Am nächsten Morgen grüßte mich Judy in der Schule mit einem Lächeln. Seit dem Debakel mit Cynthia war es das erste Anzeichen, dass sich die Eiszeit womöglich ihrem Ende näherte.
»Du hast eine Verabredung in der Bibliothek«, sagte sie. »Und, ja, ich vertrete dich wieder in deiner ersten Stunde.«
»Danke«, sagte ich. »Aber warum will Patrick mich in der Bibliothek sprechen?«
»Es ist nicht Patrick. Father Frank wartet dort auf dich.«
Während ich langsam den Flur entlangging, begriff ich, wie sich ein verurteilter Häftling fühlen musste. Die Hand auf dem Türknauf, blieb ich stehen und wartete darauf, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Dann atmete ich tief durch und trat ein.
Father Frank saß an einem der Lesetische. Seine gefalteten Hände ruhten auf einem Umschlag.
»Guten Morgen, Father«, sagte ich.
Er antwortete nicht, sondern bedeutete mir nur, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Miss O’Brine«, sagte er. »Ich mag es nicht, wenn man sich meinen Anweisungen widersetzt.«
Ich verschränkte die Hände vor mir auf dem Tisch und wartete auf die Strafpredigt.
»Sie erinnern sich, dass ich bei unserer ersten Begegnung betont habe, wie wichtig Ihre Rolle als moralisches Vorbild für die jungen Menschen sein würde.«
Ich senkte den Kopf. Es kostete mich eine unglaubliche Überwindung, es zuzugeben, auch nur vor mir selbst, aber er hatte recht. Mochte ich auch einige der Prinzipien der katholischen Kirche für mich persönlich ablehnen, so hatte ich doch vertraglich zugestimmt, sie hochzuhalten.
»Wenn es nach mir ginge«, fuhr er fort, »würden Sie heute die St. Jude’s verlassen. Aber die Situation hat sich verkompliziert.«
Ich wartete, dass er auf Brigid zu sprechen käme.
»Ich habe die schriftliche Bestätigung bekommen, dass der Erzbischof unsere Pfarrgemeinde tatsächlich im Sommer besuchen wird.«
Ich hob den Blick.
»Und das will gründlich vorbereitet sein«, fügte er hinzu.
»Ich verstehe, Father«, sagte ich, obwohl ich gar nichts verstand.
Er zupfte an seinem Kragen und enthüllte eine Schnittwunde von der Rasur. »Ich mag es eigentlich nicht, erpresst zu werden«, sagte er scharf.
»Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, was Sie meinen, Father.«
Er tippte mit dem Finger auf den Umschlag. »Zwei der Putzengel haben mir gestern Abend einen Besuch abgestattet. Lucille Hanrahan und Biddy Cormack. Aus mir unerfindlichem Grund mögen die beiden Sie. In der Tat haben sie sich leidenschaftlich dafür eingesetzt, dass Sie in unserer Gemeinde bleiben dürfen.«
»Aber wie haben …?« Sein finsterer Blick ließ mich verstummen.
»Meine Liebe«, sagte er in einem Ton, der klarmachte, dass diese Anrede keineswegs liebevoll gemeint war. »Sie müssen wissen, dass Lucille Hanrahan über alles, wirklich alles, Bescheid weiß, was in unserer Gemeinde vorgeht.«
Er setzte seine Brille auf und zog ein Blatt aus dem Umschlag. »Das hier ist eine Liste der ›Wunder‹« – er sah mich über den Brillenrand hinweg an –, »nicht gerade ein Ausdruck, den ich in diesem Zusammenhang gebrauchen würde – also der ›Wunder‹, die Sie angeblich bewirkt haben.« Er las vor:
Sie hat einen Hund vor dem Ertrinken gerettet.
Einem jungen Mann geholfen, seine Berufung zu finden.
Eine Fehde beendet und dafür gesorgt, dass eine Frau wieder in die Gemeinschaft zurückfand.
