Ein paar Stunden später betrat Marie völlig außer Atem den Konferenzraum, der den Namen der Sängerin und Schauspielerin Eva Rydberg trug, seit alle Konferenzräume nach bekannten Malmöer Persönlichkeiten benannt worden waren. Marie nickte Tess zu, die auf ihrem gewohnten Platz saß. Makkonen klopfte vielsagend auf sein Handy, doch auch Sandra Edding, die die Besprechung leiten sollte, war spät dran.
»Wie können sie einen warten lassen, wenn die Luft brennt und halb Malmö aufeinander schießt?«, schimpfte Makkonen und scrollte in einem Nachrichtenportal.
Adam Wikman nickte.
»Und natürlich sind wir es, die das alles beenden sollen, und nicht die Politiker.«
»Eine schwere Bürde, die da auf deinen schmalen Schultern lastet«, spottete Marie und nickte Adam Wikman zu. »Geh doch raus und beschwer dich beim Oberhuhn, oder besser gesagt beim Obergockel, der steht nämlich draußen und spricht mit der neuen Chefin.«
Marie spielte wohl auf den Polizeidirektor an. Offenbar war wirklich etwas im Gange, sonst würde er Sandra Edding wohl kaum auf dem Weg in eine so wichtige Besprechung aufhalten. Tess’ Befürchtungen schienen sich zu bestätigen.
»Das ganze Frühjahr ist eine endlose Reihe von Feiertagen,
da kriegt man doch keine Leute«, schimpfte Makkonen weiter.
Marie blickte von ihrem Handy auf.
»Ja, Mackan, echt Scheiße, andererseits wird der Meeresspiegel bald um zweihundertfünfundsechzig Zentimeter ansteigen, sodass ganz Malmö unter Wasser steht. Dann brauchen wir gar keine Feiertage mehr, oder?«
Makkonen schüttelte nur den Kopf. Tess selbst hatte kein größeres Problem damit, an Feiertagen zu arbeiten, auch dachte sie selten darüber nach, welche Woche es gerade war. Viele Kollegen mit Kindern aber hatten Urlaub genommen, denn auch wenn die Lage in Malmö angespannt war, konnten ihre Vorgesetzten sie schlecht daran hindern, endlich einmal Überstunden abzufeiern.
Für Lundberg, der auf der anderen Seite des Tisches saß, war es der erste Arbeitstag seit drei Wochen. Er wirkte entsprechend erholt, obwohl er, wie er sagte, einen Großteil der Zeit »auf dem Boden krabbelnd« verbracht hatte. Tess wusste, dass er gerne viel Zeit mit seinen Enkelkindern verbrachte. Was das älteste Mitglied ihres Cold-Case-Teams sonst in seiner Freizeit machte, blieb allerdings sein Geheimnis.
Ihrer Meinung nach war er einer der fähigsten Ermittler Schwedens, denn er besaß die notwendige analytische Kompetenz und unendlich viel Geduld. Für die Arbeit mit den abgelegten Fällen war gerade Letzteres wahnsinnig wichtig, da man die umfangreichen Akten immer wieder aufs Neue lesen musste und sich das archivierte Beweismaterial zu den Fällen an verschiedenen Orten im Land befand.
Seine Achillesferse war die technische Entwicklung, es fiel ihm schwer, da mitzuhalten. Bis zu Beginn des Jahres hatte er nicht einmal ein Smartphone besessen, sondern wollte unbedingt sein altes kleines Nokia behalten. Bisher hatte dies
seine Arbeit jedoch nicht beeinträchtigt, denn auch wenn die Digitalisierung allenthalben fortschritt, lagen viele der älteren Fälle weiterhin nur in Papierform vor.
Tess freute sich schon darauf, mit ihm gemeinsam die Lena Bergholm-Akte zu durchforsten, auch brauchte sie seine Hilfe bei den vielen DNA
-Spuren, die sie einzuschicken gedachte, um sie noch einmal analysieren zu lassen. Vorausgesetzt natürlich, man ließ sie in Ruhe arbeiten und belästigte sie nicht allzu sehr mit den neuen, aktuellen Fällen.
Als Sandra Edding den Besprechungsraum betrat, wurde es sofort mucksmäuschenstill. Ernst blickte sie die Kollegen an, die sich um den ovalen Tisch versammelt hatten.
»Als ich vor zwei Monaten hierherkam, um Ihren Chef Per Jöns zu vertreten …«
Sie sah Tess an, die schnell wegschaute.
