Max’ ältere Schwester, Annelie Halldén, saß bereits auf der Treppe der Stadtbibliothek in Lund und wartete auf Tess. Die Nachmittagssonne spiegelte sich in den Glastüren, durch die die Studierenden ein und aus gingen. Annelies breites Lächeln und ihr offenes Gesicht glichen dem von Max.
In den sozialen Medien hatte Tess sich über ihr Leben informiert und dabei festgestellt, dass sie sich stark für Opfer von Gewaltverbrechen engagierte. Darüber hinaus hatte Annelie eine Trauerseite für ihren Bruder geschaltet und postete oft Fotos von ihm. Vor ein paar Jahren hatte sie gemeinsam mit einer Dänin, deren Schwester auf Bornholm ermordet worden war, einen Artikel in der Tageszeitung Sydsvenskan
über die geringe Entschädigung geschrieben, die Opfern von Verbrechen zuteilwerden. Da der Mord an Max nie aufgeklärt worden war, hatten weder sie noch ihre Eltern eine einzige Krone bekommen. Doch auch die Summe, die sonst an die Angehörigen ausgezahlt wurde, sechzigtausend Kronen, sei »lächerlich gering, ein Hohn, darauf verzichtet man gern«.
Zu Fuß schlenderten sie Richtung Clemenstorget im Zentrum von Lund. Derzeit pendelte Annelie zwischen Malmö und Lund, weil sie neben ihrer Arbeit als Schwedischlehrerin an der Uni Psychologie studierte.
»Das Studium ist vielleicht eine Art Versuch, die Welt um
mich herum und das, was damals geschehen ist, besser zu verstehen«, sagte sie und lächelte schüchtern.
Sie und Max hätten sich sehr nahegestanden, erzählte sie weiter.
»Ich denke jeden Tag an ihn, manchmal ganz flüchtig, wenn ich etwas sehe, das mich an ihn erinnert, oder auch einfach, wenn irgendwo ein Klavier steht. Aber mich hinsetzen und intensiv darüber nachdenken … Nein, das will ich nicht mehr. Ich habe gelernt abzuschalten, das war, glaube ich, meine Rettung.«
Sie kamen an einem Meer von Fahrrädern und einer Baustelle auf dem Markt vorbei, auf der rege Betriebsamkeit herrschte. Annelie erzählte, wie sie den ersten Tag erlebt hatte, als man noch fieberhaft nach Max gefahndet hatte. An jenem Sonntag, dem 3. Oktober 2004, fuhr sie zu ihren Eltern und bewachte mit ihnen das Telefon, hörte sich bei Freunden um, ging hinaus, um nach ihm zu suchen. Einen Tag später tauchten zwei Polizisten bei ihnen auf. Doch da hatten sie bereits geahnt, dass es nicht gut ausgehen würde.
»Ich war mir sicher, dass ihm etwas zugestoßen sein musste«, sagte Annelie. »Und meine Mutter hatte bereits eine Kerze für ihn angezündet.«
Annelies damaliger Freund Robert war, wie alle anderen Männer in Max’ Umfeld, ebenfalls befragt und genau überprüft worden.
»Es war wirklich erniedrigend. Manchmal hatten wir das Gefühl, die Polizei würde annehmen, wir hätten meinem Bruder etwas angetan. Völlig absurd. Ich wusste ja, dass sie nach allen Seiten ermitteln mussten, dennoch … es war eine verrückte Zeit. Alle verdächtigten sich gegenseitig und redeten hinter dem Rücken schlecht übereinander.«
Der Freund hatte ein glaubwürdiges Alibi gehabt, und nach und nach war der intensive Kontakt mit der Polizei
abgeklungen, und Annelie hatte versucht, irgendwie weiterzumachen, mit dem Ganzen abzuschließen.
»Robert und ich trennten uns einvernehmlich. Ich hielt es nicht aus, weiter in Malmö zu bleiben, und zog für eine Weile nach Helsingborg und dann nach Norrköping, wo ich meinen Mann Gustav kennenlernte.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Am schlimmsten war es, als unser Sohn Simon zur Welt kam. Da brach alles noch einmal über mich herein. In Simon sah ich Max, wie er als Kind ausgesehen hatte, ich konnte nicht länger vor den Erinnerungen davonlaufen.«
Sie blieb stehen und schaute auf den Springbrunnen in der Mitte des Marktplatzes.
»Ich weiß nicht, ob ich an so etwas glaube, aber manchmal fühlt es sich an, als wäre Max durch unseren Sohn wiedergeboren. Ihre Ähnlichkeit ist schön und gleichzeitig unheimlich, verstehen Sie?«
Tess lächelte.
