Riesige Flammen schlugen aus dem Küchenfenster. Tess musste rein, sofort. Die gellenden Hilfeschreie des Jungen wurden immer leiser, übertönt vom Prasseln und Toben des Feuers.
Von Weitem hörte sie die Feuerwehr. Sie würde nicht rechtzeitig da sein. Es kam auf sie an, ob er starb oder nicht. Eine weitere Explosion brachte auch das zweite Fenster zum Bersten, jetzt schlugen die Flammen auch daraus hervor. Sie kniff die Augen zusammen und rannte los, warf sich mit aller Kraft gegen die Terrassentür.
Sie erwachte von ihrem eigenen Schrei. Chilli, ihr Pudelmischling, sprang erschrocken vom Bett herunter, wo er zu ihren Füßen gelegen hatte.
Tess setzte sich auf und blickte sich um. Keine Hitze, kein Feuer. Ihr T-Shirt war nassgeschwitzt. Noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie tatsächlich in das brennende Haus hineingesprungen war und wo sie sich befand. Vor ihrem inneren Auge sah sie Tims rundes Gesicht. Ganz allein, zu Tode erschrocken und zusammengekauert, saß er in der Abstellkammer neben der Küche des Hauses in Östra Grevie.
Endlich beruhigte sie sich wieder und legte sich auf den Rücken. Wie oft hatte sie diesen Traum schon geträumt. Sie war es so leid. Doch er drängte sich ihr immer wieder auf, ließ ihr keine Ruhe, als wolle er sie daran erinnern, dass sie Tim noch eine Antwort schuldig war
.
Ein wahrer Traum und gleichzeitig ein Albtraum. Denn sie war während des Brands gar nicht im Haus gewesen, sondern erst später dazugekommen. Dennoch hatte er sich ihr tief eingeprägt, und sie erinnerte sich so gut daran, als wäre sie jede Sekunde mit dabei gewesen.
Sie hatte sich damals persönlich um den Dreijährigen gekümmert, nachdem die Mutter tot im Obergeschoss aufgefunden worden war. Da es keine Verwandten gegeben hatte, die sich unmittelbar um ihn hätten kümmern können, hatte er einige Monate bei Tess gelebt. Erst nach vier Wochen hatte er wieder zu sprechen begonnen. Nur ganz wenig und nur einzelne Wörter, aber immerhin, die Kinderpsychologin hatte gemeint, sein Aufenthalt bei ihr habe Wunder gewirkt.
Sie wusste, warum der Traum ausgerechnet jetzt wiederauftauchte. Der Mord an Tims Mutter Lena war der Grund gewesen, weshalb sie Leiterin des Cold-Case-Teams geworden war. Noch immer jagte sie ihrer Revanche hinterher.
Tess und ihre damaligen Kollegen hatten Lena Bergholms Tod zunächst als Brandunfall eingeschätzt. Erst später, nachdem die Frau obduziert worden war, hatte sich herausgestellt, dass sie bereits vor dem Brand tot gewesen war. In ihrer Lunge waren keine Rußpartikel gefunden worden, wie es der Fall gewesen wäre, wenn sie zum Zeitpunkt des Brandes noch gelebt und geatmet hätte.
Mit mehreren Wochen Verspätung wurde ihnen klar, dass die Frau vermutlich ermordet worden war. Und da hatten der oder die Täter natürlich schon einen enormen Vorsprung gehabt. Tess war damals ganz neu in der Abteilung Gewaltverbrechen gewesen, und die Fehleinschätzung lastete schwer auf ihrem Gewissen. Doch den höchsten Preis hatte natürlich der kleine Tim bezahlt, der seine Mutter verloren und noch dazu vermutlich den Mord mit angesehen hatte. Das
wiederum bedeutete, dass er möglicherweise auch den Täter kannte.
Er hatte nie mit ihr darüber geredet. Doch Tess hatte es gesehen, in seinem finsteren Blick. Tief in seinem Innern barg er ein Geheimnis, und sie wünschte sich sehr, dass er irgendwann bereit sein würde, mit ihr darüber zu reden.
