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Zwei Tage später fand ich in meinem Fach im Lehrerzimmer ein versiegeltes Kuvert vor. Ich riss es auf und zog den maschinengeschriebenen Brief hervor, in dem stand, ich solle nach dem Unterricht zu einer Unterredung zu Patrick kommen. Ich spürte ein nervöses Kribbeln im Nacken. Noch nie hatte mich Patrick so formell zu sich bestellt.

Als ich an die offen stehende Tür seines Büros klopfte, machte er ein ernstes Gesicht.

»Sie wollten mich sprechen?«, sagte ich ruhig.

»Machen Sie bitte die Tür zu, Rachel.«

Durch das Fenster sah man den Parkplatz. Ich setzte mich und wartete ab, während er hinausschaute. Ich konnte nicht erkennen, dass da draußen etwas Interessantes vorging, aber Patrick starrte unverwandt hinaus. Irgendwann hielt ich es nicht länger aus und brach das Schweigen.

»Ich habe Cynthia im Krankenhaus besucht.«

Er löste den Blick vom Parkplatz und heftete ihn auf mich. »Genau um Cynthia geht es. Mich hat eine formelle Beschwerde über Sie erreicht.«

»Von Cynthia?«

»Nein.«

Wieder trat ein langes Schweigen ein, dann sagte er: »Herrgott, wie konnten Sie nur! Ich fürchte, diesmal kann ich Ihnen nicht aus der Patsche helfen.«

»W-wie bitte?«, sagte ich. »Worum geht es denn?«

»Stimmt es, dass Sie Cynthia zu einer Abtreibung geraten haben?«

Ein Zittern ergriff mich. »Ich habe ihr zu gar nichts geraten. Ich habe ihr ein paar Optionen genannt …«

Er schnitt mir das Wort ab. »Abtreibung ist für Katholiken keine Option, Rachel, wie Sie sehr wohl wissen. Für die Kirche ist es eine Todsünde. Father Frank besteht darauf, die Sache vor den Verwaltungsrat zu bringen. Und ich bin geneigt, ihm zuzustimmen.«

»Aber wie hat er …?«

»Wie er es herausgefunden hat, sollte das Letzte sein, worüber Sie sich Gedanken machen. Jedenfalls hat Father Frank Cynthia im Krankenhaus besucht. Das arme Mädchen ist voller Schuldgefühle, und ich vermute, sie hat sich ihm anvertraut.«

»Aber sie hat gar nicht abgetrieben, Patrick«, sagte ich mit lauter werdender Stimme. »Sie hat das Kind verloren.«

»Darum geht es nicht.« Er trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Es geht nicht darum, was sie getan hat, sondern darum, was Sie, eine Lehrerin an einer katholischen Schule, offenbar gesagt haben. Ich rechne damit, dass man Ihnen kündigen wird. Lassen wir es einstweilen darauf beruhen, und ich möchte Sie bitten, mit niemandem darüber zu sprechen. Das ist alles.« Er griff zu einem Ordner und begann, sich in dessen Inhalt zu vertiefen.

Wie betäubt ging ich hinaus und lehnte mich draußen gegen die Tür. Meine Augen brannten, mein Atem ging stoßweise. Phonse, der weiter hinten auf dem Flur den Boden wischte, sah auf. Ich konnte mich jetzt unmöglich mit ihm unterhalten, daher rannte ich in entgegengesetzter Richtung davon und auf den Parkplatz hinaus.

Ein Mann, die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, stand neben meinem Wagen. Als er mich sah, ging er schnell weg. Der Vater eines Schülers? Ich rannte zu meinem Auto und bemerkte den Zettel unter dem Scheibenwischer. Ich überflog ihn. Die übliche Botschaft.

Außer mir vor Wut rannte ich hinter dem Mann her. Als ich ihn fast eingeholt hatte, blickte er sich um und bemerkte mich. Da lief er ebenfalls los. Er rannte quer über die Straße und auf ein Feld zu. Ich wollte ihm über die Straße folgen, doch plötzlich hörte ich das Quietschen von Reifen und ein ohrenbetäubendes Hupen. Eddie Churchills nagelneuer roter Pick-up kam nur wenige Zentimeter von mir entfernt zum Stehen.

Bei laufendem Motor sprang er aus dem Wagen und packte mich bei den Schultern.

»Heiliger Jesus«, rief er. »Wolltest du überfahren werden?« Er drückte die Finger so fest in meine Schultern, dass es wehtat und ich wimmerte. Sofort ließ er mich los und fuhr sich durch das graue Haar.

»Tut mir leid, Mädchen«, sagte er. »Nach diesem Unfall bin ich ein bisschen nervös. Was ist denn in dich gefahren?«

»Dieser Typ hat mir wieder einen Zettel auf der Windschutzscheibe hinterlassen«, sagte ich. »Ich möchte einfach nur wissen, warum.«

»Wer?«

Ich deutete auf die andere Straßenseite. Das Quietschen der Reifen hatte den Mann innehalten lassen, aber jetzt lief er wieder los.