»… wusste ich, dass hier einige Herausforderungen auf mich warteten. Es hat sich gezeigt, dass die Lage noch weit schwieriger ist als gedacht. Allein am vergangenen Wochenende hatten wir zwei Schießereien. Letzte Nacht eine weitere im Ramels Väg, wo eine Familie mit kleinen Kindern nachts von Schüssen unter ihrem Fenster geweckt wurde. Nachdem ein Sohn des Bandenführers Hassan von anderen getötet worden ist, tobt da draußen ein Rachefeldzug. Und es wird mit jedem Tag schlimmer. Wir müssen das dringend in den Griff bekommen.«
Sie hob die Hand und fuhr fort:
»Und dann haben wir den Mord in Österlen draußen, eine Frau, die Karfreitag am Leuchtturm von Stenshuvud gefunden wurde. Zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir noch nicht, was das für uns bedeutet, aber es kann gut sein, dass wir die Kollegen aus Ystad bei den Ermittlungen unterstützen müssen.«
Es wurde womöglich noch stiller in der Runde. Dass zur
Bewältigung der Krise in Malmö Kollegen fehlten, war noch untertrieben. Die Banden in den Problemvierteln der Stadt, Seved, Rosengård und Kroksbäck, hatten sich neu aufgestellt. Jetzt lagen einige von ihnen plötzlich im Streit miteinander. Es spielte sich ein Machtkampf ab, dem die Polizei hilflos gegenüberstand, obwohl die meisten dieser Gegenden inzwischen kameraüberwacht waren. Die Täter waren jung, im kriminellen Milieu aufgewachsen, und in ihrem Umfeld war der Hass auf die Polizei tief verwurzelt. Erst vergangene Woche hatte die Polizei einen Treppenaufgang und ein Ladenlokal versiegelt, in denen Drogenverkäufer ihre Geschäfte abgewickelt hatten.
Die Initiative des Polizeidirektors »Operation Aussteiger«, mit der man Abtrünnige anlocken wollte, indem man ihnen ein neues Leben versprach, schien keinen besonderen Effekt zu haben. Allen im Raum war bewusst, dass angesichts dieser Situation jeden und jede von ihnen eine Veränderung im Job erwartete.
»Die Pressestelle wird mit Anfragen bombardiert, ich habe jetzt Westford drangesetzt, das zu lösen.«
Tess musste lächeln, sie selbst hatte Sandra Edding erklärt, dass Westford die schärfste Waffe der Polizei Malmö war, wenn es darum ging, die Presse zu bändigen und die Einwohner zu beruhigen. Selbst wenn es hinter ihr Granaten auf die Statue auf dem Stortorget regnete, würde Westford wie ein Fels in der Brandung stehen und in die Kameras sprechen. Tess schätzte sie sehr, nicht nur, weil sie der Mannschaft die nötige Ruhe verschaffte, wenn es gerade am heftigsten brannte, sondern auch, weil sie eine sehr gute Polizistin und Menschenkennerin war.
»Wir werden also eine kurzfristige Umstrukturierung vornehmen und ganz gezielt zuschlagen, um wenigstens ein paar der Brandherde wieder in den Griff zu bekommen«, sagte
Sandra Edding. »Adam Wikman wird Vollzeit an Makkonens Team überstellt.«
Der junge Polizeimeister streckte sich.
»Zu Befehl«, sagte er und legte die Finger an die imaginäre Mütze.
Marie drehte sich zu Tess um und verdrehte die Augen.
Makkonen wippte nervös mit dem Bein. Eine Sache gab es, die Tess und Makkonen teilten, vielleicht war es die einzige: Sie mochten keine Besprechungen, zumindest keine großen.
Tess warf einen Blick auf die Uhr, dachte an all die Dinge, die sie hätte erledigen können, während sie untätig hier herumsaß.
»Was bedeutet das für das Cold-Case-Team?«, fragte Rafaela.
Tess seufzte. Rafaela wusste nicht, wie wichtig es war, im richtigen Moment die Klappe zu halten, um keine schlafenden Hunde zu wecken. Sie sah schon vor sich, wie ihr der nächste Mitarbeiter weggenommen wurde.
»Woran genau jeder Einzelne in den kommenden Wochen arbeiten wird, werde ich noch genauer erklären«, sagte Sandra Edding ausweichend.
Nachdem Makkonen berichtet hatte, welche Schritte geplant waren, um die jüngste Schießerei aufzuklären, wurde die Besprechung beendet. Tess stand auf und eilte zur Tür, doch Sandra rief sie zurück und bat sie, ihr in ihr Büro zu folgen.
Dort angekommen, schloss sie die Tür hinter ihnen.
»Soll ich mich setzen oder stehen bleiben?«, fragte Tess.
Sandra Edding tat, als hätte sie das nicht gehört.
»Sie scheinen diesen Besprechungen nicht viel abgewinnen zu können?«
Tess zuckte die Achseln
.
»Ich habe wahrscheinlich vor allem ein ganz ungutes Gefühl.«
Die neue Leiterin der Abteilung Gewaltverbrechen verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich werde Rafaela Cruz ebenfalls für eine Weile dem Team von Ola Makkonen zuteilen.«
»Für wie lange?«
»Das kann ich zurzeit noch nicht sagen, es kommt darauf an, wie die Dinge sich entwickeln.«
Sandra Edding sah aus dem Fenster, und Tess begriff, dass das noch nicht alles gewesen war.
»Der Polizeidirektor will das Cold-Case-Team erst mal auf Eis legen.«
»Was?«
Tess schnappte nach Luft, obwohl sie schon vermutet hatte, dass das Gespräch der beiden auf dem Flur nichts Gutes zu bedeuten hatte. Aber sie hatte es einfach nicht wahrhaben wollen.
