Tess drehte sich um und blickte zu der sandfarbenen Fassade des Altbaus hinauf, in dem sich die Klinik befand.
»Das war schon alles«, sagte sie zu sich selbst und sog die frische Kopenhagener Frühlingsluft ein.
Sie folgte der Straße zum Kongens Nytorv und versuchte, nicht weiter über die seltsame Tatsache nachzudenken, dass sie jetzt die DNA eines Unbekannten in sich trug. Ein absurdes Gefühl.
In ihr brodelte eine seltsame Mischung aus Freude und Verwirrung. Sie hatte genau das getan, was sie nie hatte tun wollen. Gleichzeitig war sie stolz auf sich, weil sie ihren Kinderwunsch endlich ernst genommen und selbst die notwendigen Schritte unternommen hatte. Das Problem war nur, dass sie sich so schwer vorstellen konnte, als Schwangere herumzulaufen.
Dennoch war der Wunsch in den letzten Monaten immer stärker geworden, und irgendwann hatte sie sich dabei ertappt, wie sie einen Termin in der Kopenhagener Kinderwunschklinik vereinbarte. Sie durchlief sämtliche Tests und unterschrieb die erforderlichen Formulare, in denen sie beispielsweise auch die gewünschte Größe und Augenfarbe des Spenders angeben musste. Anschließend wartete sie, bis ihr Körper ihr sagte, dass es so weit war.
Der knapp einstündige Besuch in der Kinderwunschklinik war trotz allem ein positives Erlebnis gewesen, sie hatte sich willkommen und gut behandelt gefühlt. Der Raum, in dem die künstliche Befruchtung vorgenommen wurde, war anheimelnd eingerichtet, nichts verbreitete Krankenhausatmosphäre. Niemand hatte ihr das Gefühl gegeben, etwas an ihr wäre falsch, weil sie allein kam, ohne Partner oder Freundin.
»Wir erleben hier alle möglichen Konstellationen«, hatte die Hebamme gesagt und ihr den dampfenden Behälter mit den tiefgefrorenen Spermien gezeigt, die sie ihr einpflanzen würde.
Sie hatte Tess, die mittlerweile zweiundvierzig war, erklärt, dass mindestens zehn Inseminationen notwendig sein würden, bis es eventuell zu einer Schwangerschaft kommen würde. Nachdem sie es rasch im Kopf überschlagen hatte, kam Tess zu dem Schluss, dass sie dann wohl mit etwa fünfzigtausend Kronen rechnen musste. Beim Abschied waren sie und die Hebamme sich einig gewesen, dass es das Beste wäre, wenn sie sich gar nicht wiederzusehen bräuchten.
Es war Dienstagnachmittag, und viele Kopenhagener stimmten sich in den frisch geöffneten Außenbereichen der Cafés und Restaurants auf das bevorstehende Osterwochenende ein. Tess blickte auf Nyhavn herab und auf die Reihen von Stühlen und Tischen entlang des Kanals und der dort vertäuten Schiffe.
Jetzt würde sich alles zum Guten wenden, hatte sie beschlossen. Nachdem sie ihren letzten Fall erfolgreich gelöst hatte und Annikas Verschwinden aufgeklärt war, war es ihr nicht leichtgefallen, sich wieder für die Arbeit zu motivieren.
Das vergangene Jahr war sehr chaotisch gewesen. Ihr Chef, Per Jöns, hatte einen Herzinfarkt erlitten. Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung und Lebensführung hatten ihren Tribut gefordert. Und wie in jedem Betrieb entstand sofort Unruhe innerhalb ihrer Abteilung, neue Gesichter tauchten auf und versuchten, sich einen Posten zu sichern .
Tess hatte das ungute Gefühl, dass etwas im Gange war. Sie befürchtete, dass die Neuerungen sich nicht unbedingt zu ihrem Vorteil entwickeln würden. Sie hatte ein Gespür für so etwas. Es war ein Erbe ihrer Großtante Thea und sehr verlässlich. Ein inneres Warnsystem, das einen, wenn man lernte, darauf zu hören, vor so manchem bewahren konnte. Doch in diesem Fall wusste sie nicht, wie sie diese Fähigkeit nutzen sollte.
Was sie wusste, war, dass sie Makkonen hätte Konkurrenz machen und mit ihm um den Titel des Polizeioberkommissars hätte kämpfen sollen, um ihren Verantwortungsbereich als Teamleiterin auszuweiten. Sie hätte ihre Erfolge nutzen sollen, um so ihr Gehalt aufzubessern. Das Problem war, dass sie das gar nicht interessierte, sie hatte keine Lust, in die Chefetage zu wechseln und sich ständig irgendwelchen Machtkämpfen aussetzen zu müssen. Die Speichelleckerei, die dazu notwendig war, lag ihr einfach nicht. Sie wollte echte Polizeiarbeit machen, Angehörige treffen, Ermittlungsprotokolle mit neuen Augen lesen und zu Vernehmungen rausfahren. Tief im Innern wurmte es sie dennoch, dass sie Makkonen das Feld kampflos überlassen hatte.
Privat hatte sie sich dagegen sehr bemüht, endlich weiterzukommen und die Beziehung mit Angela ein für alle Mal hinter sich zu lassen, ein neues Leben anzufangen. Erschwert wurde dies durch die unerwartete Trennung ihrer Eltern, nach der sie sich sehr intensiv um ihren Vater gekümmert hatte, der am Boden zerstört gewesen war. Auch hatte sie sich viel zu lange in ihre Arbeit geflüchtet, statt sich um sich selbst zu kümmern.
Vielleicht war dies der eigentliche Grund, weshalb sie heute in Kopenhagen in der Kinderwunschklinik war. Es war der Versuch, einen neuen Sinn zu finden, etwas anzustreben, das ihr wichtig war .