»Das ist Ron Drodge. Kein einfacher Typ. Was steht denn auf dem Zettel?«

Wortlos reichte ich ihn ihm. »Wann begreifst du es endlich, du Festlandschlampe: Zieh endlich Leine«, stand darauf.

Ich erzählte Eddie, ich hätte schon das ganze Jahr über ähnliche Botschaften an meinem Wagen vorgefunden.

»Dieser kleine Mistkerl«, sagte er. »Ich schäme mich für ihn. Komm, steig in meinen Pick-up.«

Wir fuhren das kurze Stück zur Schule zurück, und Eddie ging mit mir hinein. »Ich finde, wir müssen das Patrick sagen.«

»Nein!« Ich wollte Patrick nicht nochmal begegnen.

»Aber irgendjemandem müssen wir es sagen«, meinte Eddie.

»Was müsst ihr wem sagen?«, fragte Doug, der im Flur aufgetaucht war.

Eddie reichte ihm den Zettel. »Ron Drodge hat diese nette Botschaft vorhin unter Rachels Scheibenwischer geklemmt.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf mich. »Sie sagt, sie hat schon mehrere davon gekriegt.«

Doug las die paar Zeilen. »Ich hole schnell meinen Autoschlüssel«, sagte er.

»Wo willst du hin?«, fragte ich ihn.

»Zu Ron. Ein Wörtchen mit ihm reden.«

Ich zitterte am ganzen Leib, und mir graute davor, jetzt allein nach Clayville zu fahren. »Kannst du mich mit zu Lucille nehmen?«

»Sie ist in Clayville«, sagte Eddie. »Hab sie selbst hingefahren.«

»Ich bringe dich schnell zu uns nach Hause. Mutter freut sich bestimmt über deinen Besuch.«

Während der kurzen Fahrt setzte er mehrmals zum Sprechen an, als wollte er mir etwas sagen, unterbrach sich aber jedes Mal wieder. Dann waren wir auch schon da. Er begleitete mich hinein und rief nach seiner Mutter.

Grace kam mit dem Rollstuhl in den Flur gerollt, und sofort hellte sich ihre Miene auf. »Schön, Sie zu sehen, Rachel«, sagte sie. »Ich mache uns Tee.«

»Ich muss gleich wieder los, Mutter«, sagte Doug und klimperte mit dem Schlüsselbund.

»Gut, geh ruhig. Rachel und ich kommen auch ohne dich zurecht.«

»Ich mache den Tee«, bot ich an. »Sie müssen mir nur sagen, wo alles ist.«

Ich stellte den Wasserkessel auf, und Grace erklärte mir, wo ich Becher und Milch finde. Als ich Wasser in die Teekanne goss, spritzte etwas auf die Herdplatte.

»Tut mir leid«, sagte ich, »aber ich bin heute ein bisschen nervös.«

»Schlechten Tag gehabt?«, fragte sie.

Sie sah mich so mitfühlend an, dass ich ihr von den Hassbotschaften erzählte und davon, dass Doug zu Ron fahren wollte, um mit ihm zu reden.

»Ich verstehe nicht, warum dieser Ron mich so hasst«, sagte ich. »Ich bin ihm noch nie begegnet. Von meinem ersten Arbeitstag an schickte er mir solche Nachrichten.«

Ihr Ausdruck veränderte sich. »Oh, das hat mir Doug gar nie erzählt.«

»Doug wusste es nicht. Ich habe ihm nichts davon gesagt. Ich habe mit niemandem darüber gesprochen.«

»Mit gar niemandem?« Ihre Stimme klang überrascht.

»Ich wusste ja nicht, was es zu bedeuten hatte, deswegen hatte ich Angst, mit jemandem darüber zu reden.«

»Aber das ist ja furchtbar, meine Liebe, denn dann muss ja ganz Little Cove für Sie verdächtig gewesen sein. Vertrauen Sie denn niemandem hier?«

Ich senkte den Blick. Ja, warum hatte ich niemandem von diesen Zetteln erzählt? Hatte ich wirklich jeden in Verdacht gehabt?

»Tut mir leid. Ich weiß auch nicht, warum ich es die ganze Zeit für mich behalten habe.«

»Wie auch immer. Schade, dass Sie nicht wenigstens mit Lucille darüber geredet haben, denn dann wäre ihr Verdacht sofort auf den Täter gefallen. Mich überrascht es jedenfalls nicht, dass Ron es war. Er ist ein übler Kerl. Ich nehme an, er hat es für Brigid getan.«

»Aber warum?«

»Das weiß ich auch nicht. Vielleicht denkt er, Sie hätten ihr den Job weggenommen.«

Wir hatten unseren Tee ausgetrunken, und Doug war immer noch nicht zurück, aber mit einem Mal hatte ich es eilig, aus Little Cove wegzukommen. Als ich mich von Grace verabschiedete, streckte sie die Arme aus, und ich beugte mich hinab, um mich von ihr drücken zu lassen.

»Ich werde Ron nie verzeihen, was er Ihnen da angetan hat«, sagte sie. »Wenn jemand unschuldig ist, dann wohl Sie.«

Als ich die Straße hinabging, um meinen Wagen bei der Schule zu holen, fragte ich mich, wie lange ich dieses Etikett hier noch beanspruchen konnte.