Der Gemeinde gezeigt, dass es Hoffnung gibt.
Er legte das Blatt hin und nahm seine Brille wieder ab. »Ich muss sagen, ich wusste gar nicht, dass die Gemeinde eine Ermunterung in Sachen Hoffnung brauchte. Außerdem würde ich gern hinzufügen, dass Sie in diesem letzten Punkt auf meinem Gebiet wildern.«
Er schob das Blatt in den Umschlag zurück. »Lucille zufolge haben die Putzengel ihre Wischmopps bis auf Weiteres niedergelegt. Sie meinte, sie würden keinen Finger mehr rühren, bevor ich Ihnen nicht zu bleiben erlaube.«
Ein Grinsen bahnte sich auf meinem Gesicht an, aber es gelang mir, es zu unterdrücken.
»Und, darf ich, Father?«, fragte ich. »Bleiben?«
Er nickte.
»Danke, Father.«
»Noch eines, bevor Sie hinausgehen. Ich habe Lucille und Biddy gesagt, wenn jemand Wind von ihrer Erpressung bekommt, platzt unsere Abmachung. Also, kein Wort zu niemandem, haben wir uns verstanden? Auch nicht zwischen Ihnen und Lucille.«
»Ja, Father.« Dann kam mir Cynthia wieder in den Sinn.
»Father, Cynthia …«
»Sie meinte zu mir, Sie hätten gesagt, sie könne es ›loswerden‹. Stimmt das?« Sein Gesicht war puterrot geworden.
Ich nickte.
»Ich habe ihr erklärt, dass Sie damit Adoption meinten. Wenn jemand etwas anderes behauptet, dann leugnen Sie es.«
»Ja, Father.« Heuchelei hin oder her.
»Ich gehe jetzt zu Mr Donovan. Geben Sie mir zehn Minuten, dann können Sie ihn aufsuchen. Einen guten Tag noch, Miss O’Brine.«
Er schloss die Tür hinter sich ziemlich energisch. Fast, als wollte er sie zuschlagen.
Ich wartete, bis ich mir sicher war, dass er den Flur entlang verschwunden war. Dann stand ich auf, riss die Arme hoch und jubelte. Leise natürlich. Schließlich befand ich mich in der Bibliothek.
Als ich diesmal an Patricks Tür klopfte, war ich nicht mehr so nervös. Er bedeutete mir, Platz zu nehmen, was ich tat. Dann setzte er beide Hände auf dem Schreibtisch auf.
»Scheint, Father Frank ist in der Bredouille. Er möchte Brigid nicht wieder an unserer Schule haben. Was sie getan hat, war für die Gemeinde ein schockierender Skandal, und er möchte nichts mehr damit zu tun haben, zumal im Sommer der Erzbischof die Gemeinde besuchen kommt. Kurzum, er glaubt, wenn Sie jetzt gehen, könnte Brigid Anspruch darauf haben, ihre alte Stelle zurückzubekommen.«
»Aha.« So hatte Father Frank die Sache also dargestellt.
»Wie ich höre, hat Father Frank schon mit Ihnen gesprochen.«
Ich nickte, kaute auf der Unterlippe.
