2004
Max warf einen Blick zurück, trat in die Pedale und lauschte auf das Motorgeräusch. Immer heftiger strömte der Regen herab. Solange keine Scheinwerfer zu sehen waren, war alles gut, alles in Ordnung. Sein Puls beruhigte sich.
Vielleicht waren es nur betrunkene Jugendliche gewesen, die ihm einen Schrecken einjagen wollten. Denn ansonsten waren an diesem Samstagabend ungewöhnlich wenig Autofahrer unterwegs.
Er hörte seinen eigenen Atem in der kompakten Dunkelheit. Die Pedale quietschten. Im Wald neben der Straße rauschte der Wind in den Kiefern.
Kurz vor der nächsten Kurve tauchte hinter ihm wieder das Scheinwerferlicht auf. Erneut schaute er über seine Schulter zurück. Es muss ja nicht dasselbe Auto sein, dachte er. Genau wie beim ersten Mal fuhr es dicht auf, klebte förmlich an seinem Hinterreifen, ohne Anstalten zu machen, ihn zu überholen. Vielleicht war die Sicht zu schlecht.
Eine Minute verging. Das Auto war immer noch hinter ihm, drei, vier Meter entfernt, und hatte das Fernlicht eingeschaltet. Was war das für ein Katz-und-Maus-Spiel?
Durch den Regen erblickte er ein erleuchtetes Fenster neben der Straße. Ein Haus, endlich ein Haus. Vielleicht sollte er anhalten? Er hatte es schon fast erreicht, konnte in die Küche hineinschauen. Das Auto kam jetzt so nah, dass er beinahe das Gleichgewicht verlor. Max trat schneller, spähte
zum Fenster, meinte, drinnen die Silhouette einer Frau zu erkennen. Das Bild seiner Mutter Gunnel tauchte vor seinem geistigen Auge auf, er würde sie und seinen Vater am Mittwoch wiedersehen, wenn er vorspielte.
Die Straße beschrieb erneut eine Kurve. Die Müdigkeit, die er früher am Abend verspürt hatte, war verflogen. Er war hellwach.
Das Motorgeräusch wurde leiser, und als er sich umdrehte und in die Dunkelheit zurückstarrte, sah er, dass das Auto gehalten hatte. Die Scheinwerfer waren erloschen. Max bremste, stellte einen Fuß auf den Boden und betrachtete es einen Moment.
Sein langer schwarzer Wollschal war schwer vom Regen und kratzte am Hals. Er warf sich das Ende über die Schulter. Seine orangefarbene Jeans war an den Oberschenkeln bereits völlig durchnässt, und auch durch die Lederhandschuhe drang Feuchtigkeit. Nicht gut für seine Finger. Seine Hände waren steif, und er sehnte sich danach, ins Warme zu kommen und die nassen Sachen auszuziehen.
Die eisigen Regentropfen stachen ihn wie Nadeln ins Gesicht.
Etwas weiter vorn endete die Straßenbeleuchtung, doch dann war es nur noch ein kurzes Stück, bis er abbiegen und auf dem Strandweg die letzten Meter bis nach Hause fahren konnte. Er warf einen letzten Blick zum Auto zurück, sprang auf sein Fahrrad und fuhr wieder los.
Große Tropfen liefen ihm über das Gesicht, sein blondes, halblanges Haar war pitschnass, und er zitterte. Das altmodische Vorderlicht seines Fahrrads schickte einen dünnen Lichtstreifen auf den Asphalt. Der Dynamo surrte.
Wie spät es wohl sein mochte? Um kurz nach eins, als der Pub zugemacht hatte, hatte er sich auf dem Marktplatz von den anderen getrennt. Es war laut und ein wenig
chaotisch gewesen. Die anderen wollten weiter, zu einem Absacker nach Malmö, in der Wohnung von einem von ihnen. Vielleicht hätte er doch lieber mitgehen sollen, statt allein im Dunkeln nach Hause zu fahren. Doch er wollte topfit sein, wenn er vorspielte, sonst wären all die Stunden, die er am Klavier verbracht hatte, vergebens gewesen.
Die Fahrradkette rasselte. Er hatte es nicht geschafft, das Rad zur Reparatur zu bringen, ohnehin wollte er sich demnächst ein neueres mit Gangschaltung kaufen.
Der Regen wurde noch stärker, und er leckte sich ein paar mit Schweiß vermischte Tropfen von der Oberlippe. Wieder hörte er das Motorengeräusch hinter sich.
Die Scheinwerfer waren auf ihn und die Bäume gerichtet. Max drehte sich um. Sein Herz klopfte wild. Das Auto kam langsam näher, hielt sich ein paar Meter hinter ihm, wie schon zuvor. Es konnte nicht dasselbe Auto sein. Nicht ein drittes Mal. Der Fahrer blendete zweimal auf, wie um ihm etwas mitzuteilen. Dann wurde es still. Das Auto war stehen geblieben, die Scheinwerfer erloschen. Max fuhr weiter, so schnell er konnte. Sein Herz pochte wie ein überdrehtes Metronom. Zwei Lichtkegel näherten sich von vorn. Endlich kam ihm jemand entgegen, ein Lastwagen. Max bremste, sprang ab, warf das Fahrrad zur Seite. Der Lastwagen kam auf der Gegenfahrbahn auf ihn zu, und er winkte mit beiden Armen, hüpfte auf und ab und rief:
»Stehen bleiben! Stehen bleiben!«
Doch der Lastwagen wurde nicht langsamer. Max winkte noch heftiger, sah der Fahrer ihn denn nicht?
»Stehen bleiben! Hallo, bitte bleiben Sie stehen!«, rief er verzweifelt.
Der Lastwagen verschwand um die Kurve, und um ihn herum wurde es wieder pechschwarz. Vor Kälte klapperten ihm die Zähne. Max schloss die Augen und hob die Arme
schützend vors Gesicht, als zwei große weiße Lichtkegel ihn blendeten. Sie schienen ihn direkt anzustarren und blendeten dann erneut auf.
Er hielt den Blick fest auf die Scheinwerfer gerichtet, bereit zu fliehen, und hob sein Fahrrad auf.
Dann sprang er auf den Sattel, beugte sich tief über den Lenker und strampelte, so schnell er konnte. Der Regen beeinträchtigte die Sicht. Er spähte in die Dunkelheit, suchte nach dem Abzweig, doch um ihn herum waren nur Baumstämme und schwarzer Asphalt. Max fuhr im Stehen weiter, um mehr Kraft zu haben. Ein Fuß rutschte ab, und als er weitertrat, ging es ganz leicht, viel zu leicht.
»Oh, verdammt!«, fluchte er.
Die Kette war wieder abgesprungen. Gleichzeitig kam das Auto immer näher, in seinem Rücken blinkten die Scheinwerfer.
Würde er hier je wieder rauskommen?
Er spürte den Stoß gegen seinen Gepäckträger und wurde auf dem Sattel nach vorne gedrückt.
Erst beim zweiten Stoß stürzte er vom Fahrrad und fiel in den Straßengraben. Sein Gesicht wurde in das nasse Gras gepresst. Aus dem Augenwinkel sah er sein Vorderrad, das sich im Scheinwerferlicht drehte und drehte.