Die Ehefrau
Ein Milan flog über die Wiese. Das milde Aprilwetter hielt an, und die Schneewehen, die Österlen vom Rest der Welt abgeschnitten hatten, waren endlich verschwunden. Ganz anders als im letzten Jahr, als ein plötzlicher Schneesturm an Ostern eine weiße Decke über die Gegend gebreitet hatte. Hier in der Gegend erinnerten sich alle noch sehr gut daran.
Ziellos wanderte sie über die Landstraßen, sog den Duft der Wiesen und frisch gepflügten Äcker ein. Wenigstens die frische, herrliche Landluft gab es noch. Das meiste andere um sie herum hatte sich verändert.
Es war ihr viertes Frühjahr in Österlen. Jetzt brach die Zeit an, in der die entlegenen Winkel sich belebten und die Häuser im Ort sich füllten. Sie hatte gelernt, mit den Jahreszeiten zu leben und mit den Gewohnheiten, die sie prägten. Nach einem langen, harten und stürmischen Winter begann man wieder, sich zu besuchen. Erwartungsvoll und zuversichtlich blickte man auf Ostern und auf den Sommer. Kleine rot-gelbe Kugeln wiesen an den Kreuzungen den Weg zu den Häusern der Künstler und den Galerien. Jetzt pilgerten die Touristen in Strömen herbei, und Teile des Jahreseinkommens wurden gesichert.
Sie selbst fühlte sich einfach nur leer.
Ausgebrannt und eingesperrt. Ihr Leben, ihr Projekt, ihr Traum von einem ruhigeren Leben hatte sich anders entwickelt als gedacht. Völlig anders
.
Es war ihr Mann gewesen, der sie gedrängt hatte, aufs Land zu ziehen, ausgerechnet nach Österlen. Und nachdem sie das Haus entdeckt hatten, ein unwiderstehliches Angebot, hatte es kein Zurück mehr gegeben. Die vielleicht einzigen einigermaßen erträglichen Kindheitserinnerungen ihres Mannes waren mit diesem Teil Schonens verbunden. Sie umfassten die kurze Zeit, in der seine Familie hier gelebt hatte, bevor sein Vater die Koffer gepackt und sie verlassen hatte, um wieder in den Norden zu ziehen. Bevor seine Mutter krank geworden war und anfing, sich selbst und ihrer Familie zu schaden, sodass sie in die Psychiatrie eingewiesen werden musste. Bevor alles so endete, wie es das in solchen Fällen immer tat: in Chaos und immer neuen Inobhutnahmen.
Sie selbst war skeptisch gewesen, ob der Umzug eine gute Idee war. Für sie war Österlen lediglich eine einsame Gegend, die einmal im Jahr für ein paar Wochen aufblühte. Ein Ort, an dem Künstler sich um die Wette bemühten, das ach so berühmte Licht einzufangen. Man hatte sie vor der Schwermut gewarnt, die im November über diesen Landstrich hereinbrach. Dann musste man sich darauf verlassen können, dass das Leben in allen Bereichen gut funktionierte.
Doch am Ende war es ihrem Mann gelungen, sie zu überzeugen, indem er ihr ein ruhigeres, erfüllteres Leben als im stressigen Malmö versprochen hatte. Naturnah, mit mehr Zeit für die Familie. Und er würde wieder Zeit zum Malen finden, könnte seinen Traum von einem kreativen Leben verwirklichen.
Wäre sie nicht so verzweifelt gewesen, hätte sie der Gedanke an ihre naiven Träume zum Lachen gebracht. Denn es war völlig anders gekommen. Das Bild, das sie vor sich gesehen hatte – wie sie beide ein altes Haus renovieren, in modischen Gummistiefeln herumlaufen und zwischen Stockrosen und malerischen Glasveranden ein ökologisch
korrektes Leben führen würden – hatte sich als trügerisch erwiesen. Nie zuvor in ihrem Leben hatten sie häufiger mit dem Auto fahren müssen, und am Ende mussten sie sich sogar noch einen Zweitwagen anschaffen, um den Alltag einigermaßen geregelt zu bekommen.
Die Entfernung zu allem und jedem machte sie fertig. Egal, wohin man wollte, es dauerte mit dem Auto mindestens eine Stunde. Der öffentliche Nahverkehr war schlecht ausgebaut, sodass viel Organisationstalent gefragt war, denn die Kinder mussten zu all ihren Aktivitäten mit dem Auto gefahren werden. Hinzu kamen die Dunkelheit, die Stille und nicht zuletzt die Wildschweine, die den Garten verwüsteten.
Außerdem ging es ihnen finanziell schlechter, obwohl sie und ihr Mann öfter und mehr arbeiteten als je zuvor. Erst kürzlich war ihr klar geworden, dass er vielleicht sogar ganz froh war, sich hinter seiner Arbeit verstecken zu können. Ihre eigenen Ängste und Sorgen wuchsen dagegen ins Unermessliche. Im Herbst war sie »zusammengeklappt«, wie man das wohl nannte. Mit hohem Fieber wurde sie in die Notaufnahme in Kristianstad gebracht. Dahinter steckte kein einzelnes Ereignis, sondern die ständigen kleinen Stressfaktoren. Tief in ihrem Innern wusste sie, dass einer der Gründe die getrennten Leben waren, die sie inzwischen führten.
Sie hatte angefangen zu ahnen, dass der Umzug lediglich ein weiterer Schritt auf seiner inneren Reise zurück in die Kindheit gewesen war. Eine Art Wiedergutmachung, ein Versuch, die Erinnerungen zurückzuerobern und sie heller zu machen. Mit jedem Tag hatte sie sich mehr auf eine Requisite in seinem Lebensprojekt reduziert gefühlt. Das Einzige, worüber sie inzwischen noch nachdachte, war, wie sie da wieder herauskommen konnte. Sie würde hier keinesfalls noch einen weiteren Winter verbringen, das zumindest hatte sie sich selbst geschworen.