Kapitel Dreizehn

Carla Hutchins wohnte da, wo nur noch zwei ausgefranste Telefonkabel an den Masten hingen. Ich legte mich auf die Rückbank, starrte in den Himmel und dachte nach – um es mal so zu formulieren. Über uns zogen sich die Wolken zusammen, wurden dunkler. Dann regnete es in Strömen und kurz darauf war das Unwetter nur noch eine vage Erinnerung. Eine Viertelmeile weiter vorn tauchte inmitten der Felder ein Wäldchen auf. Zwischen den Bäumen versteckte sich ein kleines graues Haus.

»Da ist die Hutchins«, sagte ich mit einem Blick auf die Nummer auf dem Briefkasten. Harry steuerte den Wagen auf die unbefestigte Zufahrt. Vermutlich kam es öfter vor, dass sie verirrten Menschen den Weg zurück auf die Hauptstraße erklären musste. Sie zog ein Paar Jeans aus einem Korb vor ihren Füßen und schüttelte sie aus. Das Watschwatschwatsch kontrastierte mit dem Surren und Summen der Insekten.

»Entschuldigung, Ms Hutchins?«

Als sie ihren Namen hörte, wirbelte sie herum. Sie trug ein einfaches blaues Kleid und eine weiße Schürze mit einer Tasche. Ihre Füße im Gras waren nackt. Sie war sehr schlank, fast schon dürr und hatte ein schmales, hageres Gesicht. Ihre geraden, schulterlangen, blonden Haaren waren von grauen Strähnen durchzogen und glänzten, als wären sie erst vor kurzem gewaschen worden. Sie hatte kein Make-up aufgelegt, trug keinen Schmuck und hätte sich optisch ganz hervorragend in ein Dorf in Oklahoma während der Depression eingefügt.

»Ja?«

»Ich bin Detective Carson Ryder vom Mobile Police Department. Und das hier ist Detective Nautilus. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen über ...« Ich wusste nicht, wie ich den Satz beenden sollte.

Harry sprang ein. »Über die Vergangenheit. Als das Leben noch nicht so friedlich war.«

Hutchins drehte sich um und hängte weiter Wäsche auf. Wenn sie sich bewegte, klackten die Klammern in ihren Taschen. Die Wäsche flatterte in der leichten Brise. Der Zitronenduft ihres Waschpulvers stieg mir in die Nase.

»Bitte, gehen Sie«, sagte sie. »Ich bin jetzt sauber.«

»Tut mir leid, Ms Hutchins«, sagte Harry. »Ich verstehe nicht ganz.«

»Ich bin sauber. Früher war ich dreckig, aber jetzt bin ich sauber. Und wenn ich über damals rede, werde ich wieder dreckig. Bitte, gehen Sie.«

Harry hob einen Finger und berührte die Wäscheleine, als müsste er sich vergewissern, dass sie wirklich da war. »Meine Herren, heute ist es aber heiß wie in der Sauna«, meinte er und fuhr mit dem Handrücken über seine Stirn. »Und wenn es regnet, ist es auch nicht besser. Zehn Minuten später dampft alles. Haben Sie nicht auch Durst? Auf etwas Kaltes, Ms Hutchins, Carla? Ich darf Sie doch Carla nennen?«

»Ich weiß nicht. Ich meine, ja, ich bin durstig. Aber ich kann Ihnen nur Leitungswasser –«

Harry machte eine Kopfbewegung in Richtung Straße. »Carson, geh mal zu dem Laden runter, an dem wir vorbeigekommen sind. Hol uns ein paar kalte Getränke. Ich nehme ein Diät-RC oder, wenn sie das nicht haben, eine Cola. Und Sie, Carla?«

»Wirklich, Sie müssen doch nicht ... Eine Orangenlimo. Wenn es keine Umstände macht.«

Als ich ein paar Minuten später wieder auftauchte, hatte Harry Wäscheklammern zwischen den Zähnen und ging Ms Hutchins beim Aufhängen zur Hand. Ich verteilte die Flaschen, riss eine Tüte gerösteter Erdnüsse auf und setzte mich auf einen Gartentisch. Wie ein hungriger Gaul vor mich hin mampfend hörte ich Ms Hutchins zu. Sie redete schleppend und bediente sich – was Diktion und Vokabular betraf – einer überraschend gehobenen Ausdrucksweise.

