von dieser Schreinerausbildung in der Stadt erzählt. Meinst du, du würdest …?« Aber sie kam gar nicht mehr dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn Calvin hatte sie schon mit beiden Armen hochgehoben und wirbelte sie unter lachendem Protest durch die Küche.