»Viele Jahre habe ich mir nicht zugestanden, glücklich zu sein. Es fühlte sich verkehrt an, wenn Max nicht leben durfte. Inzwischen hat sich das geändert.«
Eine Weile standen sie schweigend da, dann drehte Annelie sich abrupt zu Tess um.
»Haben Sie einen neuen Verdacht?«
Tess schüttelte den Kopf.
»Wir hoffen eher auf neue Methoden, darauf, dass eine neuerliche Untersuchung seines Pullovers uns weiterhilft.«
Annelie fragte nicht weiter. Sie holte tief Luft und ließ den Blick über den Marktplatz wandern.
»Ich würde denjenigen, der das getan hat, gerne treffen. Von ihm hören, wie es passiert ist, um mir nicht immer ausmalen zu müssen, wie der Augenblick des Todes war. Den Teufelskreis unterbrechen.
«
»Und wir hoffen, dass wir Ihnen genau dabei helfen können.«
»Wissen Sie«, sagte Annelie. »Ich bin kein bisschen wütend auf den, der meinen Bruder umgebracht hat. Merkwürdig, oder? Die Leute denken, ich müsste mich rächen wollen, müsste mir die Todesstrafe für ihn wünschen und so weiter. Aber er tut mir einfach nur leid. Ich weiß, dass es ein Mann war. Stellen Sie sich mal vor, mit so einer Schuld leben zu müssen. Das muss einen doch innerlich zerfressen. Sie als Polizistin haben doch bestimmt schon einige Menschen getroffen, die definitiv schuldig sind, denen Sie aber dennoch nichts nachweisen können?«
Tess überlegte kurz. Mehrere Gesichter tauchten vor ihrem geistigen Auge auf. Selbstverständlich gab es einige solcher Fälle, die ermittlungstechnisch als abgeschlossen bezeichnet wurden. Es frustrierte sie besonders, wenn ganz offensichtlich war, wer die Tat begangen hatte, man ihm aber dennoch nichts nachweisen konnte, das vor Gericht Bestand gehabt hätte.
»Meiner Erfahrung nach gelingt es ihnen oft, die Tat von sich abzuspalten«, sagte sie. »Sie schreiben die Geschichte einfach um. Man muss dazu allerdings schon psychopathisch veranlagt sein.«
Menschen eilten über den Clemenstorg, auf dem Rückweg von der Arbeit oder von den Vorlesungen. Sie trugen Lebensmitteltüten, schoben Fahrräder oder Kinderwagen.
Annelie nickte zu ihnen hinüber.
»Gleichzeitig habe ich auch immer irgendwie Angst davor gehabt, die Wahrheit zu erfahren. Dass es jemand gewesen sein könnte, den ich kenne. Oder jemand, der in genau diesem Augenblick über den Markt geht. Ich bin sicher, es gibt jemanden oder mehrere, die die Wahrheit kennen.
«
Annelie wandte sich wieder Tess zu.
»Vor ein paar Jahren beschloss ich, die Straße außerhalb von Ystad entlangzugehen, spätabends, die Strecke, die Max damals mit dem Fahrrad gefahren ist. Mir fiel auf, wie einsam es dort war und immer noch ist. Keine Häuser, nur Wald, und die Straßenlaternen stehen weit auseinander. Warum war er da draußen? Er war nicht leichtsinnig. Ich bin die ganze Strecke abgelaufen, bis zu dem Waldstück, wo man ihn gefunden hat, ich dachte, es würde mir helfen, mir ein Bild davon zu machen, was damals genau passiert ist.«
»Und, hat es geklappt?«
Annelie sah ihr in die Augen.
»In dem Augenblick, als ich an der Stelle stand, sah ich ihn im Graben liegen. Er kämpfte mit Händen und Füßen um sein Leben, musste am Ende aber aufgeben. Ich sah, wie der Mann dennoch weiter auf ihn einstach, ihn rasend vor Wut umdrehte, obwohl er nur dalag und keinen Widerstand mehr leistete.«
Annelies Blick war konzentriert und abwesend zugleich.
»Ich sah auch, wer auf ihm lag und immer wieder zustach.«
Tess hob die Augenbraue.
»Wen haben Sie gesehen?«
»Håkan Westholm, einen seiner Mitbewohner.«
Tess wusste nur ungefähr, mit wem Max damals in dem Haus zusammengelebt hatte, erkannte aber den Namen wieder.