»Das ist nicht Ihr Ernst! Wir sind das erfolgreichste Cold-Case-Team ganz Schwedens, das kann man doch nicht einfach auflösen. Und was bedeutet überhaupt auf Eis legen?«
Sandra Edding hob die Hände, wie um sich zu verteidigen.
»Sie lynchen hier den Boten.«
»Ja, wen sonst? Ist er noch im Haus?«
Tess hielt inne, versuchte sich zu beruhigen, erst einmal sacken zu lassen, was Sandra Edding ihr mitgeteilt hatte.
»Haben Sie schon mal Angehörige kennengelernt, die zwanzig Jahre darauf gewartet haben, dass die Polizei den Mörder ihres Kindes findet? Die zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergeworfen werden, sobald auch nur die geringste Spur auftaucht?«
Ihre Chefin blickte auf
.
»Ich habe natürlich häufig mit Betroffenen zu tun gehabt, aber …«
»Wenn man das ein paarmal erlebt und ihnen in die Augen geschaut hat, dann weiß man genau, warum man das alles hier macht. Wir haben vier extrem schwierige Fälle aufgeklärt und dazu beigetragen, dass einer der gefährlichsten Serienvergewaltiger Dänemarks gefasst wurde. Ich habe ihn eigenhändig auf einer Landebahn des Flughafens Sturup festgenommen. Und der Dank dafür ist, dass mein Team aufgelöst wird?«
Sie kochte vor Wut.
»Ich habe versucht, dagegen zu argumentieren«, sagte Sandra Edding. »Aber am Ende geht es einfach um Geld.«
»Wann?«
»Weiß ich noch nicht. Aber die Neuorganisation soll noch vor den Sommerferien abgeschlossen werden. Ich möchte gerne, dass Sie die Voruntersuchungen in einem der neuen Fälle übernehmen, die wir jetzt auf den Tisch bekommen haben.«
»Und wenn ich mich weigere?«
Sandra Edding hob die Augenbraue.
»Tja, so etwas habe ich bisher noch nicht erlebt, da müssten wir schauen, wie wir damit umgehen. Es besteht jedenfalls das Risiko, dass Sie und weitere Kolleginnen und Kollegen nach Helsingborg abgestellt werden. Der Polizeidirektor möchte das Personal dort mit erfahrenen Kollegen aufstocken.«
Tess blickte nun ihrerseits aus dem Fenster.
Helsingborg?
Sie sah sich selbst mit der Regionalbahn nach Norden fahren, um der organisierten Kriminalität in Helsingborg das Handwerk zu legen. Und gleichzeitig sah sie sich ihre Polizeidienstmarke abgeben und nach beinahe zwanzig Jahren den Dienst quittieren
.
Gab es irgendetwas, das sie tun konnte, um ihr Team zu retten, oder war es dazu längst zu spät?
»Das Beste am Posten als Polizeichefin ist, Leute wie Sie zu treffen«, fuhr Sandra Edding fort, »die wirklich für ihren Beruf brennen. Ich hoffe …«
Tess hatte genug, sie wollte ihre Schmeicheleien nicht hören.
»Wer weiß noch davon, dass mein Team stillgelegt wird? Makkonen?«
»Nein, ich habe es natürlich Ihnen zuerst gesagt. Aber in den nächsten Tagen muss ich auch die anderen informieren.«
Sandra Edding legte die Hand auf den schwarzen Tisch.
»Es tut mir leid, dass das jetzt so schnell geht«, sagte sie. »Aber Sie sehen ja, was für ein Chaos um uns herum herrscht.«
Sie deutete zur Decke.
»Und der da oben guckt mir genau auf die Finger.«
Tess war klar, dass damit eher der Polizeidirektor gemeint war als Gott.
Als Tess das Cold-Case-Büro betrat, standen mehrere Stühle an den Wänden aufgestapelt. Auch ihr runder Besprechungstisch war verschwunden.
»Was ist denn hier los?«
Rafaela blickte von ihrem Laptop auf.
»Eine Ratte hat sich wohl auch nach hier oben verirrt. Die Firma zur Schädlingsbekämpfung war anscheinend während der Besprechung hier und hat durchgegriffen.«
Wie passend, dachte Tess. Es wird durchgegriffen. Vielleicht war das die neue Strategie des Polizeidirektors: Er schickte ihnen Ratten ins Büro, um sie einen nach dem anderen loszuwerden.
Sie ging zu ihrem Schreibtisch und starrte auf die
Papierstapel, die zu den verschiedenen Fällen gehörten. Das also war es, was sie die ganze Zeit gespürt hatte.
Sie zuckte zusammen, als Lundberg sich räusperte und die Daumen hinter seine blauen Hosenträger klemmte. Sowohl er als auch Rafaela musterten sie, als spürten sie, was im Gange war.
Da konnte sie genauso gut auch gleich sagen, was gesagt werden musste.
»Lundberg, könntest du bitte mal kurz rausgehen und einen Kaffee trinken? Ich muss Rafaela kurz unter vier Augen sprechen.«