Sie kam am Hotel d’Angleterre vorbei und beschloss, sich einen Moment auf die Terrasse zu setzen. Die Frühlingssonne wärmte ihr Gesicht, sie hatte keine Eile, ins Malmöer Präsidium zurückzukehren.
Tess spürte in sich hinein, obwohl sie wusste, dass man so schnell nichts merken konnte.
Dies hier war eine der Gelegenheiten, in der sie eine Freundin hätte anrufen können, um die große Neuigkeit zu verkünden, mit der niemand mehr gerechnet hatte. Es gab genau vier Personen, denen sie sich wirklich verbunden fühlte, und eine davon sah sie inzwischen fast gar nicht mehr. Angelas Gesicht erschien vor ihrem geistigen Auge. Wahrscheinlich waren es Situationen wie diese, die einen dazu brachten, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig war.
Tess bekam ihren Tee in einer kleinen silbernen Kanne serviert, als ihr Handy in der Tasche ihrer Lederjacke surrte.
»Marie«, stand auf dem Display.
Vielleicht waren es doch eher fünf. Ihre Kollegin, Polizeikommissarin Marie Erling, gehörte wahrscheinlich mit auf die Liste der Personen, die ihr nahestanden.
»Also, so ein Blödsinn!«
Marie hielt sich niemals mit Smalltalk auf.
»Wo bist du?«, fragte Tess.
»In Möllevången, ich führe hier Vernehmungen wegen der Schießerei letzten Donnerstag durch. Ein völlig harmloser Typ wurde angeblich aus heiterem Himmel erschossen, als er zu Hause Geburtstagsgeschenke für seine Mutter einpackte.«
»Ja, klar.«
»Sein Vorstrafenregister ist so lang, dass man damit locker eine Fähre der Scandlines einwickeln könnte.«
Tess verstand Maries Frust nur zu gut. Die Schießereien in Zusammenhang mit der Bandenkriminalität in Malmö waren für sie die schlimmsten Einsätze, die sie sich vorstellen konnte. Kein Wunder: Die Chance, diese Vorfälle aufzuklären, war minimal, und inzwischen verlagerten sie sich immer mehr Richtung Zentrum, ins »schickere« Malmö. Da nutzte es wenig, dass die Verbrechen – meist Vergeltungsschläge der einzelnen Banden untereinander – den Alltag der übrigen Bevölkerung selten beeinträchtigten.
»Außerdem«, sagte Marie, »bin ich dadurch einem Team zugeordnet worden, das einen frischen Mord am Hals hat. Kannst du mich da nicht raushauen? Unter Makkonen zu arbeiten macht mich wahnsinnig!«
»Ja, ich hoffe, da tut sich bald etwas«, sagte Tess.
Marie, die eigentlich zu ihrem Cold-Case-Team gehörte, war vorübergehend für die Mitarbeit in der allgemeinen Mordkommission unter Leitung des frisch gekürten Polizeihauptkommissars Ola Makkonen freigestellt worden. Eine Art Umverteilung der Ressourcen, die zu Tess’ Ärger immer häufiger vorkam.
»Und was machst du so? Kommst du heute noch rein?«
Tess fühlte sich plötzlich wie ein kleines Mädchen, das die Schule schwänzt. Mitten in der Woche saß sie mit ihrem großen Geheimnis auf der Terrasse des Hotel d’Angleterre und genoss die Sonne.
»Vielleicht später. Ich habe heute eigentlich frei.«
»Bist du krank?«
»Nein, ich habe einfach nur frei, ich musste noch etwas erledigen.«
»Mal was anderes: Willst du wissen, wie das Date war?«
Oh nein, dachte Tess, nicht schon wieder.
Seit ihrer Scheidung war Marie zu einer der wahrscheinlich emsigsten Tinder-Daterinnen Südschwedens geworden. Bald würde sie sich die Finger verbinden lassen müssen, so abgenutzt mussten sie vom Swipen sein. Und sie hielt mit den Erfahrungen, die sie dabei machte, nicht hinterm Berg .
»Habe ich eine Wahl?«
»Nein. Aber du wirst dich freuen, ich bin nämlich gar nicht hingegangen. Die Kleine hatte Fieber, und Tomas kommt nicht mit allen dreien zurecht, wenn eins von ihnen krank ist. Aber dieser Sebbe, den ich Mittwoch getroffen habe …«
Marie lachte.
»Also, ich weiß ja, dass du dich mit so etwas nicht auskennst, aber hast du schon mal vom Nervösen-Schwanz-Phänomen gehört?«
Tess warf einen Blick zum Nachbartisch, doch Marie erwartete gar keine Antwort.
»Er war wirklich richtig süß und einfühlsam, aber es klappte einfach nicht. Jetzt habe ich mich belesen und habe gelernt, dass so etwas gerade dann vorkommen kann, wenn echte Gefühle mit im Spiel sind. Dann geht plötzlich gar nichts mehr. Seltsam, bei mir ist das anders.«
Marie redete und redete, und Tess glitt in ihre eigenen Gedanken ab. Ihr Blick fiel auf ein Paar mit Kinderwagen, das auf dem Gehweg vorbeischlenderte.
»Also zwei Nieten in einer Woche. Aber auch ein abgesagtes Date ist ein Date. So, jetzt muss ich leider auflegen. Frohe Ostern!«
Unglaublich, dachte Tess, nachdem sie aufgelegt hatten. Marie gelang es immer wieder, es so erscheinen zu lassen, als wäre Tess diejenige gewesen, die sie angerufen und um Auskunft über ihre letzten Dates gebeten hätte.
Tess zahlte, stand auf und ging Richtung Ströget und Rådhusplatsen, um von dort aus mit dem Zug nach Malmö zurückzufahren.