Noch immer hielt sie Kontakt zu Tim, der inzwischen Teenager und ein vielversprechender Nachwuchsspieler bei Malmö FF
war. Manchmal trafen sie sich in der Stadt. Von außen schien es, als würde es für den Sechzehnjährigen gut laufen, dennoch fragte sich Tess, wie es in ihm aussah. Immer wieder las sie in der alten Ermittlungsakte, um zu prüfen, ob sich neue Anhaltspunkte ergaben. Wegen des Brandes waren die technischen Voraussetzungen sehr schlecht, die Hitze und die Flammen hatten einen Großteil der Spuren zerstört. Der Schlüssel war eindeutig Tim und seine Erinnerungsbilder, denen sie allerdings kaum mehr nachgehen konnte.
Tess stand auf, in dem nassen T-Shirt begann sie zu frieren. Sie schaute aufs Handy und entdeckte eine Nachricht. Den Absender kannte sie nur zu gut. Nach der Trennung hatte sie Angelas Namen durch ein A ersetzt. Lächerlich eigentlich, als würde es das Ganze irgendwie besser machen.
Angela schrieb, ob sie sich nicht treffen könnten, sie würde gerne etwas mit ihr besprechen.
Seufzend legte Tess ihr Handy beiseite. Warum konnte Angela sie nicht in Ruhe lassen? Nachdem endlich so viel Zeit vergangen war, dass der schlimmste Schmerz sich gelegt hatte. Sie wusste ja, dass es Angela nicht darum gehen konnte, ihrer Beziehung eine zweite Chance zu geben. Ganz sicher nicht, schließlich hatte sie sie neulich erst Hand in Hand mit einer anderen Frau gesehen. Vielleicht war es ja auch das, was sie ihr erzählen wollte? Vielleicht hatte sie Tess
gestern im Taxi erkannt? Oder es war wie immer: Angela wollte den Kuchen essen und gleichzeitig behalten, indem sie sich versicherte, dass sie immer noch eine Rolle in Tess’ Leben spielte, während sie sich gleichzeitig eine neue Partnerin zulegte.
Sollte sie es doch noch mal versuchen, wenn es ihr so wichtig war. Tess hatte jetzt jedenfalls keine Lust, mit ihr zu reden, denn sie gab sich große Mühe, über die Beziehung hinwegzukommen. Irgendwann hatte sie sich, wie so viele um sie herum, ein Profil auf einer Datingseite eingerichtet. Vier Dates waren bisher herausgesprungen, und sie hatte sich jedes Mal zwingen müssen, hinzugehen. Eigentlich war das nichts für sie. Sie begriff nicht, mit welcher Leichtigkeit Marie einen Typen nach dem anderen traf. Sie selbst war wahrscheinlich einfach zu sensibel für dieses Spiel. Mette jedoch würde sie wiedersehen, das war schon vereinbart. Es war das erste Treffen gewesen und hatte sich am natürlichsten angefühlt.
Tess ging ans Fenster. Die großen Scheiben zur Terrasse waren nass vom anhaltenden Regen während der Nacht und in den frühen Morgenstunden. Durch den schmalen Spalt zwischen den Häusern erhaschte sie einen Blick auf die aufgewühlte bleifarbene See. Nicht ein einziger Farbtupfer unterbrach das Grau. Genauso fühlte sie sich auch an diesem Morgen.
Eine Weile starrte sie noch aufs Meer hinaus und dachte über ihre Arbeitssituation nach. Dabei klangen ihr die Worte ihres Vaters in den Ohren: dass man in Krisensituationen wie diesen die wirklich Starken erkannte, die trotz allem in der Lage waren, einen weiteren Pfeil abzuschießen, auch wenn sie sich gerade ganz unten befanden. Weiterzugehen, den Widerstand als Sprungbrett zu nutzen, es war der Treibstoff, der einen voranbrachte. Meistens hatte er recht, und
im Moment sah es so aus, als wäre es auch ihm endlich gelungen, sich im Leben ein Feld weiterzuschießen.
Tess trat von der Terrassentür zurück.
»Keine Chance, ich gehe nicht nach Helsingborg«, sagte sie laut zu sich selbst.