»Ich habe keine Ahnung, wohin seine Arbeiten verschwanden, Detective Nautilus«, sagte sie und fixierte den Ärmel einer pinkfarbenen Bluse. »Ich weiß nicht viel darüber. Das mag Ihnen vielleicht ungewöhnlich erscheinen, zumal ich dort über ein Jahr gelebt habe, aber sein Werk in Gänze haben nur sehr wenige gesehen. Calypso sicherlich. Terpsichore möglicherweise. Persephone.«

»Eigenwillige Namen«, fand Harry.

»Wir erhielten Namen aus der Kunst oder Mythologie. Das war M-Marsdens Idee.«

Harry fixierte den anderen Ärmel an der Leine. »Und wie war Ihr Name?«

Hutchins hielt inne. Ich sah, wie ihre Lippen stumm ein Wort formten, ehe sie sich einen Ruck gab und es laut aussprach. »M-Maya, nach dem Gemälde von Goya. Fühlt sich komisch an, ihn auszusprechen. Das habe ich seit Jahren nicht mehr getan. Manchmal höre ich ihn in meinen Träumen. Ich habe gelernt, auf Kommando wach zu werden.«

»Warum hat er Sie seine Kunst nicht sehen lassen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es seine Idee war, so geheimnisvoll zu tun. Das hat sich bestimmt Calypso ausgedacht. Wir haben einzelne Gemälde gesehen. Und es wurden extra Werkschauen veranstaltet. Damit wir seine Arbeit studieren, ihn und seine wunderschönen Bilder loben konnten. Vor einer ... Affirmation fand immer eine Werkschau und eine Lesung statt.«

»Affirmation bedeutete, dass jemand sterben musste?«

»Dass jemand auserwählt wurde.«

»Wie ist das vonstatten gegangen? Wie wurde das entschieden?«

»Es wurde schlicht und einfach verkündet. Die Planung ging los und dann, ein paar Wochen später, fand das Ereignis statt. Calypso war die Verantwortliche.«

»Wohnte die Gruppe dem Ereignis bei?«

»Jeder hatte eine Rolle. Ich wurde nie für eine wichtige Rolle ausgewählt. Einmal war ich der Späher, in einer Telefonzelle. Falls jemand vorbeikam, sollte ich anrufen. Ich hätte ... jemanden anrufen können. Erzählen können, was gleich passiert.« Ihre Hände begannen zu zittern und sie ließ eine Klammer ins Gras fallen. Harry hob sie auf.

»Schhh, Carla«, sagte er. »Das ist lange her, tot und begraben. Und Sie haben ein gutes, ehrliches Leben vor sich. Sie sind in Sicherheit.«

Sie drehte sich zu Harry um. Ein gequälter Schluchzer entwich ihren Lippen. Sie kippte nach vorn und fiel ihm in die Arme. Weinte beinah tonlos. So verharrten sie fast eine Minute, ehe sie sich langsam von ihm löste und die Tränen von den Wangen wischte.

»Bitte, entschuldigen Sie, Detective Nautilus. Es geht ... jetzt wieder. Ich denke, es täte mir gut, öfter zu hören, dass die Vergangenheit tot und begraben ist.«

Harry zog eine Visitenkarte heraus, nahm ihre Hand, legte die Karte hinein. »Nehmen Sie sie, Carla. Und legen Sie sie nicht allzu weit weg. Falls Sie jemanden zum Reden brauchen, rufen Sie mich an. Tag oder Nacht, morgens oder abends.«

Sie schloss die Hand, in der die Karte lag. »Soll das heißen, Sie schlafen nie?«

Er zwinkerte. »Schlaf wird überbewertet.«

Wir drehten uns um, als ein grüner Subaru-Kombi vorbeifuhr. Ein Mann hinterm Steuer, eine Frau auf dem Beifahrersitz. Der Fahrer trug einen Stetson, die Frau eine Baseballkappe mit langem Schild. Sie schauten in die andere Richtung, als würden sie etwas auf dem braungelben Feld gegenüber betrachten, auf dem vertrockneter Hopfen stand. Als der Wagen nur noch eine ferne Staubwolke war, ging Hutchins langsam zu dem Korb auf dem Tisch und füllte ihre Schürzentasche mit Wäscheklammern auf.

»Wer war die Frau, die im Gericht geweint hat? Die, die ihn getötet hat?«, fragte Harry.

»Calypso«, sagte Hutchins. Ihre Stimme klang kräftiger, als hätte etwas von Harrys Stärke auf sie abgefärbt.

