Lundberg saß in seinem Haus in Oxie auf dem Sofa und betrachtete das Foto von Max Lund, das er bei Google gefunden hatte. Seinen offenen Blick. In sich aber spürte er einen Widerstand, eine Wand. Die Fehler, die sie gemacht hatten, der unlösbare Fall Max Lund. Würde er es noch einmal schaffen, sich dem zu stellen? Was würde diesmal ans Tageslicht kommen? Und was, wenn dieser Mann wieder anrief?
Es war wirklich nicht einfach für ihn. In der einen Waagschale lag der Fall Max, in der anderen ein paar letzte Jahre vor der Pensionierung, die er entweder in Malmö oder in Helsingborg ableisten konnte. Nichts gegen die hübsche Hafenstadt und die Kollegen dort, dennoch war es natürlich etwas völlig anderes als seine Arbeit als Cold-Case-Ermittler hier, das war ihm durchaus bewusst.
Darüber hinaus stellte sich die Frage, was er selbst sich als Abschluss einer langen und recht erfolgreichen Karriere wünschte. Obwohl er nicht gerne daran dachte, näherte sie sich doch unausweichlich dem Ende. In drei Jahren wurde er fünfundsechzig. Dann würde er in der Cafeteria oder einem der Besprechungsräume des Polizeigebäudes stehen, einer der Vorgesetzten würde ihm die Hand schütteln, und anschließend ginge er mit einem Blumenstrauß im Arm nach Hause. Nur um anschließend dazusitzen und gewisse Fälle einfach nicht aus dem Kopf zu bekommen .
Und dann wäre es endgültig zu spät.
Lundberg schätzte Tess Hjalmarssons Leidenschaft und Hingabe an den Beruf. Noch nie hatte er mit jemandem zusammengearbeitet, der sich so voll und ganz für die alten Fälle engagierte und sich so bemühte, sie endlich zu lösen. Und Marie – nun, sie war, wie sie war. Dennoch hatte ihn oft überrascht, wie schnell sie denken konnte, ihn beeindruckte ihre Unerschrockenheit, die ihnen schon oft von Nutzen gewesen war. In einer Gruppe, in der unterschiedliche Persönlichkeiten miteinander auskommen mussten, entwickelte sich oft eine gute Dynamik, gerade dadurch, dass unterschiedliche Herangehensweisen und Denkansätze aufeinanderstießen. Zusammen hatten sie zahlreiche Erfolge gefeiert. Es wäre wirklich ein Skandal, wenn sie nicht weiter zusammenarbeiten dürften.
Lundberg nahm seine Brille ab und legte sie ins Etui auf dem Wohnzimmertisch. Rieb sich die Augen. Auf dem Regal an der Wand standen die Fotos seiner Enkelkinder aufgereiht. Seit sie auf der Welt waren, hatte sich etwas in ihm verändert. Er war vorsichtiger geworden, dachte mehr über die Risiken seines Berufs nach. Wenn er in irgendetwas hineingezogen würde, das sich auf sie auswirken könnte, würde er sich das nie verzeihen.
Er dachte an die Anrufe des Mannes, den sie damals den »großen Unbekannten« genannt hatten. Er hatte nicht gedroht. Dennoch waren es immer die leeren Fässer, die am meisten lärmten. Und wenn man nicht wusste, mit wem man es zu tun hatte, fühlte sich das nicht gut an. Natürlich konnte es sich um einen Wichtigtuer handeln, der ausgerechnet ihn auserwählt hatte. Was aber, wenn er wirklich der Mörder war? Dann war das Gewaltpotenzial, das er im Falle einer Bedrohung entwickeln konnte, beängstigend, das hatte man an Max Lund gesehen. Wer konnte garantieren, dass er in einer ähnlichen Situation nicht erneut die Kontrolle verlor?
Zwei Jahre hatte er im Mordfall Max Lund ermittelt, bevor er sich entschieden hatte, abzuspringen. Und bereits damals war den Kollegen klar gewesen, dass sie einen nahezu aussichtslosen Fall vor sich hatten. Ohne technische Beweise, mit vielen Beteiligten und keinerlei erkennbarem Motiv. Fünfzehn Jahre waren jetzt vergangen, ohne dass etwas Entscheidendes passiert war. Wie, um alles in der Welt, sollten sie plötzlich zu Ergebnissen kommen? Wenn gleichzeitig die Gefahr bestand, dass sie nebenher zur Arbeit an anderen, neuen Fällen herangezogen wurden? Nein, das war völlig absurd.
Durchs Fenster sah er seine Frau Marianne, die sich um die Beete kümmerte. Seit dem Jahreswechsel hatte sie reduziert, arbeitete nur noch die halbe Woche in der Bibliothek. Auch sie ging auf die Rente zu.
Er erhob sich und öffnete die Terrassentür. Die Sonne schickte sich gerade an unterzugehen, es war merklich kühler geworden, und er zog sich eine Strickjacke über das gestreifte Hemd.
Marianne war zum Kompost hinübergegangen und drehte sich lächelnd zu ihm um.
»Ich würde gerne deine Meinung hören«, sagte er.
»So«, sagte seine Frau und stellte die Harke auf dem Boden ab.
»Was ist deiner Meinung nach das Wichtigste in einem langen Berufsleben?«
Marianne stützte sich auf den Stiel des Gartenwerkzeugs.
»Ich glaube, dass man stolz darauf ist, was man erreicht und geleistet hat, dass es sich sinnvoll anfühlt. Und natürlich, dass man ein Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben findet. «
Lundberg nickte und sah zu dem großen Krähennest in der Birke hinter ihr hinauf.
»Hm. Danke.«
In den starken Widerstand, den er immer noch spürte, der vielleicht sogar noch stärker geworden war, mischte sich jetzt ein anderer Gedanke, der ihn nicht loslassen wollte: Noch ist Zeit, die Dinge wieder zurechtzurücken.