Mischa Lindberg schloss die Badezimmertür und ging barfuß über den kalten Steinfußboden. Sie war nervös wegen der Vernissage am Karfreitag und fand keine Ruhe. Seit Tagen schon fühlte sie sich so rastlos. Natürlich war sie gespannt, wie ihr Lebenswerk »The End« beim Publikum ankommen würde.
Doch da war noch etwas anderes. Sie fühlte sich beobachtet. Sobald sie aus dem Haus ging, sei es zum Einkaufen oder auch nur, um auf dem Hof etwas zu erledigen, kam es ihr vor, als sähe ihr jemand zu. Am Morgen, als sie im nebligen Garten gelbe Osterfedern in den Apfelbaum gehängt hatte, musste sie sich umdrehen, so fest war sie davon überzeugt gewesen, dass jemand hinter ihr stand. Doch das einzige Lebewesen in der Nähe war der kleine Star oben auf dem Dachbalken, der zu ihr herabsah.
Am Abend, als sie ihr Atelier aufgeräumt hatte, war dieses Gefühl erneut da gewesen. Es hatte sich angehört, als schlüge eine Tür auf der Rückseite der Scheune im Wind, und als sie hinging, um nachzusehen, hatte sie wieder das Gefühl gehabt, da wäre jemand.
Vielleicht lag es ja auch nur an der hohen Arbeitsbelastung und dem Druck, vor Ostern mit allem fertig werden zu müssen.
Mischa gähnte und löschte in der Küche das Licht.
Intensive Tage lagen vor ihr, und sie brauchte eine Nacht mit langem, tiefem Schlaf
.
Sie ging ins Schlafzimmer, zog den schweren Samtüberwurf vom Bett und kroch unter die Decke.
Vor sich sah sie ihr Kunstwerk »The End« und verspürte plötzlich eine Art Trennungsschmerz. Nach zehn Jahren Arbeit sollte das Bild dem Publikum zugänglich gemacht werden, wenn am Karfreitag die Galerie Factory ihre Türen öffnete. Bis jetzt war es ganz allein ihr Baby gewesen, wenn auch ein zwei Meter großes, und selbst wenn niemand das Ölgemälde kaufen würde, der Zauber wäre zerstört, sobald sie es mit anderen teilte.
In gewisser Weise hatte dieser Prozess bereits begonnen. In der letzten Woche hatte sie es mehrfach in den Medien präsentiert, sowohl das Fernsehen als auch Zeitungen waren daran interessiert gewesen. Eine Künstlerin, die mit ihrem letzten Menstruationsblut malte, erregte Aufmerksamkeit. Doch das war nicht der Grund, weshalb sie es getan hatte. Wenn sie provozieren, auf Unrecht oder mangelnde Gleichberechtigung hinweisen konnte, sollte ihr das recht sein, aber ansonsten hatte sie keinerlei Interesse an öffentlicher Aufmerksamkeit. Es war einfach ihr Beitrag, wenn es darum ging, den Missstand anzuprangern, dass ein großer Teil im Leben einer Frau versteckt und unsichtbar gemacht wurde.
Ein zweigeteiltes Ölgemälde, ein hellblau schimmernder Himmel und eine gelbe Heidelandschaft, die durch eine Meereslinie, gemalt mit Blut – ihrem Blut – voneinander getrennt wurden. Vorher und nachher. Hatte sie bei ihrem Ex-Mann Andy eine gewisse Eifersucht wegen der großen Aufmerksamkeit gespürt, die sie im Rahmen der bevorstehenden Konstrundan, dem jährlich in Schonen stattfindenden Kunstfestival, erhielt? Kleine Sticheleien wegen des Medienhypes? Sie konnte es ihm nicht verdenken. Es war nicht leicht, als Künstler über die Runden zu kommen. Doch ihr
Werk würde ja auch andere Kunden in seine Galerie locken. Er konnte also eigentlich zufrieden sein.
Sie nahm das oberste Buch vom Stapel auf ihrem Nachttisch. Joyce Carol Oates. In letzter Zeit war sie nicht häufig zum Lesen gekommen. Ein wenig zerstreut blätterte sie bis zum Eselsohr und begann zu lesen. Nach ein paar Sätzen fiel plötzlich weißes Licht von draußen in ihr Schlafzimmer. Sie nahm das Buch herunter und legte es auf ihrem Bauch ab. Dann schaute sie zum Fenster. Es war, als wären starke Scheinwerfer auf ihr Haus gerichtet.
Sie schlug die Decke zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. Durch die weiß-rosa Vorhänge sah sie, wie das Licht schwächer wurde. Ein Auto, das zurücksetzte?
Seltsam, dachte sie. Ihr Hof lag am Ende der Straße, und es gab keinen Grund, hier vorbeizufahren. Vielleicht hatte sich jemand verfahren. Sie saß immer noch auf der Bettkante. Doch das Licht schien weiterhin zu ihr herein. Also stand sie auf und ging zum Fenster. Sie öffnete die Vorhänge einen kleinen Spalt und schaute zur Straße. Fünf starke Autoscheinwerfer leuchteten in ihre Richtung. Mischa stand ganz still. Das Auto musste etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt sein.
Sie hörte leises Motorgeräusch und beschloss, sich eine Jacke überzuziehen und nachzusehen.
Als sie in der Küche Licht machte, stellte sie fest, dass auch Teile des dunklen Wohnzimmers von den Scheinwerfern erleuchtet wurden. Mischa zog sich ihre Fleecejacke und die grünen Gummistiefel an und drehte den Schlüssel um. Die Haustür knarrte, und als sie hinaustrat, schaute sie in einen weißen Nebel.
Das Auto schien sich dem Haus wieder etwas genähert zu haben.
Mischa wurde vom Licht geblendet und hielt sich die
Hand vor die Augen. Die Luft war warm und feucht vom Nebel, das leise Surren des Automotors war das einzige Geräusch. Durch den Nebel erahnte sie kleine schwache Lichter vom Nachbarhof auf der anderen Seite der Wiese. Sie überlegte, ob sie zu dem Auto hingehen oder lieber auf der Treppe stehen bleiben sollte.
Bevor sie sich entscheiden konnte, erloschen die Scheinwerfer, und sie starrte ins Dunkel.
Als sie ein paar Stufen hinunterging, leuchteten sie wieder auf, blinkten zweimal kurz hintereinander.
Mischa stand auf dem Hof und schaute zu dem Auto hinüber. Was ging hier vor? Die Reifen wirbelten Kies auf, als es wendete und wieder Richtung Straße fuhr.
Sie sah zu, wie die roten Rücklichter im Dunkel verschwanden.