»Sie muss entweder sehr weit oben oder unten gestanden haben, entweder extrem überflüssig oder sehr geschätzt gewesen sein.«

Hutchins schaute kurz zur Sonne hoch und drehte dann den Kopf weg. »Sie war aus Eisen, Detective. Ihr Verstand, ihre Seele, ihr Körper. Die totale Beschützerin, seine Beschützerin. Wer ihr in die Quere kam, dem kratzte sie beinah die Augen aus oder zerfetzte ihn mit Worten. Die Szene vor Gericht, das war ihr Einfall. Er wusste, dass er zum Tode verurteilt würde, und wollte nicht, dass die Regierung den Tod vollstreckt. Sein Plan sah vor, dass Gift reingeschmuggelt wird und er es im Gericht schluckt. Er wollte eine Rede halten, er wollte einen großartigen, einen künstlerischen Abgang.«

»Aber Calypso hat Plan B entworfen?«

»Sie legte Trauerkleidung an, schminkte sich so, dass sie älter aussah. In Wahrheit war sie Anfang zwanzig, obwohl ich schwören würde, dass diese Frau vor hundert Jahren geboren wurde, so viel wusste sie. Hinter dem dunklen Schleier konnte man sie nicht sehen. Eine Frau kommt in einem schwarzen Kleid und mit Schleier zu einer Gerichtsverhandlung in einem Mordprozess und weint sich die Augen aus – eine von vielen trauernden Familienangehörigen oder aus dem Freundeskreis der Verstorbenen. Welcher Wachmann sollte sie filzen? Zudem war sie eine begnadete Schauspielerin.«

»Klingt so, als hätte sie Menschenkenntnis besessen, gewusst, wie die Leute denken.«

»Sie kannte sich mit Systemen aus. In ihren Augen waren wir, seine Anhänger, ein System, das seiner Selbsterhaltung diente. Und das Gericht war für sie ein System, wo dem Kummer viel Platz eingeräumt wurde.«

»Aber Tag für Tag das Risiko einzugehen, entlarvt zu werden? Jetzt kapiere ich, was Sie mit Eisen meinen.«

»Es gab ihr einen Kick. Sie kehrte auf die Farm zurück, wo wir uns versteckten, und hatte Sex. Den brauchte sie. Immer und immer wieder. Vielleicht dachte sie auch, sie nimmt noch mit, was sie kriegen kann, wenn sie bald sterben muss.«

»Eine hungrige Frau.«

»Dieser Hunger kam ihr aus jeder Pore. Sie war hungrig auf alles und besonders ... auf ihn. Für ihn zu sorgen, alles zu tun, damit er weiterarbeitete; das brauchte sie. Nach außen hin tat sie so, als würde er uns gehören, aber sein wahres Ich war für sie reserviert, für sie ganz persönlich. Die meiste Zeit verbrachten sie gemeinsam im Studio, einem ungenutzten Schuppen. Wir anderen blieben im Farmhaus. Die beiden schufen sich dort drüben ihre eigene kleine Welt. Gelegentlich durfte einer der Auserwählten ihnen Essen und Getränke bringen. Calypso nährte die Eifersüchteleien unter uns. Ich denke, sie tat das absichtlich. Sie lenkte unseren Zorn auf sich, damit wir ihn noch mehr vergötterten.«

»Offenbar hat sie ihn wirklich geliebt, wo sie doch für ihn gestorben ist.«

»Wir alle wären für ihn gestorben, wir traurigen kleinen Mädchen. Alles hätten wir für ihn getan, gestorben wären wir für ihn. Wir glaubten fest daran, dass uns das auf ewig zusammenschmieden würde. Und ihm hat unsere devote Haltung natürlich sehr behagt.«

Harry schüttelte den Kopf. »Heute würden sich solche Typen als Selbstmordattentäter rekrutieren lassen. Die Macht, die Hexcamp besaß, ist mir unbegreiflich.«

Hutchins schüttelte den Kopf. »Ich hätte mich auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen für die vage Möglichkeit, dass Marsd ... dass er mir einen Kuss gibt. Hilft Ihnen das weiter?«

Hutchins stand mit dem Rücken zu mir. Ich warf Harry einen Blick zu und sagte stumm Willow.

Er senkte die Lider zum Zeichen, dass er verstanden hatte. »Hat Hexcamp je einen Polizisten namens Willow erwähnt?«

»Er war derjenige, der es rausgekriegt, der die Puzzleteile zusammengesetzt hat. Selbstverständlich für viele viel zu spät. M-Marsden hasste Jacob Willow, womit ich sagen will, dass er ihn respektierte. Jeder, der ein so starkes Gefühl wie Hass hervorruft, genießt auch Respekt.« Sie hielt inne. »Vor einem Jahr ist Jacob Willow hier aufgetaucht. Und ein paar Jahre davor schon mal. Ich bin nicht nach draußen gegangen. Er hat eine ganze Weile gewartet, ehe er wieder gegangen ist.«

»Erzählen Sie mir von der Kunst«, bat Harry.