»Warum ausgerechnet er?«
»Max hatte mir erzählt, dass es in der WG
Streit gegeben hatte. Er erzählte es an dem Abend, als wir uns bei meinen Eltern in Malmö zum Essen trafen. Irgendetwas stimmte nicht mit Håkan, das merkte ich Max an, aber er wollte nicht
mehr darüber sagen. Ich hatte den Eindruck, er fühlte sich von ihm bedroht.«
»Bedroht?«
»Ja, am Ende sprach er immer wieder davon, auszuziehen, es ging ihm nicht mehr gut in der WG
.«
»Aber etwas Konkretes nannte er nicht?«
»Nein, nicht wirklich. Aber er fuhr immer öfter zu meinen Eltern, kam zum Essen und übernachtete auch häufig bei ihnen. Das hatte er vorher nicht getan.«
»Haben Sie das damals der Polizei erzählt?«
»Ja, natürlich. Aber in den letzten Jahren habe ich weiter darüber nachgedacht. Damals schien die Polizei sich eher auf diesen Joe eingeschossen zu haben.«
Annelie machte eine kurze Pause.
»Ich habe ihn getroffen, und das bestärkte mich zusätzlich. Er kam zu uns, das war etwa einen Monat nach dem Mord, klopfte an und benahm sich irgendwie merkwürdig. Ich mochte seinen Blick nicht. Kühl und irgendwie leblos.«
Tess wunderte sich. Dass Håkan die Familie aufgesucht hatte, war ihr neu. Eine interessante Information, die sie bisher weder in der Zusammenfassung der Ermittlung gelesen, noch von Lundberg gehört hatte.
»Was wollte er?«
»Er schien neugierig, es kam mir vor, als wollte er herausfinden, was die Polizei uns gefragt hatte und was unserer Meinung nach passiert war und so weiter. Aber so etwas macht man doch nicht. Zur Familie eines Ermordeten fahren und sie aushorchen?«
»Was haben Ihre Eltern ihm gesagt?«
Annelie lächelte nachsichtig.
»Meine Eltern … die wollen doch immer nur das Gute in den Menschen sehen. Sie fanden, ich übertreibe, er sei doch nu
r ein Freund, der Anteilnahme zeigen wollte. Aber dann haben wir auch noch einen Brief bekommen.«
»Einen Brief?«
Wieder eine neue Information. Tess musste Lundberg unbedingt noch mal zur Rede stellen.
»Ja. Ein paar Monate nach dem Mord erhielten wir einen anonymen Brief. Ziemlich kurz und auf der Schreibmaschine geschrieben. Der Absender bedauerte, was passiert war, er könne unsere Verzweiflung nachvollziehen. Es kam mir irgendwie kryptisch vor. Er oder sie schrieb weiter, es gehe ihm oder ihr deswegen auch nicht gut. Ich hatte das Gefühl, der Brief war vom Mörder geschrieben worden, und er drückte sich genauso aus wie Håkan.«
»Wie meinen Sie das?«
»Höflich, altbacken, ein wenig kühl. Håkan kannte ich ja, ich wusste, wie er redet.«
»Wo ist der Brief jetzt? Haben Sie ihn der Polizei gegeben?«
»Davon gehe ich aus, aber ich bin mir nicht sicher. Sonst müssten ihn meine Eltern noch haben.«
Sie überquerten die vielbefahrene Straße am sandfarbenen Bahnhofsgebäude, gingen durch die Unterführung, die zu den Gleisen führte. Annelie wollte mit dem Zug zurück nach Malmö, und Tess begleitete sie auf den Bahnsteig, wo sich die Pendler bereits drängten. Annelie erklärte, sie freue sich, dass Tess und ihr Team sich den Fall noch einmal vornehmen wollten, auch wenn ihr bewusst sei, dass sie sich wahrscheinlich lieber keine allzu großen Hoffnungen machen sollte.
»So viele haben gelogen, als sie gefragt wurden, was sie an dem Abend gemacht haben. Mir ist immer noch schleierhaft, wieso die Polizei sie einfach hat davonkommen lassen«, sagte sie und stieg in den Zug
.
Tess lief die Treppe hinunter und weiter ins Parkhaus.
Sie fuhr die Kopfsteinpflasterstraßen Lunds entlang und dachte darüber nach, was Max’ Schwester ihr über Håkan Westholm und seinen Besuch erzählt hatte sowie über den anonymen Brief, von dem sie anscheinend annahm, dass ihn der Mörder geschrieben hatte. Warum stand darüber nichts in den Ermittlungsakten?