»Allem Anschein nach betrachtet er Sie als das kleinere Übel.«
Was soll’s, dachte ich, man hatte mir schon Schlimmeres an den Kopf geworfen. »Dann kann ich bleiben?«
Patricks Miene blieb ernst. »Father Frank hat beschlossen, den Vorfall in Anbetracht der Tatsache, dass Cynthia das Baby verloren hat, ad acta zu legen.«
»Also heißt das, ich kann bleiben?«
Er kratzte sich am Kopf. »Ja, aber seien Sie um Himmels willen nie wieder so töricht, Rachel. Nochmal so viel Glück werden Sie nicht haben.«
»Nie wieder, versprochen. Danke, Patrick. Und tut mir leid wegen des ganzen Ärgers.«
Seine Miene wurde weicher. »Heiliger Bimbam, Sie haben da ganz schön was angerichtet, aber ich bin froh, dass Sie bleiben.«
Er stand auf und hielt mir die Hand hin. Mir fiel wieder ein, wie er mir geholfen hatte, die neunte Klasse zu bändigen, wie er den Französischtreff unterstützt und mich vor Sams Vater beschützt hatte, wie er mir jedes einzelne Mal, das ich zu ihm gegangen war und ihn um Hilfe bat, den Rücken gestärkt hatte. Ich dachte an die geselligen Eltern-Schüler-Abende, seinen Kühlschrank mit dem Biervorrat, daran, wie wir zum ersten Mal lustige Fisch-Wortspiele ausgetauscht hatten.
Ich stand ebenfalls auf, ignorierte aber seine ausgestreckte Hand und umarmte ihn stattdessen.
Als ich am Nachmittag aus der Schule kam, lehnte Brigid an meinem Wagen. Sie beschattete mit der Hand die Augen.
»Patrick hat gesagt, dass Sie bleiben.« Ihre Stimme bebte.
»Ja, stimmt.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Er hat gemeint, er hilft mir, eine andere Stelle zu finden. Dass ein Neuanfang mir guttun würde.«
»Das ist ein guter Rat«, antwortete ich. »Genau deswegen bin ich hierhergekommen. Um neu anzufangen.«
»Und von Ron soll ich Ihnen sagen, dass es ihm leidtut wegen dieser Zettel. Er ist völlig durchgedreht, aber er wollte mir wohl helfen, meinen Job zurückzubekommen. Ich glaube, er gibt sich die Schuld für meine Dummheit.« Sie verabschiedete sich mit einem Winken, ging zu ihrem Wagen und fuhr davon.
Ich spazierte zu Lucilles Haus hinauf. Zu meiner Freude traf ich auch Biddy dort an.
»Ach, mir ist heute so richtig nach einem Schwatz zumute«, sagte ich.
»Schön, dich zu sehen, Mädchen!«, sagte Lucille. »Wollte eh gerade Tee machen, trinkst bestimmt auch ’ne Tasse.«
O ja. Ich setzte mich neben Biddy auf das Tagesbett.
»So, dann bleibst du der St. Jude’s also auch im nächsten Schuljahr erhalten«, sagte Lucille mit völlig unschuldiger Miene. Sie reichte zuerst Biddy eine Tasse Tee und dann mir. »Schön, das zu hören, Mädchen. Du machst ’n großartigen Job dort.«
»Wir freuen uns schon auf das Sommerfest nächsten Monat. Wir sind eifrig dabei, Läufer und Quilts für den Basar auszusuchen, um Geld für die Kirche zu sammeln.«
»Biddy, Lucille«, sagte ich. »Ich weiß, ich habe seit meinem Umzug nach Clayville nicht besonders viel Zeit mit euch verbracht, aber jetzt, da ich weiß, dass ich bleibe, würde ich gern das Knüpfen lernen.«
Lucille verschluckte sich an ihrem Tee, und Biddy bekreuzigte sich.
»Was hast du da gesagt?«, fragte Biddy.
»Ich wollte fragen, ob ihr Lust hättet, mir im September das Teppichknüpfen beizubringen?«
»Es wäre uns eine große Freude, Rachel«, erwiderte sie. »Ich bin mir sicher, du lernst das ganz schnell.«
Lucille schien da weniger zuversichtlich zu sein. »Na ja, wir fangen mit ’nem ganz einfachen Muster an, Mädchen.«
Sie mochte es im Scherz gesagt haben, aber ich nahm mir vor, eine Privatstunde bei Biddy zu buchen, bevor der offizielle Unterricht anfing. Ich wollte mir von keinem einzigen Menschen nochmal sagen lassen: »Nicht schlecht … für jemanden vom Festland.«