»Seine Arbeit blieb im Studio, im Schuppen, der immer abgeschlossen war. Schwere Schlösser. Wenn die Schaffenskraft ihn heimsuchte – er redete immer von ›Heimsuchung‹ –, war er wie in Trance. Calypso war die ganze Zeit über bei ihm, denn er musste gefüttert werden. Nur Calypso und ein paar Auserkorene durften ihm Essen und anderes bringen. Und seinen ... seinen Kot entsorgen. Er verlor dann nämlich die Kontrolle und machte sich ein. Und wenn er schließlich seine Arbeit beendete, litt er tagelang unter Erschöpfungszuständen.«

»So viel Aufwand, und trotzdem hat er nie etwas verkauft?«

»Das sollte sein Geschenk an die Welt sein – sein ›Vermächtnis‹, wie er es manchmal nannte. Das selbstverständlich nicht für die normale Welt bestimmt war, sondern für Menschen von unserem Schlage – oder so wie wir uns sahen. Menschen, die wussten, wie man seine Kunst interpretierte, benutzte. Wenn man Worte und Bilder richtig bündelte, wäre die Wirkung stärker als die der einzelnen Arbeiten, beteuerte er immer. Und er behauptete, das hätte er entdeckt während seiner Zeit am L’ Institut des Beaux-Arts ...«

»Das was?«, fragte Harry.

»Eine berühmte Kunstakademie in Paris. Er hat dort ein Vollzeitstipendium erhalten, worauf er sehr stolz war. Andauernd redete er davon. Manchmal sprach er Französisch.«

»Hat das sonst noch jemand gesprochen?«

»Das andere Mädchen, Persephone. Ich denke mal, sie haben sich in Paris kennen gelernt, während er auf der Akademie war.«

»Hatte sie etwas Besonderes an sich?«

Hutchins schüttelte den Kopf. »Calypso hätte nicht zugelassen, dass wir besonders oder irgendwie speziell waren. Soweit ich mich entsinne, war Persephone eine von denen, denen gestattet wurde – gestattet, können Sie sich das vorstellen –, den Schuppen zu betreten und seine Scheiße rauszutragen. Von daher war sie für uns alle etwas Besonderes, wissen Sie.« Hutchins schüttelte bedächtig den Kopf und lachte freudlos.

»Es gab also verschiedene Stufen? Wie in einem Kastensystem?«

Sie überlegte kurz. »Nicht wirklich ein System. Es gab zwei, drei Personen, die Essen ins Studio bringen, seinen Nachttopf wegtragen und dort putzen durften. Persephone gehörte zur Elite, falls man das so sagen kann. Vielleicht weil sie aus Paris herübergekommen war. Mehr weiß ich nicht über sie. Über unsere Vergangenheit, unsere Zukunft haben wir uns nie unterhalten, nur über ... ihn.«

Allem Anschein nach gab es nicht mehr über Persephone zu erfahren, die nur Marie Gilbeaux gewesen sein konnte. Harry sagte: »Sie haben über die Gefühle gesprochen, die seine Arbeiten bei ihm hervorgerufen haben.«

»Sie würden die Welt aus den Angeln heben, Detective Nautilus. Das waren seine Worte. Die Kunst würde ihn auf ewig berühmt machen.«

»Haben Sie in letzter Zeit vielleicht ein paar von seinen Bildern gesehen, Carla? Ist womöglich irgendetwas mit der Post gekommen?«

Die Frage warf sie völlig aus der Bahn. Auf einmal lag Furcht in ihrem Blick.

»Mein Gott, nein. Wieso?«

Harry winkte ab. »Nichts, ich habe nur laut gedacht. Diese Arbeiten, die die Welt aus den Angeln heben, die Sammlung von Bildern, Zeichnungen, was auch immer. Haben Sie eine Idee, wo all das nach seinem Tod abgeblieben ist, Carla?«

Hutchins ballte die Hände zu Fäusten. In ihren Augen glimmte ein leises Feuer auf. Als sie sich Harry zuwandte, war ihre Stimme kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

»Ich hoffe nur, dass sich die Erde aufgetan, alles verschluckt hat und seine Sammlung in der Hölle gelandet ist.«

Und mit diesem Bild im Kopf fuhren wir in Richtung Süden, um unsere Notizen mit denen von Jacob Willow zu vergleichen.